Sogar im Elend entfalten sich die Kräfte des "Marktes" und schaffen nicht nur eine ausdifferenzierte Elendshierarchie, sondern die Menschenhändler, die mit Flüchtlingen ihr Geld verdienen, betreiben selbst "professionelles" Marketing - alles entlang der Ordnungsachse der Zahlungsfähigkeit.
Hierzu der lesenswerte Artikel Auch Menschenhändler betreiben Marketing von Ulrike Scheffer.
Die Menschenhändler »ziehen dabei alle medialen Register. So gibt es Facebook Seiten, auf denen Schleuser Flüchtlingen aus Afrika oder dem Nahen Osten ganz offen ihre Dienste anbieten. Manche posten auch Fotos, die belegen sollen, dass sie ihre „Kunden“ sicher nach Europa transportieren. Die Seiten werden offenbar rege genutzt. Einige erhalten bis zu 50.000 Likes pro Tag. Das berichtet die Internationale Organisation für Migration (IOM) in ihrem neuesten Bericht „Migrationstrends über das Mittelmeer“ (Migration Trends Across the Mediterranean: Connecting the Dots). Darin werden die aktuellen Fluchtrouten und das Geschäft der Schleuser analysiert.«
Libyen ist Hauptstützpunkt der Schleuser-Mafia - schlichtweg deshalb, weil sie hier ungehindert operieren können, denn die öffentliche Ordnung ist praktisch zusammengebrochen. »Rund 80 Prozent aller Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien gelangen, starten von der libyschen Küste – viele in untauglichen und überfüllten Booten.«
Verbindungsmänner in Marokko oder Tunesien locken dort gestrandete Flüchtlinge aus Afrika nach Libyen. Und so bitter das jetzt hier klingen mag - es "rechnet" sich auch für die Flüchtlinge, denn: »... ein Platz auf einem Boot von Marokko nach Spanien (kostet) 1300 Euro, die Überfahrt von Libyen nach Italien durchschnittlich nur 500 Euro.«
Alles eine Frage des Preises - so auch hier inmitten der Elendsökonomie. Nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit, überhaupt Zugang zur Flucht zu erkaufen, sondern die konsequente Ökonomisierung dieses "Geschäftsfeldes" geht sogar soweit, dass man sich "Rundumservicepakete" kaufen kann. Wenn man denn über das Geld verfügt:
»Schleuser haben ... auch Zugang zu Flüchtlingen, die von den libyschen Behörden oder einer der Bürgerkriegsmilizen aufgegriffen wurden. Wer genug Geld hat, kann sich mit ihrer Hilfe aus der Haft freikaufen und doch noch nach Europa weiterreisen.«
Und der folgende Absatz aus dem Artikel verdeutlicht in aller zynischen Reinheit, was mit Elendshierarchie gemeint ist:
»Vor allem Syrern, die meist finanziell besser gestellt sind als Flüchtlinge aus Afrika, bieten die Schleuser Rundumservicepakete für eine Flucht bis an den gewünschten Zielort an. Mittelsleute in Italien organisieren dann beispielsweise die Weiterreise nach Deutschland. Gegen Aufpreis gibt es außerdem Schwimmwesten und Plätze an Deck. Afrikaner reisen dagegen eher unter Deck, wo sie bei einer Havarie nur geringe Überlebenschancen haben.«
Um welche Umsatzdimensionen es hier geht, verdeutlicht die folgende Überschlagsrechnung: Nach den vorliegenden Berichten zahlen Mittelschicht-Syrer bis zu 2000 Euro für einen Platz in einem Boot nach Europa. Für eine Überfahrt mit 450 Passagieren kassierten die Schleuser bis zu eine Million Euro.
Scheffer zitiert aus dem Bericht der IOM, dass sich eine Klassen-Gesellschaft unter den Flüchtlingen herausgebildet hat:
»Es gibt unter Flüchtlingen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Während Syrer teilweise per Flugzeug zunächst nach Ägypten fliehen und von dort aus über Land die relativ kurze Weiterreise nach Libyen antreten, sind Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten oft monatelang unterwegs und reisen unter widrigsten Bedingungen. Weil sie nur selten das Geld für die gesamte Reise aufbringen können, müssen sie Zwischenstopps einlegen und versuchen, Geld für die nächste Etappe zu verdienen. Hauptdrehscheiben sind dabei Agadez in Niger und Gao in Mali. Hier sitzen auch Schleuser, die den Weitertransport organisieren.«
Dass Frauen besonders leiden müssen, wird auch explizit ausgeführt. Von sexuellen Dienstleistungen für die, die ihnen helfen sollen bei der Flucht bis hin zur organisierten Zwangsprostitution ist alles dabei.
Mittlerweile hat sich sogar eine eigene Menschenhändlerindustrie unterhalb der Flüchtlingsindustrie entwickelt, die für Nachschub in den europäischen Bordellen sorgt: In dem IOM-Bericht wird vermerkt, »dass immer mehr Frauen, vor allem aus Nigeria und neuerdings auch aus Kamerun, schon in ihren Heimatländern verschleppt werden, um sie in Europa in die Prostitution zu zwingen. Die IOM spricht von einem Anstieg von 300 Prozent des Frauenhandels zwischen Afrika und Europa im vergangenen Jahr. Den Frauen werde entweder eine Arbeit als Haushaltshilfe versprochen, oder die Entführer drohten ihnen, dass ihrer Familie ein Unglück widerfahre, wenn sie sich widersetzten.«
Übrigens - das Elend ist immer auch noch miteinander verwoben: Derzeit vergeht ja bei uns in der Festung Europa kein Tag, an dem nicht über Griechenland berichtet und gestritten wird. Und dem Land droht bei allen massiven sozialen Verwerfungen, die jetzt schon in Griechenland nach Jahren der Krise beobachtet werden muss, demnächst weitere "Einsparungen", was bedeutet, dass es den normalen Menschen noch schlechter gehen wird. Gleichzeitig aber entwickelt sich Griechenland zu einer Art "Konkurrent" zu Italien, was die Verschiebung der Zielrouten der Flüchtlinge angeht. Darauf verweist IOM in einer neuen Pressemitteilung:
»The Greek islands near Turkey's coast now rival Italy as the top destination for irregular migrants seeking entry into the EU by sea this year, signaling the shift from the central Mediterranean route to the Eastern route. Some 61,000 migrants have arrived by sea to Greece this year, nearly doubling 2014’s full-year total of 34,442. So far, around 65,000 migrants have arrived via the sea route to Italy, according to IOM estimates, which has proven to be a much deadlier passage with at least 1,820 fatalities this year ...«.
Die Webseite der International Organization for Migration (IOM): www.iom.int. Ein Besuch dieser Seite lohnt, man findet eine Fülle an Berichten über die Situation von Flüchtlingen auf der ganzen Welt.