Sonntag, 24. Mai 2015

Verteidigen, erzwingen, aufwerten. Grundlinien und Dilemmata der gegenwärtigen und zukünftigen Streikwelt


Nun rollen die Züge wieder und die große Koalition hat mit ihrer erdrückenden Mehrheit noch pünktlich vor dem Pfingstwochenende das so genannte „Tarifeinheitsgesetz"  über die parlamentarische Hürde im Bundestag gehievt. Nach dem verlängerten Wochenende wird dann erst einmal nicht mehr über Lokführer diskutiert und gestritten, sehr wohl aber über andere, sich derzeit im Arbeitskampf befindliche Berufsgruppen, allen voran die Erzieherinnen der kommunalen Kindertageseinrichtungen, die sich weiterhin im unbefristeten Ausstand befinden und deren Gewerkschaften ver.di und GEW auf irgendein substantielles Angebot von der Arbeitgeberseite warten, während die Situation für die betroffenen Eltern immer kritischer wird. Das ist genau der richtige Zeitpunkt, um von einzelnen konkreten Auseinandersetzungen ein Stück weit zurückzutreten und die grundsätzliche Frage aufzuwerfen, ob und wenn ja welche Muster in der neuen Streikwelt zu erkennen sind. Es geht also um die großen Schneisen. Hier wird die These aufgestellt, dass sich die durchaus vielgestaltige Welt der Arbeitskämpfe, die wir derzeit und wahrscheinlich in Zukunft beobachten können, in einem mehrdimensionalen Raum entfalten lässt, in dem sich folgende Ausprägungen erkennen lassen: Verteidigung („von oben“), Erzwingung, Aufwertung, Instrumentalisierung, aber auch möglicherweise "tarifeinheitsgesetzinduzierte Streiks" sowie – nur teilweise ironisch gemeint – „Übungsstreiks“.

Man muss am Anfang der nun folgenden Überlegungen einen ganz weiten Schritt zurück machen und in Erinnerung rufen, dass der ("richtige", also nicht Warn-)Streik eigentlich und wenn überhaupt nur als „ultima ratio“ in der Endphase eines über längere Phasen laufenden Tarifkonflikts zum Einsatz kommen sollte. Und wenn es so etwas wie einen „Normalfall“ hinsichtlich der Tarifkonflikte gibt, dann handelt es sich hierbei sicherlich um „klassische“ Auseinandersetzungen um mehr Geld bzw. andere Arbeitsbedingungen, beispielsweise eine Arbeitszeitverkürzung. Im Kern geht es dabei um eine Verbesserung aus Sicht der Arbeitnehmer nach der Logik „von unten nach oben“. Hier finden wir quasi in Reinkultur die „Fahrstuhlfunktion“ der klassischen Tarifpolitik. Dieser Kernbereich dessen, was wir als Tarifpolitik bezeichnen, hatte seine Bedeutung und wird auch weiterhin in vielen Branchen seine Bedeutung haben. Aber die Abweichungen davon spielen eine gewichtige Rolle beim Verständnis dessen, was sich derzeit im Bereich der Arbeitskämpfe verändert.

Bevor auf die bereits angesprochenen Ausprägungen der neuen Streikwelt näher eingegangen wird, sollen drei zentrale Thesen vorangestellt werden.

1.) Derzeit sind wir – und das ist ein für viele irritierendes Moment – konfrontiert mit einer Gleichzeitigkeit von mehr und weniger Streiks. Wenn auch der subjektive Eindruck vieler Menschen derzeit sicherlich gut beschrieben wird mit der Aussage, dass Deutschland sich zu einem „Streikland“ entwickelt, so zeigen doch die Daten ein mindestens differenziertes, wenn nicht sogar in der Gesamtschau diese Diagnose nicht bestätigendes Bild. Diese irritierende Gleichzeitigkeit resultiert zum einen aus der gewählten Messgröße, denn es macht schon einen großen Unterschied, ob man bei einer Streikbilanzierung ausgeht von der Zahl der Streiks, der Zahl der streikenden Arbeitnehmer oder den Ausfalltagen durch die Arbeitskämpfe. Von nicht zu unterschätzender Relevanz ist hierbei auch die Frage, auf welche Grundgesamtheit die Zahl der Arbeitskämpfe bezogen wird. Verdeutlichen kann man sich das dahinter stehende Problem am Beispiel dessen, was als „Postreform“ in den neunziger Jahren abgelaufen ist. Bis dahin gab es mit der Deutschen Bundespost ein staatsmonopolistisches Unternehmen und folglich auch eine sehr überschaubare Zahl an tarifvertraglichen Regelungen. Seitdem haben wir nicht nur die drei großen Post-Nachfolgeunternehmen, also die Deutsche Post DHL, die Telekom und die Postbank, sondern die Zahl der Tarifverträge hat sich vervielfacht und damit auch die Zahl der daraus resultierenden möglichen Tarifauseinandersetzung. Gerade in den Bereichen, in denen wir in den vergangenen Jahren eine Fragmentierung und Zersplitterung der Tariflandschaft haben sehen müssen, hat natürlich auch die Zahl der Tarifkonflikte enorm zugenommen.

2.) Betrachtet man die Bereiche, in denen (nicht) mehr gestreikt wird, dann erkennt man eine gewaltige Verschiebung: Vor unseren Augen entwickeln sich weite Bereiche der Industrie sukzessive zu streikfreien Zonen, während gleichzeitig in vielen Dienstleistungsbereichen teilweise im wahrsten Sinne des Wortes „Häuserkämpfe“ stattfinden. Mittlerweile werden mehr als neun von zehn Arbeitskämpfen im Dienstleistungsbereich ausgetragen. Hingegen muss man zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise die IG-Metall, die in der Vergangenheit immer wieder für sehr große Arbeitskampfaktionen gesorgt hat, mittlerweile kaum noch durch größere Streiks auffällt – dies auch und gerade vor dem Hintergrund, dass sich die Industrieunternehmen in einem überaus brutalen internationalen Wettbewerb befinden und zugleich die Industrieproduktion durch die Verlagerung der Lagerhaltung auf die Straße extrem anfällig ist für eine Unterbrechung der Produktion und der Lieferungen, so dass die betroffenen Unternehmen alles versuchen, um Streikaktionen zu vermeiden bzw. von vornherein zu verhindern. Und die Industrie-Gewerkschaften wissen aufgrund ihrer Ko-Managementfunktion in vielen dieser Unternehmen sehr gut Bescheid über die wirtschaftliche Situation der Firmen.

3.) Die wohl wichtigste Veränderung findet innerhalb der Gesellschaft hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewertung von Streiks statt: Funktionalisierung und Neutralisierung der Arbeitskämpfe in der Gesellschaft sind hier die Stichworte, mit allen Folgeproblemen, die wir auch in anderen Bereichen beobachten können, man denke hier nur an die Freie Wohlfahrtspflege oder die Kirchen bis hin zu den Parteien. Wobei Gesellschaft hier nicht etwas Zeitloses meint, sondern die Streikaktionen, die in früheren Zeiten tatsächlich mehr oder weniger stark eingebettete waren in gesellschaftliche Subkulturen mit einem hohen Grad an kollektiven Bewusstsein, treffen heute auf eine atomisierte „Beliebigkeitsgesellschaft", in der bei vielen Menschen keine entsprechende Fundierung mehr vorausgesetzt werden kann, was Arbeitskämpfe betrifft, und dazu führt, dass die Reaktion entsprechend heftig ausfallen können, vor allem wenn die Medien das auch noch vorantreiben.

In diesem – zugegeben überaus komplexen, hier allerdings nur schlagwortartig andeutbaren gesellschaftlichen - Kontext sind die folgenden Ausprägungen der neuen Streikwelt zu sehen:

Eine gewichtige Rolle bei den aktuellen Arbeitskämpfen spielt die Verteidigung „von oben“. Hier geht es darum, Besitzstände zu verteidigen und zu verhindern, dass teilweise erkämpfte Verteilungsansprüche zuungunsten der Arbeitnehmer umverteilt werden.

Zwei aktuelle Beispiele dafür wären zum einen der Arbeitskampf der Piloten-Gewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa sowie die derzeit höchst brisante Auseinandersetzung der Gewerkschaft Verdi mit der Deutschen Post DHL (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn der Appel den Mehdorn macht, ist Gefahr im Verzug. Oder: Wenn Streikaktionen der Gewerkschaften bei der Deutschen Post mehrere und leider auch gute Gründe haben vom 2. April 2015 sowie meinen Meinungsbeitrag bei SWR 2: Ein echtes Armutszeugnis. Die Post AG, ihr Streben nach Gewinn und der Umgang mit den streikenden Mitarbeitern). Auf der einen Seite ist es absolut nachvollziehbar, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer dagegen wehren, dass ihre Arbeitsbedingungen nicht nur nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil verschlechtert werden sollen. Auf der anderen Seite – gleichsam die betriebswirtschaftliche Logik – ist es aus der Sicht der betroffenen Unternehmen durchaus „rational“, angesichts des teilweise brutalen Wettbewerbsdrucks „von unten“ zu versuchen, die eigenen Arbeitskosten zu reduzieren. Immer wieder mit Hinweis darauf, dass „bei den anderen“ noch deutlich schlechter bezahlt wird. Aus einer grundsätzlichen Perspektive haben diese Verteidigungskämpfe „von oben“ den „Nachteil“, dass sie letztendlich immer aus einer defensiven Position geführt werden müssen.

Hinzu kommt ein weiterer, nicht zu unterschätzender Punkt: Der Verteidigung von oben stehen zu geringe bis gar keine Aktivitäten von unten gegenüber. Dies auch deshalb, weil der Organisationsgrad der Gewerkschaften gerade in den unteren Etagen einer Branche oftmals unterdurchschnittlich schlecht ist, zum anderen aber auch, weil viele Arbeitgeber gar nicht in einem Arbeitgeberverband und damit auch nicht tarifgebunden sind. Konkret formuliert: Selbst Kritiker des immer wieder aufgelegten Piloten-Streiks bei der Lufthansa hätten möglicherweise Verständnis für Streikaktionen der Piloten am unteren Ende der Branche, also beispielsweise bei Ryanair, deren Piloten deutlich schlechter bezahlt (unbehandelt) werden als die bei der Lufthansa. Das gleiche gilt für den Bereich der Deutschen Post, auch hier könnte man sich vorstellen, dass viele applaudieren würden, wenn die, die am schlechtesten behandelt werden, also in den Paketdiensten beispielsweise bei Hermes und GLS, für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, die teilweise nur als Hund miserabel zu beschreiben sind, kämpfen würden.

Eine weitere Ausprägung in der heutigen Streikwelt kann man unter die Überschrift Erzwingung bzw. Erschließung stellen. Hier geht es darum, dass die Gewerkschaften versuchen, überhaupt einen Fuß in ein bestimmtes Unternehmen zu bekommen. Paradebeispiel für diesen Bereich sind die nunmehr seit Jahren laufenden und auch derzeit wieder aktiven Bestrebungen der Gewerkschaft Verdi bei Amazon, das Unternehmen dazu zu bewegen, nach dem Tarifvertrag für den Versandhandel zu bezahlen und nicht in Anlehnung an die Vergütungen in der Logistikbranche bei Verweigerung jeglicher tarifvertraglicher Regelung der Arbeitsbedingungen. Ein weiteres Beispiel wäre der Versuch von Verdi, beim Textildiscounter Kik Einzelhandelstarifverträge für Lagerarbeiter, die derzeit teilweise auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, durchzusetzen.

Eine ganz besonders große Baustelle lässt sich mit dem Begriff Aufwertung beschreiben. Derzeit stehen hier die Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen im Mittelpunkt, da sie sich in einem unbefristeten Ausstand befinden (aber auch die Sozialarbeiter in vielen sozialen Diensten, die ebenfalls streiken und die in der aktuellen Berichterstattung immer untergehen; vgl. dazu den Beitrag Im Schatten des Kita-Streiks und der Erzieherinnen: Die streikenden Sozialarbeiter). Hier geht es im Kern darum, das bestimmte Berufe bzw. korrekter bestimmte Tätigkeiten deutlich besser bewertet werden als in der Vergangenheit bzw. in der Gegenwart. Es ist nicht überraschend, dass wir diesen Teil der Arbeitskampf Entwicklung vor allem im Bereich der Sozial- und Gesundheitsberufe finden. Die Vergütung in diesen Berufen läuft seit geraumer Zeit der Entwicklung in weiten Teilen der „normalen“ Wirtschaft hinterher. Zusätzlich „erschwerend“ kommt hinzu, dass es sich überwiegend um frauentypische Berufe handelt.

Der in dieser Form erstmalige unbefristete Ausstand der Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen markierte insofern ein „historisches Moment“, weil er – sollte der Streik in welcher Form auch immer erfolgreich sein – enorme Ausstrahlungseffekte haben kann. Vor allem in einem Bereich, in dem die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahren tatsächlich eine enorme Verschlechterung erfahren haben und wo sich bei den betroffenen Arbeitnehmern erhebliche Aggressionen aufgestaut haben – gemeint ist hier der Bereich der Pflegekräfte. Sollten die Erzieherinnen mit ihren Arbeitskampfmaßnahmen einen nennenswerten Erfolg erzielen können, dann wird das durchaus befruchten und wirken auf die Pflegekräfte, die dann möglicherweise in einer zweiten Welle folgen werden. Zugleich aber muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Gewerkschaften hier mit erheblichen Problemen konfrontiert sind, nicht nur im „klassischen“ Sinne eines teilweise desaströs niedrigen Organisationsgrades sowie nicht unerheblicher Probleme, die sich aufgrund von Sonderrechten bestimmter Arbeitgeber-Gruppen wie den Kirchen mit ihrem Streikverbot ergeben, sondern auch hinsichtlich des Gegenstands der Arbeit.

Anders ausgedrückt: Während Industriearbeiter durchaus mit einer klaren Vorstellung von dem, der durch einen Streik geschädigt werden würde, in den Arbeitskampf ziehen können, ist das bei vielen Dienstleistungen im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens ganz anders. Auch hier ist natürlich die Arbeitgeber-Seite der Hauptadressat der Arbeitskampfmaßnahmen, aber erst einmal und unmittelbar getroffen von den Streikaktionen wird nicht der Arbeitgeber, also im Fall des Kita-Streiks die Kommunen, sondern die Eltern mit ihren Kindern. Das wäre noch weitaus dramatischer, wenn man sich vorstellen würde, ein erheblicher Teil der Pflegekräfte würde in einen unbefristeten Arbeitskampf gehen. Hier einen Streik zu organisieren ist weitaus komplexer und schwieriger und letztendlich auch unwahrscheinlicher als in den „klassischen“ Wirtschaftsbereichen.

Man sollte an dieser Stelle allerdings nicht unerwähnt lassen, dass es die durchaus plausible These gibt, dass die Streikaktionen beispielsweise der Erzieherinnen in den Kitas bei einigen Funktionären in den Gewerkschaften durchaus auch „benutzt“ werden im Sinne einer Instrumentalisierung für organisationspolitische Ziele (vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag Erzieherinnen als "Müllmänner 2.0"? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig vom 7. Mai 2015). Die Plausibilität ergibt sich daraus, dass gerade die sehr umfassende, weil breite Betroffenheit in unserer Dienstleistungsgesellschaft dazu führt, das diesen Auseinandersetzungen eine große Aufmerksamkeit gegenüber gebracht wird und angesichts der Angewiesenheit auf Dienstleistungen wie beispielsweise der Kinderbetreuung in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft ein enormes Druckpotenzial entwickelt werden kann.

Den Aspekt der "tarifeinheitsgesetzinduzierten" Streiks habe ich bereits in dem Beitrag Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück - für die eine Seite. Und über die Geburt eines "Bürokratiemonsters" vom 22. Mai 2015 entfaltet. Auch ein Teil der Härte sowie der Frequenz bei den nunmehr neun Streikwellen der Lokführergewerkschaft  kann und muss ich hier so summiert werden.

Und an dieser Stelle – aber nicht wirklich – abschließend sei der Hinweis auf den Aspekt "Übungsstreik" erlaubt. Diese Begrifflichkeit ist nur teilweise ironisch gemeint, dahinter steht ein durchaus relevantes Problem:  Man nehme beispielsweise eine Gewerkschaft wie die IG BCE. Diese Gewerkschaft hat das letzte Mal vor – tatsächlich – 44 Jahren gestreikt. Das bedeutet in praxi: Keiner der heute in dieser Gewerkschaft arbeitenden hauptamtlichen Funktionäre hat irgendwelche Erfahrungswerte mit der Organisation, Durchführung und vor allem der Abwicklung von größeren Streikaktionen sammeln können. Allein aus Übungszwecken wäre es dringlich angesagt, dass in diesem Bereich wieder einmal Streiks organisiert werden. Dahinter steht das grundsätzliche Problem, das Arbeitskämpfe nicht einfach vom Himmel fallen, sondern eine unglaubliche Organisationen, Planung und Unterstützung bedürfen, für deren Realisierung man über entsprechende Erfahrungswerte verfügen muss.

Fazit: Flapsig formuliert könnte man sagen, dass der Streik auch nicht mehr das ist, was er mal war. Er war mal ein wichtiger, allerdings überaus dosiert eingesetzter Baustein in den „normalen“ Tarifauseinandersetzung. Diese Zeiten sind – immer mehr – vorbei.  Damit wir die Lage keineswegs einfacher.