Schaut denn da keiner vorher hin? Werden Gelder aus den Sozialkassen einfach so ausgezahlt? Fragen über Fragen. Dabei ist das Thema "Beatmungs-WGs" als eigene "Versorgungsform" schon vor einiger Zeit aufgegriffen und in den einigen Medien auch thematisiert worden. Erinnert sei hier an den Beitrag Beatmungs-Stationen sind lukrativ und gefährlich von Anette Dowideit.
Auslöser für ihre damaligen Recherchen waren Ermittlungen gegen Pflegekräfte wegen fahrlässiger Tötung in Köln. Im Zentrum der Ermittlungen stehen mehrere Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes, der Kölner Beatmungseinrichtung der D. Hamacher GmbH und Co. KG. In der sogenannten Beatmungs-WG, in der die Pfleger gearbeitet hatten, war eine 44-jährige Frau gestorben. Der Anfangsverdacht der Staatsanwaltschaft lautete auf fahrlässige Tötung.
Dowideit hat sich daran anschließend mit den "Beatmungs-Stationen" beschäftigt, eines der größten Wachstumssegmente der Pflege-Branche. »Alle paar Wochen öffnet bundesweit eine neue Station, manche davon angeschlossen an Krankenhäuser, andere als "Wohngemeinschaften" (WG), die von ambulanten Pflegediensten organisiert werden.« Dowideit hat Schätzungen des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) zitiert, nach denen bundesweit rund 600 ambulante Pflegedienste Intensivpflege betreiben, zu der häufig die Langzeitbeatmung gehört. Das wären fast doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren.
»Das Geschäft ist lukrativ: Für die Versorgung eines Beatmungspatienten erhalten die Anbieter von den Kranken- und Pflegekassen mindestens 7.000 Euro pro Monat, in vielen Fällen sind es sogar weit mehr als 10.000 Euro. Und die Zahl der Langzeitbeatmeten wächst.
Eine europaweite Befragung unter Beatmungsstationen vor einigen Jahren kam zu dem Ergebnis, dass deutschlandweit etwas über eine halbe Million Menschen außerhalb von Krankenhäusern beatmet wird. In der Branche gilt als allgemeingültiger Schätzwert, dass jedes Jahr rund 2.500 neue Langzeitbeatmete dazukommen.«
Die Anbieterlandschaft ist äußerst heterogen: Auf dem Markt mischen kleine ambulante Dienste ebenso mit wie der international agierende Dax-Konzern Linde. Doch die Qualitätsunterschiede in der Branche sind riesig, so Dowideit.
Bereits Ende 2010 begann in der nordrhein-westfälischen Stadt Herne eine Auseinandersetzung zwischen der Stadtverwaltung und dem Betreiber einer "Beatmungs-WG". Die Auseinandersetzung mit der Bauaufsicht hat dazu geführt, dass eineinhalb Jahre nach der Eröffnung die erste Wohngemeinschaft für dauerhaft künstlich beatmete Patienten im Februar 2012 aufgelöst wurde. Ende 2011 war ihr bereits die Aufnahme neuer Patienten untersagt worden seitens der Kommune (vgl. dazu den Artikel Wohngemeinschaft am Ende).
In solchen Einrichtungen, in denen manchmal drei, manchmal sieben Patienten leben, sind die Beatmeten offiziell Mieter einer Wohnung. Den ambulanten Pflegedienst, der sie rund um die Uhr betreut, beauftragen sie unabhängig von ihrem Mietverhältnis.
Und genau in dieser Formatierung der "WGs" liegt auch das Problem (bzw. für die andere Seite der Vorteil):
»Dieses Konstrukt hat für die Betreiber den Vorteil, dass sie weniger kontrolliert werden als ein gewöhnliches Pflegeheim, in das regelmäßig die staatliche Heimaufsicht kommt. Auch gesetzliche Vorgaben wie die vorgeschriebene Fachkraftquote von 50 Prozent – jeder zweite Pfleger in einem Heim muss demnach examinierter Alten- oder Krankenpfleger sein – umgehen solche WGs.«
Im Kölner Fall resultierte daraus die Situation, dass die Heimaufsicht angab, sie hätte gar keine rechtliche Handhabe, zu kontrollieren. Nur die die Kranken- und Pflegekassen, von denen die Einrichtungen finanziert werden, dürfen dort nach dem Rechten schauen. Hier nun taucht ein "Interessenkonflikt" auf, der unschwer zu vermuten was mit Geld zu tun hat:
»Die Kranken- und Pflegekassen schließen trotzdem mit immer weiteren Beatmungs-WGs Verträge ab, was unter anderem daran liegen dürfte, dass sie mit Tagessätzen um die 240 Euro oft weit günstiger sind als zum Beispiel an Krankenhäuser angeschlossene Beatmungs-Stationen.«
Das Thema ist also nicht unbekannt. Im August 2012 wurde es auch von dem Politikmagazin "Report Mainz" aufgegriffen in dem Beitrag Verkaufte Patiente. Der skandalöse Handel mit schwer kranken Pflegepatienten.
Der Bericht skandalisierte den Vorwurf, dass Intensivpflegepatienten im häuslichen Bereich in einer Preisspanne von 40.000 bis 60.000 Euro zwischen Pflegediensten gehandelt werden. In einem verdeckt gedrehten Verkaufsgespräch hat ein Pflegedienst dem Magazin fünf Patienten zum Preis von 250.000 Euro zum Kauf angeboten. Die dazu gehörenden Pflegeteams können auch übernommen werden. Der Inhaber des Dienstes betonte, dass derzeit keiner der zu verkaufenden Patienten „im Sterben“ liege (als "Käufer" der Patienten tauchte in dem Beitrag der Geschäftsführer der Bonitas Holding GmbH & Co. KG auf). In dem Beitrag findet man die folgende Darstellung des "Geschäftsmodells", auf dass die Journalisten bei ihren Recherchen gestoßen sind:
»Krankenhäuser geben Beatmungspatienten, die in Vollzeit gepflegt werden, an kleine Pflegedienste ab. Die aber haben oftmals kein Interesse an einer langfristigen Pflege. Sie verkaufen ihre lukrativen Patienten an größere Unternehmen weiter.
Dafür kassieren sie hohe fünfstellige Summen pro Patient. Weil die Beatmungspatienten viel Geld abwerfen, holen die großen Pflegedienste den Kaufpreis schnell wieder rein. Der kleine Pflegedienst findet wieder Patientennachschub im Krankenhaus.«
Im Internet gibt es für weitere Informationen zu den Angeboten und den Anbietern im Bereich der Beatmungspflege eine eigenes Portal: www.beatmungspflegeportal.de.
Fazit: Die bisherige Auseinandersetzung im Bereich der Pflegeeinrichtungen bzw. -dienste war durch die Dichotomie zwischen ambulanter und stationärere Pflege gekennzeichnet. Seit einigen Jahren aber bilden sich zahlreiche neue Formate heraus, an den Rändern genau so wie zwischen ambulant und stationär. Vereinfacht gesagt besteht das Problem darin, dass der "klassische" stationäre Bereich zum einen zahlreichen Auflagen unterworfen worden ist und zum anderen die kritische Berichterstattung über Pflegemissstände überwiegend bis ausschließlich auf den Heimbereich fokussiert, woraus man gerade nicht ableiten kann und darf, dass im ambulanten Bereich alles in Ordnung sei. Man schaut dort nur gar nicht oder nur sehr selten hin. Nunmehr differenzieren sich neue Betreuungsformate in der Zwischenwelt von ambulant und stationär heraus und man kann - eben auch betriebswirtschaftlich - viele der WGs als eine Art "Heim light" bezeichnen. Besonderer "Vorteil": Man ist dort mit weitaus weniger Auflagen, Kontrollen und damit letztendlich auch deutlich weniger Kosten konfrontiert als im klassischen Heim-Setting. Das setzt natürlich starke Anreize.
Der zweite Fall, über den hier berichtet werden muss, betrifft eine Art "Wiederholungstäter" unter den Pflegeheimen mit Pflegemissständen. Es geht also wieder einmal um ein Pflegeheim in Mainz-Finthen. Bereits in der Vergangenheit war das Mainzer Alten- und wegen Pflegemissständen in die Schlagzeilen geraten. 2007 hatten die Pflegekassen der Einrichtung die Zulassung entzogen. Ein Jahr später wurde Casa Reha von dem Betreiber Pro Vita übernommen. Wobei man wissen muss, dass es sich hierbei nur um Etikettenschwindelt handelt, denn Pro Vita ist ein Teil der Casa Reha Unternehmensgruppe. Auf deren Website findet man die folgende Erläuterung: »Mit den Häusern von Casa Reha, Pro Vita und Sozialkonzept ist die Unternehmensgruppe einer der führenden privaten Träger im Bereich der stationären Seniorenpflege und -betreuung in Deutschland. Und bietet an aktuell 67 Standorten Betreuungsplätze für Senioren sowie psychisch kranke und suchtkranke Menschen. Weitere Häuser sind geplant bzw. befinden sich im Bau« (vgl. hierzu www.casa-reha.de/unternehmen).
Im Jahr 2013 wurde der - bis jetzt - letzte Skandal bekannt: Mehrere Bewohner sollen ausgetrocknet gewesen sein, so die Überschrift einer Meldung des Politikmagazins "Report Mainz" vom 31.07.2013. Bei unangemeldeten Kontrollen seien erhebliche Mängel festgestellt worden. Mehrere Bewohner hätten demnach zu wenig Flüssigkeit bekommen. Bei 20 Bewohnern hatte der MDK teilweise gravierende Pflegemängel festgestellt. Am 15.11.2014 wurde nun die neueste Folge in dieser Geschichte veröffentlicht: Schwere Missstände in Mainzer Altenheim, berichtet der SWR. »Das Alten- und Pflegeheim Casa Reha im Stadtteil Mainz-Finthen war über viele Monate hinweg kontrolliert worden. Nach Angaben des Präsidenten des Landesamtes für Soziales vom Freitag, Werner Kegenhoff, habe seine Behörde das Heim in kurzen Abständen hinweg geprüft. Dabei seien schwere Missstände bei der medizinischen Pflege und beim Essen aufgetaucht.« Derzeit leben in der Einrichtung im Stadtteil Finthen rund 142 Bewohner. Und nun? Was sind die Folgen?
Ein Jahr lang darf ein Mainzer Altenheim keine Senioren mehr aufnehmen. Außerdem: Das Landesamt hat Casa Reha aufgefordert, in allen Bereichen neues Personal einzustellen. Allerdings: »Der Betreiber des Alten- und Pflegeheims hat die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen. In einer schriftlichen Stellungnahme der Einrichtung hieß es, man werde "mit den Behörden vollumfänglich zusammenarbeiten". Zudem sei in dem Heim der Heimleiter schwer erkrankt, auch andere krankheitsbedingte Personalausfälle hätten wegen des Fachkräftemangels nicht kurzfristig ausgeglichen werden können«, so der SWR-Artikel dazu.
Natürlich könnte der eine oder die andere an dieser Stelle die (scheinbar) einfache Frage aufwerfen: Wenn so viele Verfehlungen bereits in der Vergangenheit ans Tageslicht gekommen sind und nunmehr offensichtlich wieder Verstöße festgestellt worden sind, warum bleibt dann dieses Heim überhaupt am Netz? Warum wird es nicht geschlossen? So bitter es sich anhört (und auch ist), genau an diesem Fall kann man verdeutlichen, wie schwer es ist, eine – eben nur scheinbar logische - Konsequenz zu ziehen und eine Pflegeeinrichtung zu schließen. Neben den rechtlichen Möglichkeiten der privaten Betreiber, sich gegen solche Schritte seitens der Kontrollbehörden zu wehren, sind wir hier eben auch konfrontiert mit den praktischen Problemen, Eigenheim mit mehr als 140 Bewohnern einfach mal so stillzulegen, muss man doch die Versorgung der Menschen sicherstellen können.
Ebenfalls an diesem Wochenende - und damit sollen die Beispiele aus den Niederungen der Pflegemissstände eingeordnet werden - gab es in der Tageszeitung "junge Welt" ein Themenschwerpunkt zur Pflege mit mehreren Artikeln, darunter einem Gespräch mit dem bekannten Pflegekritiker Claus Fussek, der seit Jahrzehnten in diesem Themenfeld unterwegs ist. Er beschreibt konkret die beobachtbaren Missstände und bindet diese zugleich ein in eine grundsätzliche Strukturfrage:
»Etwa Fälle von Menschen, die nicht genug zu essen und zu trinken bekommen, gar verdursten. Gerade nach einem Schlaganfall benötigen sie mehr Zeit, um das Essen einzunehmen. Doch es herrscht Zeitmangel. Also wird das Essen weggeräumt; sie bekommen alternativ eine Magensonde. Statt zur Toilette begleitet zu werden, legt man ihnen eine Windel an. Manchmal gibt es nicht mal einen Gang an die frische Luft.
Sind die Pflegebedürftigen unruhig, werden sie mit Medikamenten ruhiggestellt. Oder gleich fixiert – obwohl das einer richterlichen Anordnung bedürfte. Und dann gibt es Fälle, in denen Menschen würdelos und in Schmerzen in ihrem eigenen Kot liegengelassen werden.
Es ist teilweise Menschenverachtung in Reinkultur. Trotzdem handelt es sich nicht um Extrembeispiele, sondern um strukturelle Probleme. Mit minimaler personeller Besetzung ist menschenwürdige Pflege nicht möglich.«
Und wieder sind wir bei den strukturellen Rahmenbedingungen der Arbeit - eine Problematik, die wir auch in vielen anderen Bereichen haben, wo es um personenbezogene Dienstleistungen geht, man denke hier nur an die Auseinandersetzung über die Frage der Personalschlüssel in den Kindertageseinrichtungen im Umfeld der derzeitigen Krippenausbaus (vgl. hierzu meinen Beitrag Die Hoffnung stirbt zuletzt und wenn, dann in der nächsten Legislaturperiode. (Zwei) Wohlfahrtsverbände und die Gewerkschaft GEW fordern ein "Bundesqualitätsgesetz" für die Kindertagesbetreuung vom 29.10.2014). Der Sozialverband VdK hat gerade eine Verfassungsbeschwerde auf den Weg gebracht, mit der man erzwingen will, dass die Personalschlüssel in der Pflege korrigiert werden (vg. dazu mit einer skeptischen Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit den Beitrag Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten vom 08.11.2014).
Aber - bei aller absoluten Berechtigung, endlich die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, muss man auch darauf hinweisen, dass bessere Rahmenbedingungen notwendig, aber eben nicht hinreichend sind für einen würdevollen und angemessenen Umgang mit den Menschen, die sich ausgeliefert haben und die es sind. Es kommt immer auch auf die Haltung, die Einstellung der Menschen an, die diese Sorgearbeit machen. Auch hierzu ein Zitat von Claus Fussek mit Blick auf die heutigen Zustände:
»Ich habe auch gut geführte Pflegeheime mit großartigen Leitungskräften und engagierten Pflegerinnen erlebt. Dort wird vor allem mit dem Personal anders umgegangen. Das Zauberwort heißt hier Wertschätzung. Und diese Pflegeheime sind um keinen Euro teurer als die schlechten, arbeiten unter den gleichen Rahmenbedingungen. Die müsste man sich viel genauer anschauen. Ich befürchte aber, dass die Anzahl der schlechten Heime sehr, sehr groß ist.«