Sonntag, 19. Oktober 2014

Ein Thema, das sich doppelt hinter Gittern befindet: Die Situation in den Gefängnissen. Und Argumente für einen neuen Anlauf in Richtung Resozialisierung

Der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault hat in seinem 1975 veröffentlichten Werk "Surveiller et punir. La naissance de la prison" (die deutsche Übersetzung erschien 1976 unter dem Titel Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses) mit Blick auf das Gefängnis von einer "totalen Institution" gesprochen. Damit waren und sind weitaus mehr Prozesse gemeint als das Eingeschlossensein an sich. Die Strafgefangenen sind nicht nur der Institution ausgeliefert in mehrfacher Hinsicht, sondern auch untereinander bilden sich - zuweilen lebensgefährliche - Hierarchien, mithin eine höchst ausdifferenzierte Institutionen innerhalb der Institution. Und obgleich wir derzeit immer noch 54.000 Strafgefangene in den Justizvollzugsanstalten haben, tauchen diese in der breiteren Öffentlichkeit wenn überhaupt dann in den Sonntagabend-Krimis im Fernsehen mal auf oder wenn es einem Gefangenen gelingt, sich der "totalen Institution" (meistens nur vorübergehend) durch Flucht zu entziehen. Oder wenn man sich aufregt über den Umgang mit den Gefangenen, von den einen als "zu hart", von den meisten als viel "zu lasch" empfunden. Und richtig emotionalisiert wird es beim Thema Umgang mit den Sicherungsverwahrten bzw. wenn diese dann doch freigelassen werden (müssen). Vor diesem Hintergrund ist es fast schon überraschend, wenn in den Medien aus zwei anderen Perspektiven auf die Gefängnisse geschaut wird. Und wenn dabei auch noch ein Ansatz angesprochen wird, der ansonsten auch eher - wenn überhaupt - mit Skepsis betrachtet und dem Lager der "Gutmenschen" zugeschrieben wird: Resozialisierung, dann wird man besonders aufmerksam.


Der SWR hat in dem Beitrag Die Macht im Knast - hinter Gittern herrscht oft pure Gewalt einen Vorstoß gewagt hinter die Mauern des Strafvollzugs, was wie gesagt selten genug passiert. Die redaktionelle Beschreibung des Beitrags verdeutlicht die Spannweite:

»Hermann T. war nur sechs Tage im Gefängnis, dann war er tot. Gefoltert und erhängt von seinen drei Zellengenossen. Die hatten einfach nur Langeweile und wollten jemanden sterben sehen, also musste der Neuling in der Zelle daran glauben. Zweimal haben Vollzugsbeamte in der Zelle nachgeschaut und wollen nichts bemerkt haben. Wegducken und wegschauen, das könnte ein Prinzip im deutschen Strafvollzug sein. Gewalt im Gefängnis ist allgegenwärtig und oft geht es dabei um Macht und Hierarchie. Wer hat unter den Gefangenen das Sagen? Überwiegend ist es die Russenmafia. Ein gut organisiertes Netzwerk sorgt für regen Drogennachschub. Wer seinen Stoff nicht zahlen kann, bekommt den Mahnbescheid zu spüren. Da werden schon mal die Finger des Schuldners gebrochen, dann fließt das Geld auch im Knast. Drogen, Demütigung, Vergewaltigung, Körperverletzung: Im deutschen Knast ist alles an der Tagesordnung. Statistiken zeigen: Jeder vierte Strafgefangene wird im Laufe eines Monats Opfer von Gewalt. SWR1 Reporter Rolf Reinlaßöder hat einige Tage lang Schwerstverbrecher in einem Gefängnis besucht. Auge in Auge hat er mit Knast-Tätern und Knast-Opfern gesprochen und Reportagen geliefert, die in erschreckender Weise die Zustände in deutschen Gefängnissen zeigen. Der Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer sieht das Gewaltpotenzial vor allem bei den jüngeren Straftätern und fordert ein hartes Durchgreifen der Vollzugsbeamten. Prof. Bernd Maelicke, der als Problemkind gerade noch die Kurve gekriegt hatte, sieht dagegen den Mangel an Resozialisierung im Knast als Ursache der Gewalt.«

Besonders die beiden Interviews mit Pfeiffer und Maelicke sollen an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden. In dem Gespräch mit Bernd Maelicke tauchen auch zahlreiche Lösungs- bzw. Handlungsansätze auf, die sich aus der Sicht dieses Experten für den Strafvollzug und vor allem für die Zeit nach der Haftentlassung aufdrängen.

In diesem Zusammenhang sei an einen Artikel von Heribert Prantl erinnert, der bereits im Januar dieses Jahres in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist und der explizit auf das Themenfeld Resozialisierung abstellt: Im Knast sind viele Zellen frei. Prantl bezieht sich auf den - auch in der Abbildung erkennbaren - Trend einer rückläufigen Zahl an Strafgefangenen in Deutschland. Die Ursachen dafür werden kurz gestreift: »Schuld daran ist nicht eine mildere Justiz, sondern die fallende Kriminalitätsrate, zumal bei den Tötungsdelikten. Und schuld ist die Demografie: "Die Vergreisung der Republik fördert die innere Sicherheit enorm", sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer.«

Prantl setzt an diesem Tatbestand deshalb an, weil diese Entwicklung im Grunde etwas möglich macht, was seit vielen Jahren immer wieder von Fachleuten gefordert wird:

»Das sind günstige Voraussetzungen für ein Projekt, für das Strafrechtler und Kriminologen, Experten für Strafvollzug und Straffälligenhilfe seit mehr als 25 Jahren werben: für ein Resozialisierungsgesetz. Ein Gesetz also, das sich nicht auf die Zeit in der Haft, sondern auf die Zeit nach der Haft konzentriert; ein Gesetz, das sich nicht um Haftbedingungen und Zellengröße kümmert, sondern um die Eingliederung in die Gesellschaft; ein Gesetz, das dann greift, wenn der "Ernstfall Freiheit" da ist; ein Gesetz, das die Mittel und Möglichkeiten zusammenfasst, die einen Rückfall verhindern sollen.«

Denn gerade in diesem so wichtigen Bereich der Resozialisierung liegt einiges im Argen:

»Das derzeitige System der ambulanten Resozialisierung ist ein großes Verwirrsystem. Da kann es einem Probanden passieren, dass sein Fall im Lauf der Jahre von dreißig verschiedenen Sozialarbeitern angefasst wird. Alle wollen oder sollen ihm irgendwie helfen; aber darunter ist kaum einer, der ihn an der Hand nimmt und ihn begleitet. Ein Urvertrauen in eine bestimmte Person kann sich so nicht entwickeln. Das System der sozialen Strafrechtspflege ist seit der Föderalismusreform von 2006 noch schwerer überschaubar als vorher.«

Und dann zitiert Prantl Bernd Maelicke mit eindrucksvollen Zahlen, die es verständlicher machen, warum hier Probleme bestehen:

»Der Strafrechtsexperte Bernd Maelicke, der 15 Jahre lang Ministerialdirigent und Abteilungsleiter für Strafvollzug im Kieler Justizministerium war, stellt das System Haft und das System ambulante Resozialisierung mit eindrucksvollen Zahlen gegenüber: Für die früher rund 60.000, jetzt etwa 50.000 Strafgefangenen in Deutschland sind insgesamt 40.000 Beamte und Angestellte zuständig, davon 30.000 Beamte und Angestellte im Allgemeinen Vollzugsdienst. Für die insgesamt 200.000 Menschen unter Bewährung gibt es nur etwa 3.000 Bewährungshelfer - im Schnitt teilen sich also 70 Probanden einen Bewährungshelfer; oft sind es bis zu hundert. In Österreich ist vorgeschrieben, dass ein Bewährungshelfer maximal 30 Probanden betreuen darf.«

Genau an dieser Problemstelle könnte es aufgrund des Trends rückläufiger Gefangenenzahlen Hoffnung geben, wenn ...: Man könne Mittel, die bisher im Strafvollzug stecken, umsteuern und umschichten in die Bewährungshilfe, so das Plädoyer von Bernd Maelicke.

Er bleibt nicht nur bei der Forderung, sondern hat gemeinsam mit Heinz Cornel, Frieder Dünkel und Bernd-Rüdeger Sonnen den Entwurf eines Landesresozialisierungsgesetzes (vgl. hierzu Erster Diskussionsentwurf eines Landesresozialisierungsgesetzes vom Januar 2014). Bisher gibt es in Deutschland kein einziges solches Gesetz. Man muss sich diesen Gesetzentwurf vorstellen als eine Amalgamierung der guten Erfahrungen aus den 16 einzelnen Bundesländern, die es natürlich auch gibt und den Versuch, diese in eine Form zu gießen. Dazu Prantl in seinem Artikel:

»Zwölf Hilfen zur Resozialisierung werden koordiniert - von der sogenannten Ermittlungshilfe über den Täter-Opfer-Ausgleich bis hin zur Führungsaufsicht und der Hilfe für Angehörige von Straftätern. Besonders wichtig der Paragraf 19: Bei der Durchführung der Hilfen "soll ein Wechsel in der Person der Fachkraft vermieden werden". Im Geschäftsbereich der Landesjustizministerien soll ein "Landesamt ambulante Resozialisierung" gebildet werden, das die staatlichen Hilfen mit denen der Wohlfahrtsverbände harmonisiert.«

Man kann nur hoffen, dass diese wichtigen weiterführenden Ansätze Gehör finden, was allerdings und leider nicht besonders plausibel ist, denn der Strafvollzug fristet nicht nur in der Öffentlichkeit ein Schattendasein, sondern ist auch ein ungeliebtes Kind in den Bundesländern aufgrund der mit ihm verbundenen Kosten, die von den Ländern alleine zu stemmen sind. Und angesichts der Haushaltslage der meisten Bundesländer und im Kontext der Schuldenbremse wird derzeit bekanntlich überall das Geld zusammengestrichen - in einer solchen Gemengelage fällt es dann doppelt schwer, Anfangsinvestitionen beispielsweise in eine deutlich besser aufgestellte Bewährungshilfe zu tätigen, auch wenn sich diese mehrfach rechnen werden (in der Zukunft), denn viele Bürger werden das abwägen mit den Folgen anderer Kürzungen, die sie unmittelbar treffen.
Dabei könnte man ganz egoistisch argumentieren, dass Verbesserungen in die von Maelicke und anderen Experten angefachte Richtung schon allein deshalb und dann notwendig sind, wenn sie zu einer Verringerung der Rückfallquoten beitragen können, denn jede Straftat trifft ja im Regelfall a) Unschuldige und b) hat enorme individuelle wie auch gesellschaftliche Folgekosten.

Zu dem, was getan werden muss, gehört auch und gerade bei den jüngeren Gefangenen die Bildung bzw. Investitionen in ihre Bildung. Auch dieses Thema wurde überraschenderweise aktuell in einem Radio-Beitrag aufgegriffen: Wie funktioniert Schule hinter Gittern?, so lautet der Titel eines Beitrags des Deutschlandfunks vom 18.10.2014, der hier bei Interesse am Thema zum Nachhören empfohlen sei:

»Die Grundrechenarten wiederholen, üben wie man eine Bewerbung schreibt und der Hauptmann von Köpenick - das Curriculum in einer Justizvollzugsanstalt sieht nicht anders aus als an vielen Schulen in ganz Deutschland. Die Umstände sind aber natürlich andere, wenn Schüler gleichzeitig Insassen sind. Die Bildungsangebote im Vollzug haben sich in den letzten 25 Jahren zwar beachtlich entwickelt – seitdem der Europarat in einer Empfehlung aussprach, dass es allen Inhaftierten in Europa möglich sein soll, weiter am Bildungssystem teilzunehmen. Jugendliche und Erwachsene können im Vollzug ihren Schullabschluss nachholen, eine berufliche Ausbildung machen oder sogar studieren. Aber Empfehlung heißt nicht gleich Verpflichtung und die Standards unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland sehr. Betrachtet man Bildung als Schlüssel zur Resozialisierung, dann gibt auch die Rückfallquote bei jugendlichen Straftätern von 60 Prozent zu denken. Wie muss der Unterricht hinter Gittern aussehen? Welche Ziele hat er? Und wann ist er erfolgreich? Was macht einen guten Lehrer im Vollzug aus? Was lernen Jugendliche in der JVA jenseits des Klassenzimmers? Wie geht es nach dem Vollzug weiter? Und wie steht Deutschland eigentlich im internationalen Vergleich da?«