Der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) kann man vieles vorwerfen, nicht jedoch, dass sie in den vergangenen Monaten zu langsam gearbeitet hätte. Die gesetzgeberische Umsetzung des im Koalitionsvertrag vereinbarten „Rentenpakets“, zu der auch die umstrittene „Rente mit 63“ gehört, hat das von ihr geführte Bundesarbeitsministerium gleichsam in Form eines „Husarenritts“ über die parlamentarischen Hürden gebracht. Nun ist es allerdings – gerade in der Sozialpolitik – oftmals so, dass Schnelligkeit gepaart mit politischen Kompromissen zu Qualitätsproblemen führen.
Und genau das wird jetzt erkennbar: »Denn die in letzter Minute aufgenommenen Ausnahmen bei der abschlagsfreien Rente ab 63 sind wahrscheinlich nicht mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags«, berichtet Thomas Öchsner in seinem Artikel Rente mit 63 möglicherweise verfassungswidrig.
Wo liegt das Problem? Die Rente ab 63 ohne Abzüge bekommt derjenige, der 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung nachweisen kann. Dabei werden auch Zeiten anerkannt, in denen Arbeitslosengeld I, nicht aber früher Arbeitslosenhilfe bzw. seit 2005 Arbeitslosengeld II bezogen wurde. Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, das ansonsten beispielsweise sehr viele ostdeutsche Arbeitnehmer von der Inanspruchnahmemöglichkeit der abschlagsfreien Rente ab 63 abgeschnitten worden wären, da viele von ihnen von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Im Vorfeld der Verabschiedung des Rentenpakets der Bundesregierung gab es allerdings eine teilweise inszenierte Debatte darüber, dass die Anrechnung von Arbeitslosigkeit auf die Beitragsjahre, die für die Inanspruchnahme der Rente mit 63 notwendig sind, dazu führen könnte, dass es zu einer „Frühverrentungswelle“ ab 61 Jahren kommen kann. Es wurde argumentiert, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich auf ein Ausscheiden zum 61. Lebensjahr verständigen, der Arbeitnehmer zwei Jahre lang Arbeitslosengeld bezieht und dazu aufstocken der Leistungen seitens des Unternehmens, um dann in die abschlagsfreie Rente ab 63 zu wechseln. Viele Experten haben darauf hingewiesen, dass hier sehr stark im hypothetischen Raum argumentiert wurde. Trotzdem gelang eine auf die Verhinderung dieser angeblichen „Frühverrentungswelle“ gerichtete Ausnahmeregelung in das Gesetzespaket: Bei den letzten zwei Jahren vor dem jeweiligen Rentenbeginn werden nunmehr Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet.
Aber damit nicht genug. Ebenfalls implementiert wurde eine Ausnahme von der Ausnahme – und genau die erweist sich jetzt als verfassungsrechtlicher Stolperstein: Wird die Arbeitslosigkeit in den hier relevanten zwei Jahren vor Beginn der Rente mit 63 durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht, wird dieser Zeit bei den 45 Beitragsjahren berücksichtigt. Das gilt allerdings nicht, wenn der Arbeitnehmer betriebsbedingt gekündigt wurde.
Genau mit dieser Unterscheidung hat der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags seine juristischen Probleme, denn hier dürfte ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen. Konkret geht es darum, dass die Gutachter „schwerwiegende Bedenken an der Angemessenheit der Ungleichbehandlung“ haben. Letztendlich kann man das hier angesprochene Problem so zuspitzen: Die derzeitige Regelung unterstellt im Prinzip, dass betriebsbedingte Kündigungen von Arbeitnehmer, die das 61. Lebensjahr vollendet haben, im Kontext einer missbräuchlichen Ausgestaltung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite zu sehen sind, wofür es allerdings keine empirische Evidenz gibt. Denn natürlich kann und wird es viele betriebsbedingte Kündigungen geben, bei denen nicht der Tatbestand vorliegt, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsame Sache machen, sondern indem der Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit geschickt wird, obwohl er das gar nicht will. Hier stellt sich natürlich die berechtigte Frage, warum denn der Arbeitnehmer mit 61, der seinen Arbeitsplatz verliert, weil sein Unternehmen in die Insolvenz geht, schutzbedürftiger sein soll als ein einzelner Arbeitnehmer, die betriebsbedingt von seinem Arbeitgeber gekündigt wurde, der Ihnen gerne loswerden möchte und wo wir ebenfalls den Tatbestand einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit bei dem betroffenen Arbeitnehmer vorliegen haben.
Und wie immer bei komplizierten Gesetzeswerken muss man auch kritisch auf bestimmte, eben nur scheinbar klare Begrifflichkeiten achten. Öchsner zitiert in seinem Artikel einen kritischen Hinweis der Deutschen Rentenversicherung: „die verwandten Begriffe Insolvenz unvollständige Geschäftsaufgabe sind unbestimmt. Sie geben auf manche Fragen, die sich in der Praxis stellen, keine Antwort.“ Nur ein Beispiel: Ist es eine vollständige Geschäftsaufgabe, wenn eine Einzelhandelskette eine Filiale schließt?
Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages wurde angefordert vom rentenpolitischen Sprecher der Grünen, Markus Kurth. Und dieser ist sich sicher: Die Rente ab 63 wird vor Sozialgerichten und später beim Verfassungsgericht landen.
Auf das, was die Gutachter des Wissenschaftlichen Dienstes hier problematisieren, habe ich bereits am 13. Mai dieses Jahres in meinem Blog-Beitrag Angekündigter Doppelbeschluss: Die Rente mit 63 soll mit der Arbeitslosigkeit bis 61 fusioniert werden hingewiesen. Mit Blick auf die damals erst diskutierte, nunmehr im Gesetz eingebaute Ausnahme von der Ausnahme im Falle der Insolvenz bzw. vollständigen Geschäftsaufgabe kann man dort lesen:
»Das verweist auf ein potenziell neues, erhebliches "Gerechtigkeitsproblem", denn ein solcher Fall würde ja bedeuten, dass der betroffene ältere Arbeitnehmer unfreiwillig seinen Arbeitsplatz verliert und er dann nicht in den Genuss der späteren abschlagsfreien Rente mit 63 kommen kann, wenn ihm vielleicht wegen wenigen Monaten die Anspruchsvoraussetzung 45 Beitragsjahre fehlt.
Wenn man jetzt aber eine Sonderregelung für die Fälle schafft, wo das Unternehmen in die Insolvenz gegangen ist, stellt sich sofort die "Gerechtigkeitsfrage", was denn mit den Arbeitnehmern ist, denen mit 61 oder später aus betriebsbedingten Gründen gekündigt wurde. Die fallen dann nicht unter die Sonderregelung, können aber ebenfalls nichts für ihre Arbeitslosigkeit. Man ahnt an dieser Stelle, ein weites und lukratives Feld für die Juristen tut sich hier auf.«
Und in diesem Beitrag findet sich auch ein kritischer Blick auf das, was der Nicht-Berücksichtigung von Arbeitslosigkeit in den letzten zwei Jahren vor Beginn einer abschlagsfreien Rente mit 63 vor allem seitens der Arbeitgeber argumentativ als großes Problem ausgemalt wurde, also der Annahme, dass das für "Frühverrentung" missbraucht wird:
»Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass diese und ähnliche Argumentationen schon recht einseitig daherkommen, um das mal vorsichtig auszudrücken. Denn hier wurde und wird ein Bild gemalt, das so aussieht: Der Arbeitnehmer kann es gar nicht erwarten, in den Ruhestand zu kommen (was in nicht wenigen Fällen angesichts der konkreten Arbeitsplätze vielleicht sogar durchaus der Fall sein könnte) und wenn er durch den Eintritt in die Arbeitslosigkeit mit 61 zwei Jahre lang die Möglichkeit hat, das Arbeitslosengeld I zu beziehen, dann wird er das freudig machen, um dann mit 63 in die abschlagsfreie Rente zu wechseln. Das ist gelinde gesagt eine "mutige" Hypothese, wenn man bedenkt, dass das Arbeitslosengeld I als Lohnersatzleistung deutlich niedriger liegt als das bisherige Einkommen und zudem die späteren Rentenansprüche natürlich auch noch niedriger ausfallen werden durch die Arbeitslosigkeitszeiten. Darüber hinaus gibt es solche "Kleinigkeiten" wie Sperrzeiten bei Eigenkündigung. Um nur eine Hürde zu nennen. Folglich kommen wir zum eigentlichen Kern der Sache: Eine "Frühverrentungswelle" kann man im Grunde nur dann erwarten, wenn die Unternehmen da mitmachen bzw. das instrumentalisieren für ihr Anliegen, sich von älteren Mitarbeitern zu trennen, beispielsweise in dem sie die Arbeitslosengeld I-Zahlungen aufstocken. Zugespitzt formuliert: Eigentlich warnen die Arbeitgeber vor sich selbst bei dieser Diskussion - die übrigens seitens der Experten bei einer kürzlich stattgefunden Anhörung im Deutschen Bundestag überwiegend als nicht besonders gewichtig eingeschätzt wurde. Aber irgendwie hat sich das verselbständigt.«
In der Sozialpolitik haben wir es oft mit dem zuweilen schmerzhaften "Bumerang-Effekt" zu tun, also die offensichtlichen handwerklichen Fehler fallen einem dann später wieder richtig auf die Füße. Aber das dauert und erfordert wieder erheblichen Aufwand bei den Betroffenen und der Gerichtsbarkeit. Aber das sind Kosten, die in keiner Rechnung auftauchen.