Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter
Dass die BILD-Zeitung mit harten Bandagen kämpft, ist hinlänglich bekannt. Aber die Salve, die man nun abgefeuert hat und das nicht zufällig kurz vor den anstehenden Europawahlen, verbreitet schon eine brandgefährliche Substanz: So kassieren EU-Ausländer bei uns ab! - und damit gleich eine (scheinbar) konkrete Summe hängen bleibt: "Jährlich 3 Milliarden Euro für Kindergeld und Hartz IV".
Quelle: Screenshot eines Artikels aus der Online-Ausgabe der BILD am 13.05.2014 |
Und dann nimmt man sich die polnischen Saisonarbeiter vor: Kindergeld-Stopp für Saisonarbeiter!, fordern Politiker, weiß die BILD-Zeitung. Und weiter: »Immer mehr EU-Ausländer bekommen Stütze aus Deutschland für ihre in der Heimat lebenden Kinder«. Und dann wird der Leser mit der nächsten Milliardenzahl konfrontiert: »Saisonarbeiter aus dem EU-Ausland bekommen bis zum Jahresende rund eine Milliarde Euro Kindergeld aus Deutschland für ihre in der Heimat lebenden Kinder.« Man beziehe sich dabei auf Angaben der FAZ, in deren Online-Ausgabe am 11.05.2014 ein Artikel von Sven Astheimer erschienen ist mit der ebenfalls knackig daherkommenden Überschrift Kindergeld für EU-Ausländer kostet Milliarden.
Wir haben es hier zum einen mit einem "klassischen" Fall der selektiven Dateninterpretation zu tun, darüber hinaus wird hier aber eine Debatte angeschoben und befeuert, die man nicht losgelöst sehen kann und darf vor dem Hintergrund der anstehenden Europawahlen und der derzeit weit verbreiteten Kritik an allem, was irgendwie mit EU zu tun hat. Aber schauen wir genauer hin.
In dem zitierten FAZ-Artikel kann man lesen: »Saisonarbeiter aus der EU haben in Deutschland Anspruch auf Kindergeld, auch wenn ihr Nachwuchs in der Heimat lebt. Das kostet viel Geld. Bis zum Jahresende werden sich die Kosten schon auf eine Milliarde Euro belaufen«. Und dann mit einem drohenden Unterton: »Deutschland bekommt die Kosten der Umsetzung europäischen Sozialrechts zu spüren«. Vor diesem Hintergrund ein möglichst nüchterner Blick auf den Sachverhalt, um den herum jetzt dieser Hype entfaltet wird:
Bereits Ende April berichtete die WELT in einem Artikel: Zahl der Kindergeldanträge aus Ausland unterschätzt. Und die Online-Ausgabe der WAZ erzählt uns in dem Artikel Fatale Fehleinschätzung die Geschichte des Waldemar Hudzinski, eines typischen Pendlers im grenzenlosen Europa, von der EU-Bürokratie als „Wanderarbeiter" bezeichnet.
»Der Pole hatte einige Monate in einem Gartenbaubetrieb am Niederrhein gearbeitet. Frau und zwei Kinder waren zu Hause geblieben. Der polnische Staat zahlt zehn Euro Kindergeld, der deutsche 184. Hudzinski beantragte bei der Arbeitsagentur Wesel deutsches Kindergeld. Insgesamt wollte er 304 Euro. Die Weseler Behörde lehnte die Zahlung ab. Hudzinski klagte gegen die Absage, zuletzt vor dem Europäischen Gerichtshof.
Die Richter gaben dem Kläger am 12. Juni 2012 weitgehend Recht. Es war ein Grundsatzurteil. Deutschland muss EU-Ausländern, die hier arbeiten und „unbeschränkt steuerpflichtig“ sind, Kindergeld auch dann zahlen, wenn Kinder in der Heimat beim anderen Elternteil leben. Das Gericht hat auf die „Freizügigkeit“ für Arbeitnehmer hingewiesen und darauf, dass die Rechtsvorschriften eines Staates für diejenigen gelten, die dort abhängig beschäftigt sind. Dabei wird der in der ausländischen Heimat gezahlte Anteil angerechnet. Waldemar Hudzinski und in der Folge viele weitere Pendler bekommen seither pro Kind 184 Euro vom deutschen Staat minus zehn Euro polnischer Anteil. Das kann sich bei einem weniger hohen Lohn, so für die berühmten „Spargelpflücker“, zum bedeutsamen Zubrot addieren.«
Die Entscheidung C 611/10 des EuGH ist eindeutig - und sie wurde 2012 gefällt. Nun schreiben wir mittlerweile das Jahr 2014 und offensichtlich scheint man sich in Deutschland auf einmal darüber zu wundern, dass dieses Urteil auch materielle Konsequenzen haben kann und hat.Jeder von uns möge an dieser Stelle an die zahlreichen osteuropäischen Saisonarbeiter denken, die nicht nur unsere Spargel-Ernte sicherstellen, sondern die auch in anderen Bereichen der Landwirtschaft, des Weinbaus oder aber der Bauwirtschaft tätig sind, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wie aber kommen nun diese Zahlen zustande, die derzeit durch die Medien geistern und offenbar munter abgeschrieben und verbreitet werden? Ausgangspunkt für die Spurensuche ist die Steuerschätzung aus dem November 2012, in der versucht wurde, die möglichen Auswirkungen des Urteils des EuGH zu quantifizieren: Und die Steuerschätzer haben damals als Schätzgröße einen Betrag von 200 Millionen Euro angesetzt. Nun wird der eine oder die andere zu recht einwenden: 200 Mio. Euro sind doch aber keine Milliarde? Wie kommt man auf so einen Betrag? Dazu muss man wissen: Nach dem EuGH-Urteil konnten Kindergeld-Ansprüche auf bis zu vier Jahre rückwirkend geltend gemacht werden. Also hat man anscheinend flugs die 200 Mio. Euro mit vier multipliziert und weitere 200 Mio. für das laufende Jahr hinzuaddiert und schon habe wir eine schöne runde Summe von einer Milliarde Euro. Nochmals zur Erinnerung: Es handelt sich um geschätzte Zahlen in einem sehr unsicheren Umfeld. Jens Borchers hat in seinem prägnanten Beitrag Verwirrspiel mit geschätzten Zahlen eine Sprecherin des Bundesfinanzministers mit halbwegs realen Daten zitiert: "Von 2008 bis 2011 hatten wir Mehrausgaben von 400 Millionen Euro".
An dieser Stelle bietet es sich an, einmal die Relationen des Themas auf den Punkt zu bringen: 14,4 Millionen Arbeitnehmer erhalten in Deutschland Kindergeld. 660.000 stammen aus einem anderen EU-Land. Das sind nach den noch geltenden Regeln der Mathematik gerade einmal 4,6%. Über 90% der Kinder von EU-Ausländer, die hier Kindergeld beziehen, leben auch hier. Dass ein Saisonarbeiter, der für zwei oder maximal drei Monate nach Deutschland kommt, seine Kinder verständlicherweise in Polen lässt, erscheint schlüssig. Aber die BILD-Zeitung erdreistet sich, daraus sogar einen "Sozialmissbrauch" zu machen. Dabei handelt es sich um eine Leistung, die den Betroffenen zustehet, ob das dem einen oder dem anderen gefällt oder nicht. Denn was viele vergessen - der Kindergeldanspruch, so das EuGH, bezieht sich auf hier bei uns "voll steuerpflichtige" Arbeitnehmer. Und jeder, der sich etwas mit dem Kindergeld auskennt, weiß, dass es sich bei dieser Leistung eben nicht um eine reine Sozialleistung handelt, sondern mit gewichtigen Anteilen um eine Steuerrückerstattung vor dem Hintergrund, dass das Existenzminimum der Kinder von der Besteuerung frei zu stellen ist. Insofern ist die Charakterisierung als "Sozialmissbrauch" schlichtweg Demagogie.
Aber der Wahnsinn geht offensichtlich weiter und reicht bis in die Regierungsetagen, denn meines Wissens ist auch die CSU ein Bestandteil der Bundesregierung. Die ganze Perfidie (wie auch den unterirdischen Kenntnisstand der Beteiligten) kann man an dem folgenden Text aufzeigen, der dem BILD-Artikel Kindergeld-Stopp für Saisonarbeiter! entnommen ist:
»Politiker der Unionsfraktion sind empört, fordern ein Ende des Sozialmissbrauchs! CSU-Innenexperte Stephan Mayer (40) zu BILD: „Das deutsche Kindergeld ist oft die einzige Einnahmequelle der Familien. Das ist eindeutiger Sozialmissbrauch und muss gestoppt werden.“
Mit Blick auf die Summe von rund 1 Milliarde Euro Kindergeld für EU-Saisonarbeiter sagte Mayer: „Die Zahl birgt erheblichen sozialpolitischen Sprengstoff. Die Bürger können nicht mehr verstehen, warum wir soviel Kindergeld für EU-Bürger im Ausland bezahlen. Das Geld fehlt uns in Deutschland dann unter anderem für den Straßen- und Bahnausbau.“«
Die polnischen Saisonarbeiter nehmen uns die Kohle für den Straßenbau weg, erst die Autos und dann das. Auf welchem Niveau sind wir hier angekommen? Da wird munter alles in einen Kessel geworfen in der üblichen Hoffnung, dass es die Menschen schon nicht merken, welcher Unsinn hier verbreitet wird. Und wenn die CSU mal auf Touren kommt, dann geht auch schon mal der Gaul durch: »Die CSU will Saisonarbeitern aus EU-Ländern generell keine Kindergeldansprüche zubilligen. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer (39) sagte zu BILD: „Der Kindergeldtransfer ins Ausland muss eine Ende haben.“« So so, vielleicht sollte der Herr Generalsekretär mal mit den Juristen seiner eigenen Regierung sprechen oder müssen wir das in Wirklichkeit als Plädoyer für einen Austritt aus der EU verstehen? Denn das wäre Voraussetzung, um den gequirlten Unsinn umsetzen zu können.
Nun sind wir aber am eigentlichen Punkt angekommen.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes ist im Kontext des Grundrechts auf Freizügigkeit als eine der wesentlichen Säulen der Europäischen Union konsequent und logisch. Anders ausgedrückt: Wir haben es mit zwei Seiten ein und derselben Medaille zu tun. Auf der einen Seite steht die Inanspruchnahme der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU, die in diesem Land keiner missen möchte. Beispielsweise die Tatsache, dass mehr als 30.000 ausländische Ärzte in deutschen Krankenhäusern ihren Schichtdienst absolvieren, darunter überwiegend Ärzte aus Osteuropa. Oder die mehr als 400.000 hin- und herpendelnden osteuropäischen Frauen, die in den geschätzt 150.000 Haushalten von deutschen Familien deren Angehörige pflegen. Oder die zigtausenden Saisonarbeiter, die offensichtlich Arbeiten verrichten, für die man hier bei uns keinen mehr hinter dem Ofen hervorlocken kann. Oder die zahlreichen osteuropäischen Scheinselbstständigen, die auf dem Bau eingesetzt werden – wobei der Hauptprofiteure des Einsatzes dieser Kräfte die Auftraggeber und die Bauunternehmen in Deutschland sind. Diese Dinge möchte man natürlich gerne weiter so machen wie bislang. Wenn denn aber die Menschen, die aus anderen Ländern der EU zu uns kommen, um hier zu arbeiten, die Ihnen völlig rechtmäßig zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen wollen, dann wird das als „Sozialmissbrauch“ diskreditiert und gleichzeitig damit Stimmung gegen diese Menschen gemacht. Und natürlich auch Stimmung gegen die EU, der Mann die angebliche Schuld in die Schuhe zu schieben versucht.
Es ist von Anfang an ein - übrigens zu Recht - verlorener Krieg, wenn man glaubt, die Ausnutzung des erheblichen Wohlstandsgefälles zwischen den Armenhäusern der EU und einem reichen Land wie Deutschland kann man auf Dauer oder auch nur mittelfristig völlig einseitig ausgestalten. "Rosinenpickerei" wird nicht funktionieren - auch bedingt durch die europäische Rechtsprechung. Es wäre besser, wenn die Politik nicht ihr populistisches Süppchen auf dem Aktendeckel eines wahrhaft europäischen Urteils zu kochen versucht.
Abschließend wieder ein Blick auf die nackten Zahlen: Der Anteil der Kindergeldausgaben für die Menschen, deren rechtskonformen Ansprüche jetzt gerade als mediale Sau durchs Dorf getrieben werden, machen gerade mal 0,5% der Kindergeldausgaben aus. Aber sicher ist auch: Der "Kollateralschaden" für Europa wird größer sein.