Also die armen Menschen haben es in vielerlei Hinsicht nicht einfach. Auch, was ihre (Nicht-)Perspektiven angeht. Da schreibt der eine, Torsten Krauel, "Die deutsche Sozialhilfe wird zum Gefängnis" und behauptet, dass der Anspruch des Staates, mittels Sozialhilfe Armut zu bekämpfen, zum Phlegma und zur Unmündigkeit seiner Bürger führe. Und dann kontert der andere, Rainer Hank, damit: »Die Klassengesellschaft lebt. Soziale Mobilität wird überschätzt. Noch nicht einmal Revolutionen kehren die Verhältnisse um.« Und er stellt in seinem Artikel "Die neue Klassengesellschaft" die Frage: »Müssen wir alle zu Fatalisten werden?«. Gute Frage.
Schauen wir uns zuerst einmal das - scheinbar - einfachere Beispiel an, also den Text von Krauel mit der "Sozialhilfe als Gefängnis". Der Autor beginnt mit einer rührseligen Geschichte, perfekt abgestimmt auf die bildungsnahen Schichten, wie das heute wohl so heißt:
»Als der später weltberühmte Neurochirurg Ben Carson noch ein Gettokind in Detroit war, auf der Straße herumzulungern begann und sich für Designerklamotten zu interessieren anfing, tat seine Mutter zwei Dinge. Erstens zwang sie ihn, jede Woche ein Buch aus der Leihbücherei zu lesen und ihr darüber bis zum Sonntag einen Bericht zu schreiben. Denn sonntags ging die Mutter nicht bei reichen Menschen die Villen putzen, sondern in die Kirche. Zweitens bekam Ben Carson eines Tages die knappe Haushaltskasse ausgehändigt: Hier, diese Woche sorgst du für unsere Familie, und wenn du dann einen Weg findest, Geld für Designerklamotten übrig zu haben – bitte, dann kauf dir welche.
Es war natürlich nicht ein Cent übrig. Die Leseberichte schrieb Carson erst widerwillig, dann fleißig. Er fing an, sich für das Gelesene zu interessieren. Seine Zeugnisse wurden besser, und er hörte auf, sich als Klassenclown anzubiedern.«
Der geneigte Leser ahnt schon, wie diese moderne "Vom Tellerwäscher zum ..."-Story enden muss: Mit 33 Jahren war Ben Carson Chef einer der renommiertesten Neurokliniken Amerikas und bald darauf Millionär – er, der zwanzig Jahre vorher fast ein Crackdealer geworden wäre, so Krauel in seinem Artikel. Den Ben Carson gibt es wirklich. Für Krauel ist das alles nur Staffage für seine Botschaft, die er unter das Volk bringen möchte: Carsons Lebensweg sei auch für Deutschland ein Beispiel dafür, »... dass Mangel Leistung mobilisiert und nicht nur Kriminalität – sofern die Menschen in ihrem eigenen Leben darauf beharren, dass es ein Richtig und ein Falsch, dass es ein Gut und ein Böse gibt. Carsons Mutter ist ein Beispiel dafür, dass Armut kein naturgegebenes Schicksal ist – sofern der Einzelne die Auskunft der Politik ignoriert, aus eigener Kraft sei der moderne Mensch nicht mehr imstande, sein Leben in den Griff zu bekommen.«
Vor diesem wahrhaftigen Sittengemälde des Aufstiegs von ganz unten kommt der Verfasser dann zur Sache, die daraus besteht, den Irrweg der Deutschen anzuprangern: »Die deutschen Parteien sehen den Menschen ... aus der Perspektive feudalistischen Denkens. Für sie ist der Mensch in Hilflosigkeit geboren, nicht in Freiheit.« Einmal warm geworden, steigert er sich in sich selbst hinein: Seiner Meinung nach »schlüpfen (die Parteien) in die Rolle der Freiherren. Sie erziehen die Menschen nicht mehr zur Freiheit. Sie erziehen die Menschen zu etwas anderem – dazu, in den Kategorien angestammter Lehen, zu erobernder Vorrechte, lebenslang vom Staat verliehener Rechtstitel denken zu lernen statt in den Kategorien von Arbeit, Aufstieg, Leistung, Opfer und Selbstverantwortung.« Und dermaßen in Fahrt rundet er seine Argumentation ab mit einer clipartigen Kurzfassung der Geschichte:
»Vermögen sind in Deutschland nur dort entstanden, wo es ... Not als Anreiz zur Kreativität (gab) – in Schwaben, Sachsen, dem Sauerland, in Berlin und Hamburg. Not war die Bedingung für die Entstehung des deutschen Mittelstands, und dieser die Voraussetzung für Deutschlands Aufstieg zur Exportmacht.«
Kurzum - ein wenig mehr Not würde den deutschen Armen schon gut tun. Wenn sie dann noch irgendeine intrinsische Kraftquelle haben, dann klappt das schon mit dem Aufstieg zum erfolgreichen und reichen Mediziner. Auch von ganz unten.
Aber man lässt unsere Armen nicht alleine mit einer solchen Botschaft. Parallel zu Krauel's Hymne auf die Wadenbeißer von unten, die den Aufstieg geschafft haben wurden wir in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) mit dem Artikel "Die neue Klassengesellschaft" aus der Feder von Rainer Hank konfrontiert, der nun ganz andere Signale aussendet - schlechte Nachrichten für die "Freunde von Gerechtigkeit und Gleichheit", wie sie von Hank abschätzig tituliert werden:
»Wer an Aufstiegschancen für jedermann glaubt, einerlei aus welcher Familie, Sippe oder Religion, ist ein Illusionär. Herkunft lässt sich nicht überspielen; was zählt, ist die Familie. Oben bleibt oben, und unten bleibt unten. Daran ändern weder deutsche Sozialpolitiker noch kommunistische Revolutionäre etwas.«
Also doch nichts mit der "Münchhausen-Theorie" eines Krauel und anderer, dass man sich selbst aus dem Sumpf der Armut und der ewigen Wiederkehr der Armut ziehen kann, wenn man nur intrinsisch motiviert genug an die heilige Bibel des Aufstiegs durch Bildung glaubt?
Damit jeder mögliche Einwand gleich am Anfang niederkartäscht wird, zerrt Hank sogar den alten Mao auf die Zeugenbank, denn der ist ja nun wirklich nicht zimperlich vorgegangen bei der Installierung eines revolutionären Gesellschaftssystems:
»... eines hat Mao ... nicht vermocht: die Oberschicht auszurotten, die Habenichtse an die Macht zu bringen und ein Reich von lauter Gleichen zu schaffen. „Die Nachkommen der vorrevolutionären Eliten sind im heutigen China immer noch so dominant wie die Kaste der Brahmanen im heutigen Indien“, schreibt der Historiker Gregory Clark in einem neuen Buch«, so Hank. Bei dem Buch handelt es sich um "The Son Also Rises". Hank fasst eine der Kernaussagen von Clark so zusammen: »Der Historiker will nachweisen, dass der Weg von unten nach oben praktisch nicht möglich ist (oder, vorsichtiger gesprochen, sich über Hunderte von Jahren hinzieht) und dass die Eliten, die schon oben sind, auch immer oben bleiben (oder, vorsichtiger gesprochen, Hunderte von Jahren oben bleiben).«
Und in einer mehr als passenden Entsprechung zu den skizzierten Ausführungen von Krauel bekommen wir von Hank eine richtig dicke Packung:
»All die zu Herzen gehenden Tellerwäschergeschichten, wie der kleine Oliver Twist aus dem Armenhaus zu bürgerlichem Ansehen gelangt und der kleine René Obermann es aus dem Prekariat heraus an die Spitze der Deutschen Telekom schafft, wären demnach, statistisch gesehen, Einzelfälle, die ein falsches Bild von Chancengerechtigkeit vermitteln und bestenfalls unsere Wunschvorstellung von einer fairen Weltordnung befriedigen. Weil wir gerne in einer Welt sozialer Mobilität leben wollen, glauben wir, dass wir auch tatsächlich in einer solchen Welt leben.«
Man kann das als eine "frohe Botschaft" begreifen, je nach Klassenstandpunkt: So sei das eine gute Nachricht für die »Oberschichtseltern, die in ständiger Angst vor dem sozialen Absturz ihre Kinder schon als Babys auf Leistung trimmen und an teure Privatschulen und -universitäten schicken, weil die Konkurrenz bekanntlich nicht schläft«. Denn die können im Lichte der neuen Forschungsbefunde von Clark deutlich entspannen.
Und Clark gehört zu der Gruppe der quantitativ arbeitenden Historiker, er fördert beispielsweise diesen erschreckenden Befund im Sinne einer sozialen Nicht-Mobilität zu Tage:
»Das Maß intergenerationeller Mobilität liegt in allen Gesellschaften zwischen 0,7 und 0,9, wobei 0 vollkommene soziale Mobilität bedeutet, während 1 völlige Starrheit der Klassen bedeuten würde. Frühere Untersuchungen hatten deutlich höhere Mobilität ermittelt, mit Werten zwischen 0,15 und 0,65. Der Fehler, so Clark, liegt darin, dass stets alle Kriterien der Zugehörigkeit zur Oberschicht (Einkommen, Wohlstand, Bildung, Berufsstand, Langlebigkeit) gleichzeitig berücksichtigt werden müssen: Wer bei Bill Gates nur auf die Bildung achtet, muss ihn als Versager ansehen, denn er hat nicht einmal ein Hochschulstudium absolviert.«
Ja gibt es denn keine Hoffnung für die Armen?
Natürlich - und an erster Stelle steht diesmal nicht etwa die Bildung, wie so oft in den heutigen Sonntagsreden. Sondern die Heirat. Oder sagen wir korrekter: die richtige Heirat.
»Die Unterschicht muss in die Oberschicht heiraten – und umgekehrt. Denn das ist das beste Mittel, die Talente zu mixen und statistisch jene „Regression zur Mitte“ zu beschleunigen, welche die soziale Mobilität in Schwung bringen könnte.«
Aber - die Menschen halten sich nicht nur beim Rauchen immer viel zu selten an die guten Ratschläge. »Gleich und Gleich gesellt sich gern, und Reiche lieben am liebsten Reiche. Der Trend verstärkt sich sogar.« Womit diese Aufstiegsperspektive für die Armen wieder in sich zusammenfällt. Und natürlich endet Hank mit einer steilen These: »Dass bestimmte Gruppen besonders lange Elite (Juden, Kopten, Brahmanen) oder Unterschicht (Schwarze in Amerika, Sinti) bleiben, dürfte jedenfalls auch mit dem sozialen Paarungsverhalten der Menschen zusammenhängen.«
"Soziales Paarungsverhalten" - ob das mal eine Kategorie wird in einem deutschen Jobcenter? Bis zur Bedarfsgemeinschaft ist man da ja schon gekommen.