Mittwoch, 22. Januar 2014

Die Würde des Menschen ist unantastbar - "es sei denn, er ist altersdement oder sonst sehr pflegebedürftig". Das soll jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht zum Thema gemacht werden

Die Menschen ”haben Angst davor, Objekt der Pflegeindustrie zu werden und sich dann dem Tod entgegenzuhandeln«, so die Formulierung von Heribert Prantl in seinem Artikel "Pflegenotstand verletzt systematisch das Grundgesetz", der bereits im November des vergangenen Jahres in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist und in dem er über die Erkenntnisse aus der Dissertation der Rechtswissenschaftlerin Susanne Moritz berichtet. Die Arbeit (vgl. dazu Susanne Moritz: Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen, 2013) kommt zu einem dramatischen Ergebnis: Die praktische Umsetzung des Pflegerechts in den Pflegeheimen unterschreite insgesamt offensichtlich "die Grenze zu einer menschenwürdigen Existenz". Susanne Moritz »zieht spektakuläre rechtliche Konsequenzen aus der desaströsen Situation, der unzureichenden Reaktion der Politik darauf und der gesetzgeberischen Untätigkeit: Der Staat verletzte mit seiner Untätigkeit seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen so massiv, dass der Weg zum Verfassungsgericht eröffnet sei.« Und genau dieser Weg soll nun beschritten werden.

Und zwar auf der Grundlage einer von Prantl in seinem Artikel bereits beschriebenen Schlussfolgerung der jungen Rechtswissenschaftlerin: »Die Verfassungsbeschwerden, so analysiert Moritz, können nicht nur die aktuell betroffenen Heimbewohner erheben; beschwerdebefugt seien alle potenziell später pflegebedürftigen Menschen - also jeder: "Eine solche Verfassungsbeschwerde wäre zulässig und hätte aufgrund der evidenten Schutzpflichtverletzung Aussicht auf Erfolg".«
Dieser - in der Fachdiskussion als durchaus "gewagt" apostrophierten - Gedankengang ist aufgegriffen worden, denn »nun will ein Münchner Anwalt die Politik zum Handeln zwingen - und die Mängel in Heimen vor das Bundesverfassungsgericht bringen«, berichten Sven Loerzer und Dietrich Mittler in ihrem Artikel "Aufschrei und Anklage". Sie verdeutlichen den Stellenwert, den gerade in der Pflege eine Stellvertreter-Klage hätte:

»Menschen, die umfassend auf Hilfe angewiesen sind und deswegen in einem Pflegeheim leben, sind wegen ihrer Erkrankungen oft selbst nicht mehr in der Lage, sich über Mängel in der Pflege zu beklagen oder gar vor Gericht zu ziehen. Wer es könnte, der schweigt lieber: Bei schlechtem Service kann man zwar von einem Tag auf den anderen ein Hotel wechseln, aber nicht ein Pflegeheim. Am Tag nach der Beschwerde kommt dasselbe Personal, ohne dessen Hilfe gar nichts geht. Auch die Angehörigen bleiben deshalb meist vorsichtig und zurückhaltend, wenn sie Versäumnisse und Mängel in der Pflege bemerken.«

Nun ist - wie bereits angesprochen - die Klage des direkt Betroffenen eigentlich eine zwingende Voraussetzung, um den Gang nach Karlsruhe machen zu können bzw. genauer: persönliche Betroffenheit und nach erfolglosen Klagen durch die Instanzen. Die kurz skizzierte Argumentation von Susanne Moritz eröffnet nun theoretisch die Möglichkeit, über eine Verfassungsbeschwerde als "potenziell später pflegebedürftige Menschen" angesichts der evidenten Schutzpflichtverletzung des Staates doch noch im Ergebnis eine stellvertretende Klage hinzubekommen.
Der Münchner Rechtsanwalt Alexander Frey von "Forum Pflege aktuell" will nun diesen Weg versuchen - während beispielsweise der Sozialverband VdK sich mit der Klage noch etwas Zeit lassen will, um sie sorgfältig vorzubereiten und sich nach einem Verfassungsrechtler umzuschauen. Was ist das für ein Mann, der nun nach Karlsruhe ziehen will?

»Seit fast vier Jahrzehnten steht Alexander Frey immer wieder mit an vorderster Front, wenn es darum geht, alle juristischen Mittel auszuschöpfen, um für behinderte und alte Menschen bessere Lebensbedingungen zu schaffen. In den Achtzigerjahren kämpfte er vor dem Verwaltungsgericht darum, dass sich Menschen mit Behinderungen nicht aus Kostengründen in Heime abschieben lassen mussten, sondern ausreichend Hilfe erhielten, damit sie in den eigenen vier Wänden leben konnten. Oft waren es langwierige Verfahren, nicht immer brachten sie Erfolg, aber immer war das Echo in der Öffentlichkeit gewaltig. Denn Frey hat sich nie im Grau geschliffener und wohl abgewogener rechtlicher Argumente verloren, sondern seine Schriftsätze ganz bewusst kräftig mit Emotionen aufgeladen, sehr zum Unwillen mancher Richter ... Den Staat endlich zu einem wirksameren Schutz von Heimbewohnern zu zwingen, diese Chance wittert Frey, der nach eigenen Angaben seit 1978 mehr als 100 Prozesse geführt hat, "in denen es um Unterlassung, Widerruf und Schadensersatzansprüche wegen kritischer Behauptungen zu Pflegemissständen oder um Minderung der Heimentgelte wegen ungenügender Pflege ging".«

Den Versuch, nun direkt vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, begründet Frey so: "Die Länge der Verfahren verhindert effektiven Rechtsschutz". Denn allein bis zwei Instanzen entschieden haben, vergehen oft vier bis fünf Jahre: "Das erlebt fast kein Pflegeheimbewohner." Zudem seien gebrechliche Menschen oft nicht in der Lage, das Prozesskostenrisiko gegen einen finanziell übermächtigen Gegner einzugehen. Das sind gewichtige Gründe.

Die Reaktionen in der Fachwelt sind ambivalent. Loerzer und Mittler berichten hierzu:

»Als "kühn" wertet der Freiburger Rechtswissenschaftler Thomas Klie die Thesen der Doktorarbeit ... Er betont aber: "Menschenrechtsverletzungen in Pflegeheimen sind empirisch belegbar." Im Ergebnis komme der Staat "vielerorts seiner Verantwortung, Bürger wirksam vor Menschenrechtsverletzungen und Gewalt zu schützen, nicht nach". Das Bundesverfassungsgericht könnte deshalb dem Gesetzgeber aufgeben, "seine Instrumente wirksamer und konsequenter zu gestalten und einzusetzen".«

Mittlerweile hat Alexander Frey mit Datum vom 09.01.2014 eine 21 Seiten umfassende Verfassungsbeschwerde formuliert. Insofern darf man gespannt sein, ob dieser Vorstoß etwas bewirken wird.

Aber dazu müsste das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde erst einmal zur Entscheidung annehmen. Im langjährigen Durchschnitt erwiesen sich nur 2,4 Prozent der eingereichten Beschwerden als erfolgreich. Und auch höhere Mächte sind relativ machtlos: Sogar ein Ausschuss der Vereinten Nationen hat die Bundesrepublik aufgefordert, die Situation in den Pflegeheimen zu verbessern. Doch geschehen ist seitdem nicht viel.

Aber Geschichte muss sich ja nicht immer wiederholen.