Rentner und Studenten dürfen nicht außen vor bleiben, wenn die Regierung 8,50 Euro flächendeckend als Mindestlohn festlegt. Zu diesem Schluss kommt der wissenschaftliche Dienst des Bundestags - und wirft damit verfassungsrechtliche Fragen auf. Das Gutachten kommt der Union äußerst ungelegen. Das meldet heute die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift "Gutachter warnen vor Ausnahmen beim Mindestlohn". Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags liegt der Süddeutschen Zeitung vor, berichtet Thomas Öchsner in seinem Artikel. Es wurden von der arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer, in Auftrag gegeben.
»Der allgemein verbindliche Mindestlohn sei eine Schutzvorschrift für Arbeitnehmer. Ausnahmen davon könnten "eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung darstellen, wenn die in Rede stehende Personengruppe zu den Arbeitnehmern zu zählen ist und sich von der allgemeinen Gruppe nicht so wesentlich unterscheidet, dass eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt wäre". Dies gelte prinzipiell auch für Saisonarbeiter, Rentner oder Studenten mit Arbeitsvertrag.«
Große Gruppen von den 8,50 Euro auszuschließen, berge die Gefahr, dass die Untergrenze "systematisch unterlaufen und ein neues Niedriglohnheer unterhalb des Mindestlohns gebildet wird", so zitiert Öchsner weiter aus dem Gutachten.
Das Argument der Ausnahme-Befürworter, nicht nur der Bayern, auch die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner hat sich dem angeschlossen, stellt ab auf den (angeblichen) "Zuverdienst"-Charakter der Beschäftigung von Studierenden oder Rentner, die deshalb nicht auf den Verdienst angewiesen seien wir jemand, der seinen Lebensunterhalt aus der Tätigkeit bestreiten muss. Genau das aber »wird in dem Gutachten jedoch als besonders problematisch angesehen: Der soziale Status und die Tatsache, dass es womöglich um einen Zuverdienst gehe, könne noch keine Abweichung vom Gleichheitsgrundsatz begründen.« Und eine derart begründete Herausnahme wäre nicht nur ein rechtliches Problem, sondern hätte auch quantitativ erhebliche Auswirkungen und daraus abgeleitet massive Verzerrungseffekte.
Um welche Größenordnungen es dabei gehen würde, habe ich bereits im Dezember des vergangenen Jahres in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite deutlich gemacht: "Der Mindestlohn und seine (potenziellen) Ausnahmen. Ab jetzt wird geredet und gefordert und verworfen" vom 16.12.2013.
Wenn man nach der bayerischen "Zuverdienst"-Philosophie Schüler, Studierende und Rentner aus der Mindestlohnregelung herausnehmen würde, dann muss man sehen, »dass eine solche Regelung dazu führen würde, dass 42% aller ausschließlich geringfügig Beschäftigten ("Minijobber") keinen Mindestlohn bekommen müssten - das wären 2,1 Millionen Minijobber von insgesamt 5,154 Millionen«. Apropos "Zuverdienst-These": Auf der Basis einer Studie des Statistischen Bundesamtes »konnte gezeigt werden, dass 33% der Schüler und Studierenden sowie 36% der Rentner unbedingt auf das Geld angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten«.
Und ich habe bereits damals durch ein Gedankenspiel auf die möglichen (und wahrscheinlichen) Implikationen einer solchen Differenzierung hingewiesen:
»Kann es irgendeine Begründung geben für die Tatsache, dass in einem Supermarkt die eine Minijobberin, weil sie studiert, geringer bezahlt werden kann als eine Hausfrau, die neben ihren Familienverpflichtungen einer ausschließlich geringfügigen Beschäftigung nachgeht und Anspruch hat auf den Mindestlohn? Von der Logik fällt es schwer, hierfür eine Erklärung zu konstruieren. Und daran anschließend: Welche Anreize werden auf der Seite der Arbeitsnachfrage, also bei den Unternehmen oder einem Teil von ihnen, gesetzt? Natürlich könnte man auf den naheliegenden Gedanken kommen, dass ein Teil der Arbeitgeber die Belegschaften zu "verjüngen" versuchen werden.« Und ergänzend mit Blick auf die Rentner: »angesichts der sinkenden Renten, auch aufgrund der Abschläge und des politisch gewollten Absenkend des Rentenniveaus, werden immer mehr "Ruheständler" auf eine ergänzende Aufstockung ihrer kargen Bezüge durch eine Erwerbstätigkeit angewiesen sein.« Die bieten sich dann ebenfalls vorrangig an für eine Beschäftigung, da sie den Vorteil des Ausnahmefalls mit sich bringen.
Abschließend: Das heißt nicht, dass es keinerlei Ausnahmen geben darf oder sollte: »Rechtlich unproblematisch sind laut dem Bundestags-Gutachten Ausnahmen bei ehrenamtlich Tätigen, Auszubildenden oder Praktikanten in der Ausbildung, weil es sich hierbei nicht um Arbeitnehmer handelt.« In die gleiche Richtung auch mein Plädoyer in dem Beitrag aus dem Dezember 2013: Dort habe ich argumentiert, dass »man nicht umhinkommen (wird), über Ausnahmetatbestände vom Mindestlohn zu sprechen und diese auch in die Welt zu setzen. Beispielsweise sollte das gelten für den gesamten Bereich der Ausbildungsvergütungen im System der dualen Berufsausbildung. Hierbei handelt es sich um eine "Hybridform" zwischen Arbeit und Lernen und die Ausbildungsvergütungen sind tarifvertraglich geregelt.« Das ist wohl mittlerweile auch in der Großen Koalition unstrittig.