Und nun berichtet die FAZ von einer überraschenden Verständigung auf einen Tarifvertrag: Die Vereinbarung für die rund 80.000 Beschäftigten sieht die Einführung eines verbindlichen Mindestlohnes von 7,75 Euro je Stunde zum 1. Juli 2014 vor, der dann bis Dezember 2016 in drei Stufen auf 8,75 Euro steigen soll.
Das ist insofern überraschend, als dass der Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro jetzt erst Anfang 2017 erreicht wird. Eigentlich soll ab dem 1.1.2015 nach dem Koalitionsvertrag die folgende Regelung gelten:
»Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG.« (Koalitionsvertrag, S. 68)
Hätte man mit Abwarten und Druck machen also ein besseres Ergebnis erreichen können?
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bestätigte auf Anfrage die Einigung im Grundsatz und kündigte nähere Stellungnahmen für kommende Woche an, aktuell findet man auf der Website der Gewerkschaft keine Stellungnahme. Man darf gespannt sein, wie diese Einigung erläutert wird. Derzeit kann man lediglich zurückgreifen auf die Pressemitteilung der Gewerkschaft vom 18.12.2013, nach dem Abbruch der zweiten Verhandlungsrunde mit den Arbeitgebern, die überschrieben wurde mit "Nicht um jeden Preis", in dem die NGG selbst hinweist auf die für sie tendenziell verbesserte Verhandlungssituation aufgrund der Regelung im Koalitionsvertrag:
»(So) haben sich mit der im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD festgeschriebenen Absicht, zum 1. Januar 2015 einen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen, die Rahmenbedingungen der Verhandlungen grundlegend geändert: So oder so: In einem Jahr werden die Arbeitgeber 8,50 Euro pro Stunde zahlen müssen - außer mit NGG würde anderes vereinbart.«
Und mit Blick auf das Scheitern der Verhandlungen noch im Dezember 2013 notieren die Gewerkschafter:
»Nach dem Willen der Arbeitgeber sollten ab dem 1. Juli 2014 8,00 Euro pro Stunde und in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 bundesweit 8,50 Euro gezahlt werden. Bedingung: Der Mindestlohn bleibt bis Ende 2018 bei 8,50 Euro festgeschrieben. Damit hätte der tarifliche Mindestlohn der Fleischbranche erst Monate nach der im Koalitionsvertrag verankerten Einführung des Mindestlohnes per Gesetz dessen Höhe von 8,50 Euro erreicht. Außerdem wäre er auf Jahre auf niedrigem Niveau „einbetoniert“ - völlig unabhängig davon, wie sich Verbraucherpreise, Preise für Energie und Benzin oder die Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes entwickeln.«
Vor diesem Hintergrund scheint die wesentliche Neuerung auf der Basis der nun bekannt gewordenen Tarifeinigung daraus zu bestehen, dass Anfang 2017 ein Mindestlohn von 8,75 Euro pro Stunde erreicht wird, den man dann weiter verhandeln kann, wobei wir derzeit nicht wissen, welche Laufzeit vereinbart worden sind bzw. vereinbart werden sollen.
Was kann diesen überraschenden Sinneswandel erklären?
Dietrich Creutzburg liefert in seinem Artikel den folgenden Erklärungsansatz:
»Im Herbst kam es dann zu einem ersten Anlauf, in dem auf Arbeitgeberseite ein niedersächsischer Regionalverband die Verhandlungen führte. Diese platzten aber am 17. Dezember. Zum nun doch erreichten Abschluss trug offenbar eine Initiative von Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer bei, die Federführung für die Fleischbranche auf die tarifpolitisch erfahrenere Arbeitgebervereinigung ANG zu übertragen. Deren Hauptgeschäftsführerin Valerie Holsboer und die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger hätten dann maßgeblich für den Durchbruch gesorgt, hieß es.«
Nun weiß jeder, der sich mit Tarifpolitik beschäftigt hat, dass sicher die persönliche Komponente auf beiden Seiten des Verhandlungstisches eine große Rolle spielt, mit welcher Qualität bestimmte Abschlüsse oder überhaupt einer erreicht werden. Aber das nur auf dieser Ebene greift zu kurz und man müsste das um zwei hier relevante Aspekte ergänzen:
- Zum einen spiegeln sich natürlich und unvermeidlich die realen in der jeweiligen Branche vorhandenen Kräfteverhältnisse zwischen (gewerkschaftliche organisierter) Arbeit und dem Kapital in den Verhandlungen wieder. Das erschließt sich jedem, wenn man die Unterschiede in der Verhandlungsposition beispielsweise von ver.di im Einzelhandel und der IG Metall im Bereich der Metall- und Elektroindustrie als ein Beispiel von vielen möglichen heranzieht. Und mit Blick auf die hier relevante NGG: Man tut dieser Gewerkschaft sicher nicht Unrecht, wenn man konstatiert, dass ihre realen Druckmöglichkeiten aufgrund des (freundlich formuliert) überschaubaren Organisationsgrades mehr als begrenzt sind, denn letztendlich entscheidet sich die Stärke einer Gewerkschaft im Konfliktfall an der Möglichkeit, eine ausreichende Zahl an Mitgliedern in den Belegschaften für eine Arbeitsniederlegung (oder eine glaubhafte Drohung mit einer solchen) gewinnen zu können. Das ist im Einzelhandel begrenzt, erst recht aber im Umfeld der Gewerkschaft NGG. Neben einem grundsätzlich nicht berauschenden Organisationsgrad der Arbeitnehmer in der Fleischindustrie kommt hinzu, dass gerade hier der oftmals beklagte massive Einsatz osteuropäischer Werkvertragsarbeitnehmer im Sinne einer Substitution einheimischer Fachkräfte die Konfliktposition der Arbeitnehmer zusätzlich erheblich schwächt, wenn nicht sogar völlig auslöscht. Das wissen natürlich auch die Arbeitgeber.
- Zumindest diskussionswürdig und vor dem Hintergrund der polarisierten Mindestlohndebatte nicht ohne Brisanz wäre der Aspekt, der hier in den Raum gestellt werden soll: Dass die Gewerkschaft NGG bei der nun vorliegenden Tarifeinigung im Wissen um die Situation eines Teils der Betriebe (vor allem der in Ostdeutschland) durchaus zugänglich ist für die Argumentation, dass ein (für die Arbeitgeber) "zu schneller" Schritt in Richtung Mindestlohn von 8,50 Euro eine gewisse Überforderung darstellen würde und man deshalb bereit war, eine gewisse Streckung und eine stufenförmige Anhebung des Mindestlohnes von den 7,75 Euro ab Juli 2014 ausgehend zu akzeptieren. Das wäre ein heikler Punkt auch deshalb, weil man dann zu der These kommen könnte, dass ein gesetzlicher Mindestlohn, wäre er von den Tarifvertragsparteien allein ausgehandelt, im Wissen um die (teil)betrieblichen Realitäten am Anfang vielleicht nicht die politisch gesetzte Marke von 8,50 Euro gerissen hätte, sondern darunter geblieben wäre. Aber diese Frage stellt sich nun nicht mehr.
Bereits am 30. November 2013 hatte ich hierzu in dem Blog-Beitrag "Anderthalb Schritte vor, ein Schritt zurück? Die Regelungen zum flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn im Koalitionsvertrag" formuliert: » Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von (dann) 8,50 Euro pro Stunde kommt definitiv - am 01.01.2017. Dann uneingeschränkt. Bis dahin - also während der kommenden drei Jahre - können aber Tarifvertragspartner in bestimmten Branchen, wenn sie denn wollen, Abweichungen nach unten vornehmen.«
Und genau das haben sie jetzt in und für die Fleischindustrie vor.
Insofern hat sich an meinem damaligen Fazit nichts geändert: » Fazit: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt - in Höhe von (dann) 8,50 Euro definitiv zum 01.01.2017. Zwischenzeitlich gibt es Abweichungsspielräume nach unten und überhaupt wird man noch über vieles reden wollen müssen.«