Es ist eine altbekannte, eigentlich abgedroschene Floskel, das alles mit allem zusammenhängt. Zuweilen aber hilft es, die Teilkomponenten dieser Zusammenhänge, die oftmals deswegen nicht gesehen werden, weil sie prima facie solitär daherkommen, aufzudecken und an ihnen zu lernen.
Hier geht es um die brodelnde Suppe eines zunehmenden Rückfalls in nationalstaatliche Egoismen, der angereichert wird mit zahlreichen gefährlichen Ingredienzien wie kulturellen und ethnischen Vor-Urteilen in Verbindung mit sozialen Polarisierungen innerhalb der Gesellschaft. Reden wir also beispielsweise über Großbritannien und dessen Premierminister David Cameron. Der hat ganz offensichtlich ein Europa- oder sagen wir korrekter ein EU-Problem, denn die ist auf seiner Insel in etwa so angesehen wie die Franzosen an sich. Also gar nicht. Das Problem für ihn ist: Das Vereinigte Königreich ist Mitglied der EU und als solches gebunden an die Grundrechte, die man sich innerhalb dieses institutionalisierten Teils der europäischen Völkerfamilie gegeben hat. Dazu zählt auch die Freizügigkeit der EU-Bürger innerhalb der EU. Dem Durchschnitts-Deutschen kommt das vor allem bei einer seiner Lieblings-Tätigkeiten zugute, also dem Urlaub machen in anderen Ländern, denn dann kann man einfach so über die imaginär gewordenen Grenzen reisen, wenn es sich um EU-Länder handelt. Das gilt aber auch für Arbeitskräfte auf der Suche nach ihrem ganz persönlichen Glück, das weniger was mit Sonne und badewannenwasserwarmen Mittelmeer zu tun hat, sondern mit Staaten, denen es ökonomisch besser geht als dem, aus dem diese Menschen weg gehen.
Was hat das nun alles mit David Cameron zu tun? Hier der Versuch einer ersten Auflösung: »Premier Cameron will die Niederlassungsfreiheit in der EU drastisch einschränken. EU-Kommission gibt sich zutiefst empört«, berichtet Ralf Sotscheck in seinem Artikel "Cameron basht die Osteuropäer". Der Hintergrund: "Die Freizügigkeit innerhalb der EU muss weniger frei sein." Das forderte der britische Premierminister David Cameron in einem Gastbeitrag für die "Financial Times". In diesem Beitrag - man muss sich die Sprache verdeutlichen - kündigt der britische Premier nun an, Einwanderern aus der EU drei Monate keine Sozialleistungen zu gewähren. Wer nach neun Monaten keinen Job habe, werde "entfernt". "Wenn die Leute nicht hier sind, um zu arbeiten - wenn sie betteln oder im Freien schlafen -, dann werden sie entfernt", heißt es in dem Text Camerons wörtlich. Er spricht in seinem Beitrag explizit über Rumänen und Bulgaren, die in Großbritannien ab 2014 volle Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen sollen.
Das sind nun keine neuen Töne, sondern es liegen zahlreiche Taten vor. Bereits im Mai dieses Jahres wurde beispielsweise in dem Artikel "EU-Kommission verklagt Großbritannien" berichtet: »Vielen EU-Bürgern werden in Großbritannien offenbar Sozialleistungen verweigert, die Briten zustehen. Die EU-Kommission verklagt das Land deshalb vor dem Europäischen Gerichtshof. Die britische Regierung verteidigt das Vorgehen: Man müsse das "Geld von hart arbeitenden Steuerzahlern sichern".« Cameron wird zum einen von der überaus starken antieuropäischen Haltung in seinem Land getrieben, zum anderen erklärt sich die Heftigkeit seines Vorstoßes mit der Tatsache, dass am 01.01.2014 die volle Freizügigkeit auch für Rumänien und Bulgarien gilt. Cameron will durchsetzen, dass das freie Niederlassungsrecht nur für Menschen aus Ländern gilt, deren Bruttoinlandsprodukt dem EU-Durchschnitt entspricht.
Und Cameron, der mittlerweile auch von der EU-Kommission hart angegangen wird, lässt nicht locker - und beruft sich auf Deutschland: Denn Cameron verteidigte sich, er sei nicht allein. Deutschland, Österreich und die Niederlande teilten seine Auffassung, so Carsten Volkery und Severin Weiland in ihrem Beitrag "Cameron setzt im Kampf gegen EU-Ausländer auf Deutschland". Die beiden Autoren fassen zusammen: »Erst will Großbritanniens Premier Cameron gegen arbeitslose EU-Ausländer vorgehen, jetzt plant auch Deutschland befristete Einschränkungen. Die Brüsseler Kommission ist entsetzt, selbst konservative Europa-Politiker warnen vor Rechtspopulismus.« Tatsächlich hatten die vier Länder bereits im April in einem gemeinsamen Brief die Belastung ihrer Sozialsysteme durch Migranten beklagt und die EU-Kommission aufgefordert, Abhilfe zu schaffen.
Damit wären wir auch schon in Duisburg angekommen, einer Stadt im Ruhrgebiet, die a) arm, b) pleite und c) auch noch bevorzugter Zielort für die Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien, hierunter vor allem von Sinti und Roma, ist. Die also jetzt schon erhebliche Probleme aufgrund der Konzentration der Folgen von Armutszuwanderung hat und irgendwie bewältigen muss, womit sie natürlich überfordert ist.
Zu welchen leider nur auf den ersten Blick skurrilen Konsequenzen das führen kann, lässt sich den Artikeln "Stadt Duisburg muss zwei Drittel der Ein-Euro-Jobs streichen" sowie aktuell "Arbeitsagentur in Duisburg feuert 1200 Ein-Euro-Jobber" entnehmen. Bisher 1.800 Stellen für Ein-Euro-Jobber in Duisburg werden 2014 auf 600 reduziert. »Grund dafür ist unter anderem gestiegener Personalbedarf in der Verwaltung aufgrund der erwarteten Antragswelle durch osteuropäische Zuwanderer.« Man benötige Geld für die Aufstockung der Leistungsabteilung, um zusätzliches Personal für die zu erwartende Antragswelle von Rumänen und Bulgaren einzustellen und um die beschlossene Tariferhöhung zu bezahlen. Immerhin 11 Mio. Euro zusätzlich, die man aus dem Topf für Eingliederungsmaßnahmen für Hartz IV-Empfänger, aus dem u.a. die Arbeitsgelegenheiten finanziert werden, nehmen müsse. Deshalb die radikale Kürzung auf nur noch 600 Ein-Euro-Jobs, dem faktisch letzten verbliebenen Instrument einer öffentlich geförderten Beschäftigung für Langzeitarbeitslose. »Wobei die 600 Stellen einen Jahresdurchschnitt darstellen. In der Realität werden es 500 Stellen sein, weil viele der bisher 1800 Arbeitsmaßnahmen noch in den Januar, Februar hinein gehen und deshalb auf das neue Haushaltsjahr angerechnet werden.« Welche ganz handfesten Auswirkungen das haben wird, verdeutlicht das folgende Zitat:
»Rund 100 Ein-Euro-Jobber betreiben in Duisburger Schulen die Büchereien. Ein Angebot, das wahrscheinlich drastisch reduziert werden wird. Auch die etwa 60 Ein-Euro-Jobber, die in Kindertageseinrichtungen beispielsweise beim Frühstück machen helfen, oder den Mitarbeitern in Jugendzentren unter die Arme greifen, wird es künftig wahrscheinlich nur noch drastisch reduziert geben.«
Man kann und muss es also so formulieren: Die Langzeitarbeitslosen, deren Mittel für die Eingliederung bereits seit 2010 drastisch gekürzt worden sind, werden also ihren Teil beitragen müssen zur Finanzierung der verwaltungstechnischen Folgekosten einer - erwarteten - weiteren Zuwanderungswelle aus den Armenhäusern der EU. Man könnte das auch Umverteilung ganz unten nennen.
Und was nun hat das mit dem Kindergeld in Offenbach zu tun? Auch Offenbach gehört zu den deutschen Kommunen, die von der Armutszuwanderung vor allem aus Bulgarien ganz besonders betroffen ist, was an der räumlichen Nähe zu Frankfurt liegt, denn Frankfurt zeichnet sich dadurch aus, dass es hier viele tausend Scheinselbständige geben soll, die vor allem auf dem Bau arbeiten, und deshalb wird Frankfurt auch als Hauptstadt der „Bulgarenindustrie“ tituliert (vgl. zu diesem Begriff und den Hintergründen den lesenswerten Beitrag von Katharina Iskandar "Alles was kommt").
Für Offenbach stellt sich nun folgendes Problem: » Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger aus Bulgarien hat sich in Frankfurt und Offenbach binnen eines Jahres verdoppelt. Die Stadt Offenbach fordert nun Hilfe bei der Bewältigung der Armutszuwanderung. Vor allem beim Kindergeld müsse sich etwas ändern«, so ein Bericht des Hessischen Rundfunks mit der Überschrift "Armutszuwanderung: Offenbach will neue Regeln für Migranten". Darin finden sich die folgenden Erläuterungen, warum hier das Kindergeld eine Rolle spielt:
»Im Kindergeldgesetz müsse das Residenzprinzip eingeführt werden, erläutert der Leiter des Amts für Arbeitsförderung, Statistik und Integration, Matthias Schulze-Böing: "Das ist bei allen anderen Sozialleistungen Standard." Man wisse von vielen Fällen, in denen Eltern Zahlungen für Kinder beantragt hätten, die überhaupt nicht in Deutschland lebten.
Mit der Gesetzesnovelle einhergehen müsse eine Aufstockung des Personals bei den Kindergeldkassen. "Aktuell können die gar nicht überprüfen, wo sich die Kinder aufhalten", sagt Schulze-Böing.«
Ganz offensichtlich wird hier auf einen angeblichen oder tatsächlichen Anreizeffekt für Zuwanderer abgestellt, wegen des Kindergeldes und seiner Höhe nach Deutschland zu kommen.
Der Problemdruck für eine Kommune wie Offenbach wird ebenfalls angesprochen. Zwar kenne man nicht die Gesamtzahl der Armutszuwanderer aus den beiden Ländern, gezählt werden aber die Hartz IV-Anträge:
»Im Juli 2012 bezogen demnach 221 Bulgaren in Offenbach Leistungen nach Hartz IV, im Juli dieses Jahres waren es 415. Bei den Rumänen stieg die Zahl innerhalb eines Jahres von 240 auf 340.«
Und auch Frankfurt hat offensichtlich zu tun:
Die Migranten aus Osteuropa »machen mittlerweile einen beträchtlichen Teil der rund 2.700 Menschen ohne festen Wohnsitz in der Stadt aus. Etwa 120 Menschen leben ganz auf der Straße, 77 stammen nach Angaben des Sozialdezernats aus Osteuropa. Hartz IV bezogen im Juli dieses Jahres 833 Bulgaren und 996 Rumänen. Anfang 2012 waren es erst 414 Bulgaren und 686 Rumänen.«
Man muss diese miteinander zusammenhängenden Entwicklungen sehen im Kontext der anstehenden Europa-Wahlen, die nicht nur in Deutschland am 25. Mai 2014 stattfinden werden. Die hier beschriebenen Entwicklungen und die dahinter stehenden Ressentiments wie aber auch die realen Probleme in einigen Städten bei uns, die natürlich eine große Rolle spielen in der Medienberichterstattung und damit auch als Problem in Gegenden diffundieren, die gar nicht betroffen sind von der Armutszuwanderung, werden gerade von den EU-kritischen Parteien aufgegriffen und von ihnen skandalisierend instrumentalisiert werden. Für Deutschland hätte das bedeuten müssen: Den besonders hart betroffenen Städten hätten Bund und Länder mit einem Sonderprogramm schon längstens zu Hilfe eilen müssen. Darüber wird jetzt irgendwie verhandelt, aber das kann dauern.
Es braut sich etwas zusammen - auch im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass der Zuwanderungsdruck in den reicheren Gesellschaften der EU auch von Seiten der "normalen" EU-Migration wie aber auch der steigenden Asylbewerber- und Flüchtlingszahlen erheblich zunehmen wird. Eine gefährliche gesellschaftspolitische Mixtur. Man hat derzeit nicht wirklich den Eindruck, dass die in ihrer eigenen Welt lebenden Entscheidungsträger im politischen Raum erahnen, was da auf uns zukommen könnte, wenn man nicht rechtzeitig und aktiv gegensteuert.
Nachtrag am 02.12.2013:
In der Online-Ausgabe der FAZ wurde Hans-Werner Sinn mit einem "Lösungsansatz" zu dem Thema zitiert in dem Artikel „Wir sind am Beginn einer neuen Migrationswelle“. Hintergrund ist eine Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, mit der einer einer rumänischen Familie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende („Hartz IV“) zugesprochen wurde. Das rumänische Ehepaar mit einem Kind lebt seit vier Jahren in Gelsenkirchen und hat zunächst vom Verkauf von Obdachlosenzeitungen gelebt und hat von Anfang an Kindergeld bezogen. Eigentlich schließt das Sozialgesetzbuch die Leistungen der Grundsicherung explizit aus für Menschen, die sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche hier in Deutschland aufhalten. »Diese Gesetzesbestimmung widerspricht jedoch nach Ansicht des Landessozialgerichts dem zwischen den EU-Staaten vereinbarten Gleichbehandlungsgebot, das ebenfalls Gesetzeskraft habe.« Dem Gericht zufolge kann und müsse „eine bestimmte Solidarität des aufnehmenden Staates Deutschland mit den anderen Mitgliedstaaten“ erwartet werden. Allerdings muss man auch sehen, was hier geurteilt wurde (übrigens ist das noch nicht rechtskräftig): »Unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit seien daher Regelungen erforderlich, „wonach abhängig von den individuellen Umständen Leistungen im Einzelfall jedenfalls ausnahmsweise möglich sein müssen“. (Az.: L 6 AS 130/13).« Es geht also keineswegs um generelle Leistungspflichten, sondern um die Einzelfallperspektive.
Aber Hans-Werner Sinn springt auf den anfahrenden Zug und fühlt sich bestätigt mit seinen Warnungen vor einer "Einwanderung in die Sozialsysteme und in den Wohlfahrtsstaat". „Die Zahlen werden zunehmen; wir sind am Beginn einer neuen Migrationswelle“, so wird er in dem FAZ-Artikel zitiert.
Sinn "sorgt" sich um das auch in diesem Blog-Beitrag angesprochene Grundrecht auf Freizügigkeit und er macht einen sicher hoch kontroversen, aber immerhin einen klaren Vorschlag:
„Um dieses Grundrecht zu erhalten, gibt es nur eine Möglichkeit: Man muss wegkommen vom Inklusionsprinzip und übergehen zum Heimatlandprinzip.“ Für steuerfinanzierte Sozialleistungen des Staates gilt nach Ansicht von Sinn: „Wer diese in seinem Heimatland in Anspruch nehmen kann, kann nicht in einem anderen Land die Hand aufhalten – aber er darf die Leistungen seines Heimatlandes konsumieren, wo er will.“
Das wird und das muss Diskussionen auslösen. Man darf gespannt sein.