Es ist immer wieder das gleiche Elend: Wenn Flüchtlinge im Mare Nostrum elendig ersaufen, dann richten sich für einen Moment die Scheinwerfer der medialen Aufmerksamkeit auf die Vorgänge im Mittelmeer, um nach kurzer Zeit dann wieder das Handy der Bundeskanzlerin oder andere mehr oder weniger gewichtige Themen auszuleuchten. Immerhin hat zwischenzeitlich der Name Lampedusa eine traurige Berühmtheit erlangt und mit temporären Schaudern ertappen sich viele Menschen dabei, auf der einen Seite irgendwie ein schlechtes Gewissen haben zu müssen angesichts des Elends der Flüchtlingswellen, die an die - andererseits für viele mit so schönen Urlaubserinnerungen verbundenen - Mittelmeerstrände zu gelangen versuchen und das oftmals mit ihrem Leben zahlen. Auf der anderen Seite gibt es da dieses Gefühl, Angst haben zu müssen vor "unkontrollierbaren" Flüchtlingsströmen aus den Tiefen Afrikas, denen unsere Gesellschaften nicht Herr werden könnte und die zu einer Überforderung und einer entsprechenden Radikalisierung vieler Menschen führen würde. Und ist es nicht auch so: Die Aufnahmefähigkeit Europas ist nun mal begrenzt? Sicher haben wir es hier mit einem letztendlich nicht auflösbaren Dilemma zu tun, aber das Pendel derjenigen, die in Europa Verantwortung tragen, hat sich längst in eine Richtung bewegt: Abschottung, Abwehr, Vermeidung weiterer Zuwanderung wo und wie es nur geht.
Über eine neue Episode in dieser unendlichen Geschichte berichtet Christian Jakob in seinem Artikel "Kehrt um, zurück nach Afrika" und was er da berichtet, das ist schon ganz harter Tobak:
»Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll in Zukunft auf dem Meer aufgegriffene oder aus Seenot gerettete Flüchtlinge direkt in Länder außerhalb Europas zurückschieben dürfen - ohne dass sie vorher einen Asylantrag stellen können. Auch das Stoppen, Durchsuchen und Abdrängen von Booten mit Papierlosen auf Hoher See, also außerhalb der europäischen Hoheitsgewässer, soll den Grenzschützern künftig ausdrücklich erlaubt sein.«
Die neuen Befugnisse sind Teil eines Reformvorschlags der EU-Kommission zur Neuregelung von Frontex-Operationen an den Seeaußengrenzen. Das Papier wird derzeit vom Europäischen Parlament beraten, die Regelung soll noch in diesem Jahr beschlossen werden, so Jakob.
Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet ausdrücklich das so genannte "Refoulement", also Zurückweisungen. Dem will die EU-Kommission Rechnung tragen, in dem sie darauf hinweist, dass die "Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen besonders berücksichtigt" werden - ohne dies, man kann es schon vermuten, in irgendeiner Art und Weise zu konkretisieren. Nicht wirklich beruhigend: Die Grenzbeamten sollen die Flüchtlinge "in geeigneter Weise" über die Zurückschiebung aufklären und ihnen eine Möglichkeit zum Widerspruch geben. Über die Widersprüche wird an Ort und Stelle entschieden - Rechtsschutz gibt es nicht.
Jakob weist in seinem Artikel darauf hin, dass die Kommission schon 2010 eine ähnliche Regelung erlassen hatte. Aber: Das EU-Parlament klagte dagegen beim Europäischen Gerichtshof - es fühlte sich nicht ausreichend beteiligt. Die Richter gaben den Abgeordneten recht.
Die Kommission will laut ihrem Entwurf alle an Frontex-Operationen beteiligten Einheiten künftig verpflichten, "jedem in Seenot befindlichen Schiff und jeder in Seenot befindlichen Person Hilfe zu leisten". Doch daraus wird möglicherweise nichts: Italien, Spanien, Frankreich, Zypern, Malta und Griechenland haben am 10. Oktober ein Papier verfasst, in dem sie die Streichung der Seenotrettungsklausel verlangen. Der Europäische Rat hat sich daraufhin diese Position zu eigen gemacht. Düstere Zeiten kommen auf die Flüchtlinge zu.
Damit nicht genug. In dem Beitrag "Spanien rüstet Grenze mit messerscharfem Draht gegen Flüchtlinge auf" von Ralf Streck wird berichtet, dass der Grenzzaun zwischen Marokko und der Exklave Melilla wieder mit scharfem Klingendraht versehen wird. Hintergrund: Auch die Flüchtlinge wissen von den verheerenden Bootsunglücken im Mittelmeer. Deshalb versuchen seit 2012 auch wieder verstärkt Flüchtlinge, die Grenzzäune zu den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta zu überwinden, die sich umschlossen von Marokko auf dem afrikanischen Kontinent befinden. Allein von Januar bis September sollen das 3.000 Menschen versucht haben, doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Und gut der Hälfte sei es gelungen, die Zaunanlagen zu überwinden. Deshalb werden die Grenzzäune wieder mit messerscharfem Klingendraht ausgerüstet.
»Dabei war der "Natodraht" erst 2007 aus "humanitären Gründen" an den Grenzen zu Ceuta und Melilla abgenommen worden. Beim Versuch, mit selbstgebauten Leitern und Teppichen damals den Doppelzaun zu überwinden, hatten sich immer wieder Menschen zum Teil schwere Schnittverletzungen zugezogen, die bisweilen tödlich waren ... Dafür wurden die Zäune auf sechs Meter erhöht und ein dritter Zaun sowie eine elektronische Überwachung installiert.«
Es ist schon unglaublich bitter, was sich da im Vorfeld der Festung Europa alles abspielt.
»Auch auf dem Landweg hält das Flüchtlingssterben an, noch bevor sie an die Küste kommen, um einen Weg nach Europa zu finden. Die Wüste birgt tödliche Gefahren. Das wurde vergangene Woche ebenfalls dramatisch deutlich. Im Niger wurden gleich 92 verdurstete Flüchtlinge aufgefunden, die sich auf dem Weg in Richtung Spanien oder Italien befanden.«
Bitter aber wohl zutreffend die Schlussfolgerung von Ralf Streck: Es »wird klar, dass die Flüchtlinge selbst durch immer schärfere Maßnahmen nicht abgehalten werden können, die Wege werden nur immer gefährlicher und damit steigt der Blutzoll.«