In der Wirtschaftspolitik gibt es ein immer wiederkehrendes Ritual – im Frühjahr und im Herbst veröffentlicht eine Gruppe ausgewählter Wirtschaftsforschungsinstitute ihre so genannte "Gemeinschaftsdiagnose". Heute war es wieder soweit – das "Herbstgutachten 2013" wurde der Öffentlichkeit vorgestellt. Die eigentliche Funktion dieser Gutachten besteht darin, eine Prognose über die wirtschaftliche Entwicklung im laufenden sowie im kommenden Jahr vorzulegen. Immer wieder nutzen die beteiligten Wirtschaftsforschungsinstitute die Kommentierung der wirtschaftlichen Entwicklung, um zu einzelnen wirtschaftspolitischen Themen Position zu beziehen. So auch im diesjährigen Gutachten, das mit der Überschrift "Konjunktur zieht an — Haushaltsüberschüsse sinnvoll nutzen" eine frohe und eine gezielte Botschaft transportieren möchte. Bereits vor der offiziellen Veröffentlichung des Herbstgutachtens berichtete die Online-Ausgabe des Handelsblatts über wesentliche Inhalte des Gutachtens mit der knackigen Überschrift: "Wirtschaftsforscher lehnen Mindestlohn ab". Bei Einführung eines Mindestlohns könne es vor allem in Ostdeutschland zu einem beträchtlichen Abbau von Arbeitsplätzen kommen und diese bereits gestern vom Handelsblatt verbreitete Botschaft findet sich heute in vielen Tageszeitungen wieder.
Wenn man nun einen Blick in das mittlerweile im Original vorliegende Herbstgutachten wirft, dann wird man dort den folgenden Passus zum Thema Mindestlohn finden:
»Derzeit scheint unter den Parteien ein breiter Konsens darüber zu bestehen, in der nächsten Legislaturperiode Mindestlöhne beziehungsweise Lohnuntergrenzen einzuführen. In den Wirtschaftswissenschaften werden Mindestlöhne inzwischen differenzierter gesehen, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Mittlerweile liegen erste Analysen der Mindestlohn-Regelungen für einzelne Branchen in Deutschland vor. Sie ergaben keine gravierenden negativen Folgen für die Beschäftigung. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass es sich hierbei um Erfahrungen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen handelt, die zumeist für Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Regelungen enthalten. Ein einheitlicher, d.h. für alle Branchen und alle Regionen geltender Mindestlohn hätte wahrscheinlich deutlich negativere Folgen für den Arbeitsmarkt als die bisherigen Branchenverträge. So verdient in Ostdeutschland rund ein Viertel aller Arbeitnehmer weniger als der von manchen geforderte Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde; bei Einführung eines Mindestlohns in dieser Höhe könnte es dort zu einem beträchtlichen Stellenabbau kommen. Auch wären wohl kleine Betriebe stärker betroffen als große. Schließlich dürfen die Wirkungen eines Mindestlohns auf die personelle Einkommensver- teilung nicht überschätzt werden« (S.56)
Das nun wiederum klingt schon deutlich differenzierter und auch vorsichtiger als die markige Zitation im vorangegangenen Handelsblatt-Artikel. Und insgesamt ist die hier vorfindbare Art und Weise der Formulierung ein deutlicher "Fortschritt" gegenüber den bisherigen Verlautbarungen der Mainstream-Ökonomen in Deutschland, die sich immer wieder ablehnend gegenüber jeglicher Form von Mindestlohnregelungen ausgesprochen haben (an dieser Stelle übrigens im internationalen Vergleich selbst gegenüber den amerikanischen Ökonomen ziemlich isoliert) und grundsätzlich den Teufel des massiven Jobabbaus an die Wand gemalt haben. Eingeweihte werden sich an dieser Stelle sicherlich noch gut daran erinnern, dass beispielsweise das ifo-Institut vor noch gar nicht langer Zeit den Verlust von mehr als einer Million Jobs in den (politischen und medialen) Raum gestellt hatte.
Es ist natürlich ganz offensichtlich, warum die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem diesjährigen Herbstgutachten trotz aller mittlerweile vorliegenden differenzierten und teilweise gegenteiligen Befunde, was die Auswirkungen von Mindestlohnregelungen angeht, eine Warnung vor diesem Instrument der Arbeitsmarktpolitik so prominent zu platzieren versuchen, obgleich - wie hier durch die Zitation belegt - die eigentlichen Ausführungen im Gutachten selbst nur von sehr schlichtem Umfang sind. Denn mehr oder gar irgendwelche Belege findet man im vorliegenden Herbstgutachten nicht. Es geht um die derzeit (noch) laufenden Sondierungs- und (demnächst) Koalitionsbildungsgespräche zwischen Union und SPD, bei dem die Frage nach der Einführung eines gesetzlich einheitlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 € vor allem für die Sozialdemokratie von höchster Bedeutung ist. Genau auf diese Gespräche will man dahingehend Einfluss nehmen, die Einführung eines Mindestlohnes in dieser Höhe möglichst nicht zu vereinbaren. Dabei ist zwischenzeitlich die Entwicklung über diese Form der Fundamentalopposition schon längst hinweg gegangen: Wir haben mittlerweile – folgt man der aktuellen Presseberichterstattung – bereits die Phase der orientalischen Basarverhandlungen erreicht, wo die Union der SPD signalisiert, beim sozialdemokratischen "Herzensanliegen" Mindestlohn Entgegenkommen zu zeigen, wenn die SPD ihrerseits auf Steuererhöhungen verzichtet, was prompt den Protest von sozialdemokratisch-gewerkschaftlich orientierten Ökonomen ausgelöst hat: »Renommierte linke Ökonomen haben die SPD eindringlich davor gewarnt, bei Koalitionsverhandlungen mit der Union die Forderung nach Steuererhöhungen aufzugeben«, so die Berliner Zeitung in ihrem Artikel "Professoren fordern höhere Steuern".
Zurück zum eigentlichen Thema Mindestlohn. Zugespitzt könnte man formulieren, dass die Vorhersage von massiven Arbeitsplatzverlusten durch die Einführung eines Mindestlohnes im Prinzip auf äußerst modellhaften und damit die Komplexität der heutigen Arbeitsmärkte gar nicht mehr abbildenden Annahmen zu den Angebots-Nachfrage-Verhältnissen basieren. Sie folgen der reduktionistischen Logik, dass die Nachfrage nach Arbeit immer dann zurückgehen muss, wenn der Preis für das Angebot steigt, was ja passieren würde, wenn man einen Mindestlohn von beispielsweise 8,50 € in der Stunde einführt und davon Beschäftigte profitieren, die derzeit deutlich unter diesem Stundensatz verdienen. Aber die Wirklichkeit gerade auf den vielen unterschiedlichen Teilarbeitsmärkten folgt eben nicht dieser sehr einfach gestrickte Logik. Bereits die einfache gedankliche Berücksichtigung der Tatsache, dass die Löhne den Hauptbestandteil der privaten Konsumnachfrage bilden, mag verdeutlichen, dass man der einseitigen Kostenbetrachtung eines Mindestlohnes immer auch eine andere Dimension gegenrechnen muss. Letztendlich geht es hier um das ewige Dilemma des Doppelcharakters des Lohnes, der aus betriebswirtschaftlicher Sicht immer Kosten darstellt, die man gerne reduzieren will, der aber aus volkswirtschaftlicher Sicht gleichzeitig maßgeblich die Nachfrageseite determiniert.
Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig und nur redlich, wenn man den Mindestlohnbefürwortern ins Stammbuch schreibt, dass man den Mindestlohn nicht überfrachten sollte mit Erwartungen, die er nicht erfüllen kann. So wird immer wieder – ob bewusst oder unbewusst – behauptet, dass der Mindestlohn in der Lage sei, Armut zu verhindern, besonders gerne wird auf die Verhinderung von Altersarmut hingewiesen. Hier nun muss man allerdings bei einer halbwegs objektiven Betrachtung eine Menge Wasser in den Mindestlohnwein gießen. So wissen wir doch – um nur ein Beispiel zu nennen –, dass wir derzeit bei der bestehenden Rechtslage einen Mindestlohn von über elf Euro pro Stunde bräuchten, damit man eine gesetzliche Rente bekommen kann, die oberhalb von Hartz IV liegt. Und auch die immer wieder und völlig zurecht kritisierte und skandalisierte Problematik der "Aufstocker" würde nur teilweise durch einen Mindestlohn reduziert werden - denn der größte Teil der Aufstocker im Grundsicherungssystem arbeitet in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, die auch bei 8,50 Euro-Stundenlohn weiterhin aufstockende Leistungsansprüche generieren werden. Diese beiden Beispiele sind nun allerdings kein Problem des Mindestlohns, sondern zum einen der rentenrechtlichen Ausgestaltung der erwartbaren Leistungsansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung geschuldet (Stichwort Absenkung des Rentenniveaus) sowie der Tatsache, dass man mit einer geringfügigen Beschäftigung eben kein existenzsicherndes Einkommen verdienen kann.
Und bei aller Sympathie für die unbedingte Notwendigkeit, endlich eine nach unten verbindliche Lohnuntergrenze für die meisten Beschäftigungsverhältnisse einzuziehen, damit sich die Arbeitgeber nicht mehr der von Ihnen zu tragenden betrieblichen Kosten in Form einer Sozialisierung auf die Steuerzahler entledigen können, muss bei objektiver Betrachtung der vielen unterschiedlichen Fallkonstellationen gesehen werden, dass die Umsetzung dieses Vorhabens immer auch auf Schwierigkeiten stoßen wird beziehungsweise dass es Ausnahmen geben muss, man denke hier beispielsweise nur an die Vergütung der Auszubildenden in vielen Berufen des dualen Berufsausbildungssystems. Und natürlich wird es auch bei einem einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn immer wieder Versuche geben, diesen zu unterlaufen, beispielsweise durch unbezahlte Mehrarbeit, was wir ja bereits derzeit in vielen Branchen erleben müssen.
Und es gibt auch Wirtschaftsbereiche, in denen die wünschenswerte Durchsetzung der Mindestlohnvergütung vor großen praktischen Schwierigkeiten steht - der Taxibereich mag hier als Beispiel genannt sein. Die angestellten Fahrer, die möglicherweise entlassen werden, weil sie aufgrund der bestehenden, von den Kommunen festgesetzten Preise, nicht in der Lage sind, die notwendigen Umsätze zu erwirtschaften, um den Mindestlohn daraus zu finanzieren, können beispielsweise durch Solo-Selbständige substituiert werden, für die es überhaupt keine Vergütungsuntergrenze gibt. Wer sich differenzierter über das Thema informieren will, dem empfehle ich den Beitrag "Keine Allheilmittel gegen Armut. Vor- und Nachteile eines gesetzlichen Mindestlohns oder einer tariflichen Lohnuntergrenze" in der Sendereihe "Hintergrund" des Deutschlandfunks (DLF) vom 04.10.2013. Die Sendung kann hier als Audio-Datei abgerufen werden. Dort werden - gerade auch von grundsätzlichen Mindestlohnbefürwortern - notwendigerweise zu diskutierende Probleme und Schwierigkeiten, die mit der Einführung eines Mindestlohns verbunden sein werden, angesprochen und differenziert behandelt.
Schlussendlich – und das soll hier das Hauptargument bilden – brauchen wir aber eine Abkehr von der derzeit beobachtbaren Engführung auf die Frage nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Notwendig ist in der Arbeitsmarktpolitik ein Ansatz, der an mehreren Stellschrauben Veränderungen hervorzurufen versucht. An dieser Stelle passt es, dass parallel zu dem Herbstgutachten ausgewählter Wirtschaftsforschungsinstitute das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) einen eigenständigen Wirtschaftsausblick und eine Kommentierung der Wirtschaftspolitik veröffentlicht hat, in dem das Themenfeld Arbeitsmarktpolitik wesentlich differenzierter als das entfaltet wird, was es sein sollte: als Mehr-Ebenen-Politik im Sinne eines Bestandteils von Beschäftigungspolitik.
IMK: Krise überwunden? Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2013/2014 (= IMK-Report 86), Düsseldorf, Oktober 2013
In diesem Bericht finden wir auf den Seiten 30 und 31 folgende Hinweise auf die erforderlichen beschäftigungspolitischen Schritte: In den letzten beiden Jahren wurde der gesamtwirtschaftliche Verteilungsspielraum auch ausgeschöpft und dadurch trug die Lohn- und Gehaltsentwicklung in dem schwierigen Umfeld der Wirtschaftskrise im Euroraum erheblich zur Stabilisierung der Binnenwirtschaft in Deutschland bei. Dies muss nun aber auch mittelfristig stabilisiert werden.
»Entsprechend einer ... makroökonomisch orientierten Lohnpolitik sollten die gesamtwirtschaftlichen Lohnsteigerungen nicht nur in einzelnen Jahren, sondern generell den Verteilungsspielraum von Trendproduktivitätsfortschritt und Zielinflationsrate der EZB ausschöpfen.« Das wird sich allerdings nicht von allein einstellen, sondern dafür ist eine Re-Etablierung tarifvertraglicher Strukturen erforderlich: »So müssen das bestehende Tarifsystem stabilisiert und der Wildwuchs in nicht tarifgebundenen Bereichen durch eine Ausweitung des Tarifsystems eingedämmt werden.« Nach Auffassung des IMK »... ist eine breite Anwendung der Allgemeinverbindlicherklärung von zentraler Bedeutung für die Stabilität nationaler Tarifvertragssysteme«. Um das zu erreichen, müsse allerdings das Verfahren der Allgemeinverbindlichkeitserklärung in Deutschland reformiert werden. Denn tatsächlich ist der Grad der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen in den zurückliegenden Jahren gesunken.
»Wegen des anhaltenden Widerstands des Arbeitgeberdachverbandes BDA ist seit den 1990er Jahren Zahl und Geltung allgemeinverbindlicher Tarifverträge stark geschrumpft. Inzwischen gibt es sie fast nur noch im Friseurhandwerk und im Wach- und Sicherheitsgewerbe. Wichtig für die notwendige Wiederbelebung der Allgemeinverbindlichkeit wären neben einer Senkung des bisher erforderlichen Quorums von 50 Prozent die Abschaffung der Veto-Position des BDA und die stärkere Einbindung der Branchen-Tarifparteien in die Entscheidungsfindung. Deren Bereitschaft zur Einführung der Allgemeinverbindlichkeit ist zumeist deutlich größer«, so die Erläuterungen in einem aktuellen Beitrag im Magazin "Mitbestimmung".
Das IMK setzt als Zielgröße, dass die Mehrheit der Tarifverträge allgemeinverbindlich werden: »Letztlich kann nur ein als allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag einen ordnungspolitischen Rahmen für einen fairen unternehmerischen Wettbewerb ohne Lohnkonkurrenz schaffen«.
Erst an dieser Stelle kommt der Mindestlohn ins Spiel: »Ergänzend ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn notwendig, der verhindert, dass die Löhne in den Bereichen, in denen die regulative Grundlage eines Tarifvertrages fehlt, immer weiter nach unten ausfransen und der eine allgemeine Lohnuntergrenze bildet, auf der Tarifverträge aufbauen können.«
Die öffentliche Hand kann darüber hinaus durch die Generalisierung der bereits in einigen Bundesländern vorhandenen Tariftreuegesetze dafür sorgen, das zukünftig sichergestellt wird, dass flächendeckend bei öffentlichen Auftragsvergaben die Tariftreue eingehalten wird.
Auch die Fehlentwicklung eines wachsenden Niedriglohnsektors wird von IMK thematisiert, wobei die Wissenschaftler darauf hinweisen, dass vor allem bei den Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten die Niedriglohnproblematik ausgeprägt ist. Besonders hervorzuheben ist das IMK-Plädoyer für eine politischen Neugestaltung der Minijobs, die längst überfällig ist angesichts des Wissens hinsichtlich der verzerrenden Wirkungen dieser Beschäftigungsform, über das wir heute verfügen:
»Damit geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse nicht länger als Kostensenkungsinstrumente und zur Verdrängung von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen missbraucht werden können, sollten Minijobs sowohl im Haupt- als auch im Nebenerwerb abgeschafft werden. Ziel sollte ein einheitliches sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ab dem ersten Euro sein.«
Höchstens als Ergänzung könnten sich die IMK-Wissenschaftler dann ein System direkter Lohnzuschüsse für bedürftige Erwerbstätige mit niedrigen Erwerbseinkommen über das Steuersystem in Verbindung mit einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und einer Mindestförderschwelle ab beispielsweise 15 Erwerbsstunden pro Woche vorstellen (das IMK bezieht sich hier explizit auf den Beitrag von Herzog-Stein, A. / Sesselmeier, W. (2012): Alternativen zu Mini- und Midi-Jobs? Die Beispiele Frankreich und Vereinigtes Königreich, WSI-Mitteilungen, Nr. 1, S. 41-49).
Die Darstellung der Vorschläge des IMK sollten verdeutlichen, dass ein breiter beschäftigungspolitischer Zugang in den vor uns liegenden Jahren erforderlich ist - und dabei spielt der gesetzliche Mindestlohn eine Rolle, aber nur als Bestandteil in einem weit umfassenderen Puzzle an notwendigen Maßnahmen. Insofern sollte man nicht in die Falle laufen, alles auf die Frage eines Mindestlohnes und seiner Höhe zu fokussieren, sind dann doch die Enttäuschungen vorprogrammiert.