Freitag, 2. August 2013

Der deutsche Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz und der österreichische Blick darauf

Am 1. August 2013 ist in Deutschland der individuelle Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr in Kraft getreten und die Berichterstattung ist voll von scheinbaren Erfolgsmeldungen, was die Zahl der Betreuungsplätze für die unter dreijährigen Kindern und Kitas und der Tagespflege angeht (vg. hierzu aber Sell, S.: Das deutsche „Betreuungs(platz)wunder“. Einige kritische Anmerkungen zu den Erfolgsmeldungen am Vorabend des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr (= Remagener Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 06-2013), Remagen, 2013), aber auch von zahlreichen kritischen Berichten zum einen über fehlende Plätze, zum anderen auch über die Qualität bzw. Nicht-Qualität der Kleinkinderbetreuung.

Bei aller kritischen Distanz zu der Art und Weise der Umsetzung des Rechtsanspruchs in Deutschland - ein vergleichender Blick auf unsere Nachbarländer, was ja beispielsweise immer gerne in Richtung Frankreich oder die skandinavischen Länder getan wird, kann auch zeigen, dass Deutschland in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat bei dem Angebot an Betreuungsmöglichkeiten, gerade mit Blick auf die Schweiz oder Österreich. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, wie in Österreich das Inkrafttreten des Rechtsanspruchs beobachtet und bewertet wird.

"Recht auf Krippenplatz: Deutschland als Vorbild?" fragen Karl Gaulhofer und Ulrike Weiser in ihrem Beitrag. Sie beschreiben die große Differenz zu den deutschen Nachbarn: In Österreich »gibt es weder ein Recht auf Krippe noch konkrete Pläne, auch beim Kindergarten existiert ein Rechtsanspruch erst ab dem fünften Lebensjahr.« Und die rot-schwarze Koalition in Österreich zeigt sich auf Nachfrage abwartend, was einen möglichen österreichischen Rechtsanspruch angeht.

»Würde man schon jetzt einen Rechtsanspruch für später fixieren, würde der Ausbau wohl schneller gehen, sagt Sonja Blum, Wissenschaftlerin am Österreichischen Institut für Familienforschung. Das zeige die Erfahrung aus Deutschland.« Als Zielgröße wird auch für Österreich eine Quote von 35% genannt, die am Anfang des Ausbaus in Deutschland stand. Aktuell soll die Betreuungsquote bei 20,8% liegen. Wobei gleich auf eine Erfahrung hingeweisen wird, die wir in Deutschland schmerzhaft machen mussten: »Angebot schafft Nachfrage. Seit sich die Politik offensiv um den Ausbau der Betreuung bemüht, wurden die Bedarfsquoten mehrmals nach oben korrigiert. Der Kita-Ausbau hat einen gesellschaftlichen Wandel ausgelöst.«

Der Artikel von Gaulhofer und Weiser identifiziert richtigerweise drei zentrale Konflikte beim Kita-Ausbau in Deutschland: Quantität versus Qualität, die Finanzierung sowie das Betreuungsgeld.

"Wir brauchen ein Recht auf gute Kindergärten", so das Plädoyer von Christoph Schwarz in seinem Leitartikel. Der Ausbau in Österreich, so Schwarz, wäre wünschenswert, aber zuvor braucht es ein Umdenken, denn viele sehen die Kindergärten als bloße Aufbewahrungsstätte. Er lobt den deutschen Weg: »Das Erfrischende an dem deutschen Vorstoß ist, dass es ausnahmsweise einmal nicht um eine Pflicht – wir erinnern uns an die immer wiederkehrende Debatte um die Kindergartenpflicht – geht, sondern um ein Recht, eine garantierte Leistung in Anspruch nehmen zu können. Die deutsche Politik zollt mit der Maßnahme zugleich der veränderten gesellschaftlichen Realität Tribut.« Soweit die positive Bewertung, er adressiert allerdings auch eine wichtige Kritiklinie: »Der rasante Ausbau der Krippenplätze, den Deutschland derzeit vornimmt, lässt den Verdacht aufkeimen, dass es sich bei dem Konzept eben nur um eine bloße Arbeitsmarktmaßnahme handelt. Die pädagogischen und bildungspolitischen Aspekte, die einer derartigen Entwicklung zwingend innewohnen müssten, scheinen dabei im Hintergrund zu stehen. Oder wer würde – wie in Deutschland nun der Fall – sein zweijähriges Kind gern in einer notdürftig umgebauten Kfz-Werkstatt oder ein paar Containern betreut sehen?« Schwarz sieht die Ursache für diese Schattenseite darin, dass sich immer noch nicht das Verständnis durchgesetzt hat, dass die Kindertageseinrichtungen mehr sind als eine bloße Aufbewahrungsstätte: » Der Gedanke vom Kindergarten als „erster Bildungseinrichtung“, der in der Wissenschaft mittlerweile als unumstritten gelten kann, hat es noch nicht in die Gesellschaft geschafft.« Und er verweist auf eine aus dieser Unterbewertung resultierende strukturelle Problematik, die wir auch in Deutschland zur Genüge kennen und diskutieren:

»Das spiegelt sich in Österreich nicht zuletzt im gelinde gesagt letztklassigen Umgang mit den Kindergartenpädagoginnen wider ... den wir hierzulande immer noch an den Tag legen. Während es den Lehrern gelungen ist, sich dank starker Gewerkschaft zu zentralen Gestaltern ihrer eigenen Arbeitsbedingungen aufzuschwingen, verhält es sich bei den Kindergärtnerinnen genau umgekehrt.
Die Bezahlung ist schlecht. Um eine neu gestaltete Ausbildung auf akademischem Niveau hat die Regierung die Kindergärtnerinnen ebenfalls betrogen. Sie reformierte die Lehrerausbildung, teilte den Kindergärten in letzter Sekunde aber mit, dass sie beim neuen Konzept (entgegen früheren Versprechungen) nicht mit an Bord seien.«

Bereits diese Hinweise deuten an, dass es zahlreiche Ähnlichkeiten hinsichtlich der strukturellen Probleme zwischen Deutschland und Österreich gibt, immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Österreicher der deutschen Entwicklung noch erheblich hinterherhinken. Auf diesen Tatbestand verweist auch der Artikel "Der Kindergarten als ewiger Problemfall" von Julia Neuhauser und Jakob Zirm. Sie gehen davon aus, dass sich in Österreich für die Kleinsten in absehbarer Zeit wenig tun wird und beschreiben dann die strukturellen Probleme im Bereich der Betreuung der 3- bis 6-Jährigen in Österreich. Und ihre Auflistung kann man eins zu eins auf Deutschland übertragen. Sie formulieren die Schwachstellen in acht Punkten:

1. Das Betreuungsverhältnis in den heimischen Kindergärten lässt zu wünschen übrig.
»Als „Massenkindhaltung“ bezeichnet Raphaela Keller, die Vorsitzende der „Berufsgruppe Kindergarten- und HortpädagogInnen Wiens“, das, was in den heimischen Kindergärten passiert. Häufig ist eine einzige ausgebildete Kindergartenpädagogin (in der Regel sind es Frauen) für 25 Kinder zuständig. Wenn sie Glück hat, hilft eine Assistentin, oft aber auch nicht.«
2. Die Bezahlung der Kindergärtnerinnen ist schlecht. Der Job dadurch wenig attraktiv.
»Zwischen 1700 und 2200 Euro brutto im Monat verdienen die Pädagoginnen – je nach Bundesland –, wenn sie in den Beruf einsteigen.«
3. Die Ausbildung wird noch lange nicht auf akademischem Niveau stattfinden.
»Eigentlich sollte mit der „PädagogInnenbildung neu“ nicht nur die Lehrerausbildung, sondern auch die der Kindergartenpädagoginnen reformiert werden. Geworden ist daraus nichts. Die Ausbildung wird weiter an den Bakips stattfinden ... Ein Grund – neben dem fehlenden Geld: Derzeit gibt es in Österreich nur eine einzige Uni-Professur für Elementarpädagogik.«
4. Die Kindergartenpädagoginnen haben keine politische Lobby.
»Gemessen an ihrer Zahl müssten die Pädagoginnen ... eigentlich durchschlagskräftiger sein: Fast 52.000 sind es, und damit mehr als doppelt so viele wie etwa AHS-Lehrer. Doch während die Gewerkschaft Letzterer die Regierung und auch die Öffentlichkeit mit den ständigen Diskussionen über das Lehrerdienstrecht auf Trab hält, ist die Situation der Kindergartenpädagoginnen kaum jemals Thema.«
5. Es fehlt ein Bundesrahmengesetz. Durch die Länderkompetenz wird vieles erschwert.
6. Das Angebot in den Bundesländern ist höchst unterschiedlich – teils mangelhaft.
7. Gute Kindergärten kosten Geld. Geld, das Länder und Gemeinden oft nicht haben.
8. Bei Kindergärten stellt sich die oft Frage, ob das Geld nicht effizienter einsetzbar wäre.

Diese acht Punkte fokussieren auf die strukturellen Herausforderungen, denen wir uns auch in Deutschland gegenüber sehen. Sie sind - nicht wirklich überraschend - häufig Folgeprodukte aus der föderalen Verfasstheit der (Nicht-)Entscheidungs- und (Nicht-)Zuständigkeitsstrukturen, von denen wir in Deutschland ein Lied singen können.