Es ist ein mittlerweile fast schon antiquiert daherkommender Begriff, dessen Inhalte aber von existenzieller Bedeutung für uns als Bürger sind, was man meistens erst dann merkt, wenn diese Inhalte immer leichter und weniger werden, was zumeist ein fließender Prozess ist: Die Rede ist hier von der Daseinsvorsorge. »Daseinsvorsorge ist ein verwaltungsrechtlicher Begriff, der auch in der politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Er umschreibt die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein menschliches Dasein als notwendig erachteten Güter und Leistungen − die so genannte Grundversorgung. Dazu zählt als Teil der Leistungsverwaltung die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen für die Allgemeinheit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser-, und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Bäder usw.«
Eine kurze Reminiszenz sei an dieser Stelle vor dem Übergang zur aktuellen Debatte erlaubt: In der ursprünglichen Dogmatik des Verwaltungsrechts gab es nur die Eingriffsverwaltung, die dem Bürger ein Tun, Dulden oder Unterlassen aufgibt und ihn in seiner freien Entfaltung eingrenzt, beispielsweise zur Gefahrenabwehr. Es war Ernst Forsthoff, der in seiner 1938 in Königsberg erschienenen Schrift "Die Verwaltung als Leistungsträger" diese auf Eingriffsverwaltung fokussierte Dogmatik um das Konzept der Leistungsverwaltung erweiterte, mit dem das Verhältnis des Einzelnen zum leistungsgewährenden Staat bestimmt werden sollte. Damit hat sich also ein Mann als Geburtshelfer dieses wichtigen Begriffs betätigt, das sei hier der Vollständigkeit halber angemerkt, der vor allem über sein bekanntestes, 1933 veröffentlichte Werk - "Der totale Staat" - neben Carl Schmitt, Karl Larenz, Theodor Maunz, Herbert Krüger u.a. zu den Juristen gehörte, die versucht haben, dem Nationalsozialismus eine staatsrechtliche Legitimation zu verschaffen. Nach dem Ende der NS-Zeit konnte er wie viele andere auch seine professorale Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen, u.a. auch als Kommentator unseres Grundgesetzes. Und mit Blick auf das Grundgesetz für die Sozialpolitiker erneut relevant sind seine Beiträge in der Debatte um die Begriffe Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit und deren Zusammenspiel im Verfassungsrecht.
Forsthoff hat auf die Notwendigkeit, dass dem Einzelnen Teilhaberechte an Leistungen der Daseinsvorsorge zustehen müssen, hingewiesen. Als Daseinsvorsorge ist demnach die "leistungsgewährende Betätigung des Staates" zu verstehen, um die Teilhaberechte der einzelnen Bürger einlösen zu können - wenn wir an die gegenwärtige Debatte über Inklusion und die Realisierung von Teilhabe für behinderte Menschen denken, dann erkennt man, dass der so verstandene Begriff nichts an Aktualität eingebüßt hat, ganz im Gegenteil markiert er eine der sicher größten Baustellen der vor uns liegenden Jahren, wenn man denn Inklusion als das versteht, was es ist: ein revolutionäres Konzept aus Sicht der bestehenden Strukturen.
Aber zurück zu dem "klassischen" Verständnis von Daseinsvorsorge, wie er bei Forsthoff und seinen Nachfolgern viele Jahrzehnte präsent und verankert war: Für die Sicherstellung der Daseinsvorsorge braucht man "slebstverständlich" eine funktionierende, soll heißen eine leistungsfähige Verwaltung. Auf die Idee, die mit Daseinsvorsorge verbundenen Aufgaben an private Unternehmen auszulagern, wäre man lange Zeit sicher nicht gekommen und die Versuche in diese Richtung, die wir vor allem seit den 1990er Jahren erleben, sind ja mehr als ambivalent zu bewerten, um das mal vorsichtig auszudrücken.
Und genau um eine funktionierende "Leistungsverwaltung" soll es hier gehen. Denn diese - das zeigen die chaotischen Entwicklungen, die wir derzeit bei der Bahn rund um den Hauptbahnhof Mainz erleben müssen, die man aber nur als oberste Spitze eines weitgehend nicht-sichtbaren Eisberges verstehen muss - wird immer offensichtlicher in Frage gestellt. Denn aus unterschiedlichen Gründen ist die Leistungsfähigkeit der Leistungsverwaltung substanziell beschädigt (worden). So die These von Carsten Brönstrup in seinem Artikel "Öffentlicher Dienst schlägt Alarm wegen Personalmangel": »Die Bahn ist kein Einzelfall. Auch bei der Polizei, in Kliniken, bei Feuerwehr und Verwaltungen fehlt nach Jahren des Sparens das Personal. Für die Bürger wird das allmählich gefährlich.« Für Brönstrup ist der Engpass bei der Bahn kein Einzelfall. Überall im öffentlichen Bereich hat sich der Staat in den vergangenen Jahren zurückgezogen und beim Personal bis zur Schmerzgrenze gespart. Nach Jahren des Sparens tun sich immer mehr Lücken auf - bei der Polizei, bei der Feuerwehr, in Schulen und Kitas, im Gesundheitssektor und damit in Bereichen, die für uns Bürger von existenzieller Bedeutung sind.
Ganz offensichtlich laufen wir systematisch in eine doppelte Falle hinein: Zum einen fehlt es vorne und hinten an Personal aufgrund der Kürzungen in der Vergangenheit, zum anderen aber steht aufgrund der Altersstruktur eine große Pensionierungs- bzw. Verrentungswelle bevor, die für sich genommen schon einen erheblichen Ersatzbedarf auslöst.
Zum Aspekt Demografie ein Blick auf Berlin:
»Seit der Wende halbierte der Senat die Zahl seiner Bediensteten auf nun noch gut 105.000 Stellen. Folge: Das Durchschnittsalter liegt bereits bei 50 Jahren. Bis 2018 wird jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst in den Ruhestand gehen. Schon jetzt sei das Personal so knapp, dass etwa die Feuerwehr immer länger brauche, bis sie am Einsatzort eintreffe, heißt es bei den Gewerkschaften. Bei jedem zweiten Einsatz dauere es länger als acht Minuten.«
Brönstrup beleuchtet einige Felder der Daseinsvorsorge beispielhaft:
»Beispiel Polizei: „In den vergangenen Jahren hat es einen rasanten Kahlschlag gegeben“, sagt Rainer Wendt, der Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. „10 000 Stellen sind in den vergangenen 15 Jahren bundesweit abgebaut werden, die müssten wieder aufgebaut werden“, sagte er dem Tagesspiegel. Doch danach sieht es nicht aus, vor allem nicht in Ostdeutschland: Dort sollen in den nächsten fünf Jahren Wendt zufolge noch einmal 9000 Stellen wegfallen. „Die Polizei zieht sich dort aus der Fläche zurück. Wir haben Sorge, dass sich andere Faktoren als Ordnungskräfte aufspielen, Rechtsextreme zum Beispiel.“«
Ein weiteres Beispiel wären die vielen fehlenden pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen - und das angesichts der Tatsache, dass der Staat erst vor kurzem den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz auf die unter dreijährigen Kinder erweitert hat.
»Um fast ein Drittel ist der Personalbestand des Staates seit 1991 zurückgegangen. Schlank sollte das Gemeinwesen sein, das war die Maxime. Die Arbeitsdichte und der Stress haben so überall deutlich zugenommen«, so Brönstrup. Übrigens hat dieses Kaputtsparen auch volkswirtschaftlich negative Effekte, die man beispielsweise beobachten konnte, als der Staat 2009 im Jahr der Krise ein umfangreiches Konjunkturprogramm aufgelegt hat, das u.a. erhebliche Bauinvestitionen in den Kommunen beinhaltete. In der Praxis verzögerte sich trotz der verfügbaren Mittel dann die Realisierung der Bauvorhaben, weil in vielen Kommunen die Bauämter schlichtweg auf der allerniedrigsten Sparflamme gefahren werden, die dem zusätzlichen Ansturm einfach nicht gewachsen waren.
Ein weiteres, durchaus unappetitliches Beispiel aus dem Artikel von Brönstrup:
»Sogar beim Essen spüren die Bürger die Folgen des Spardiktats: Die Zahl der Lebensmittelskandale häuft sich, weil es an Kontrollen fehlt. „Um Irreführungen und Täuschungen aufzudecken, bräuchten wir mindestens 1.200 bis 1.500 zusätzliche Kollegen“, sagt Martin Müller, Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure. In Berlin etwa sei ein einziger Kontrolleur für bis zu 1.200 Betriebe zuständig. „Da können wir einfach nicht mehr den nötigen Druck machen. So ist der nächste Lebensmittelskandal programmiert“, befürchtet Müller.«
In den Krankenhäusern sieht es nicht besser aus. Bundesweit müssten 162 000 Kräfte eingestellt werden, urteilt die Gewerkschaft Verdi. 70 000 Stellen davon entfallen auf das Pflegepersonal.
Eine bessere Ausstattung der Leistungsverwaltung mit Personal würde Geld kosten. An dieser Stelle kommt dann immer reflexhaft die Frage, woher dieses Geld denn kommen soll. Eine - mögliche - Antwort wird uns von Brönstrup mit auf den Weg gegeben, indem er den Chef der Deutschen Steuergewerkschaft, Thomas Eigenthaler, zitiert:
„Jeder neu eingestellte Finanzbeamte bringt ein Vielfaches dessen ein, was er kostet“, sagt er. Ein Betriebsprüfer im wirtschaftsstarken Bayern etwa erhöhe die Steuereinnahmen um mindestens 1,5 Millionen Euro im Jahr, ein Fahnder um eine Million. Doch kaum ein Finanzminister lässt einstellen. „Wir bräuchten im Minimum 11.000 bis 15.000 neue Leute“, fordert Eigenthaler. Wer bei der Einnahmen-Verwaltung spare, spare auch bei den Einnahmen. Was sich auf dem Mainzer Bahnhof abspiele, geschehe in den Finanzämtern jeden Tag. „Wir haben ein Dauer-Mainz – nur interessiert sich dafür niemand.“«