Hier soll aber eine andere Seite der "Armutsdebatte" angesprochen werden: die "öffentliche Armut", also die (durch finanzpolitische Entscheidungen zumeist selbst hergestellte) "Armut" der öffentlichen Hand, die sich ganz handfest in Kürzungsaktionen des Staates manifestiert. Die neueste Ausprägung auf der Ebene der Bundesländer kann man in Nordrhein-Westfalen besichtigen - unter dem Motto: Schluss mit Buddelei in der Vergangenheit: "Leere Kassen: NRW streicht Archäologen alle Gelder". Die Ansage des Landes ist klar und die Folgen auch: "Bis 2015 will sich das Land Nordrhein-Westfalen ganz aus der Finanzierung der Archäologie zurückziehen. Statt wie sonst rund zwölf Millionen Euro plant das Land, im kommenden Jahr lediglich 3,3 Millionen Euro zur Archäologie und Baudenkmalpflege beizusteuern. Im Jahr 2015 soll es dann gar keine Mitfinanzierung seitens des Landes mehr geben. Die Folgen: Neue Funde können kaum noch gemacht, bearbeitet und publiziert werden, alte Funde vergammeln ohne entsprechende Pflege in den Magazinen und Museen."
Fachleute aus ganz Deutschland sind entsetzt. Kulturstaatsminister Neumann spricht von einer "kulturpolitischen Bankrotterklärung", so die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel mit dem brachialen Titel "Das archäologische Kulturerbe ist bedroht". Aus einer systematischen Sicht "interessant" am vorliegenden Fall ist die Tatsache, dass sich das Land vollständig zurückziehen will aus der Mitfinanzierung eines Handlungsfeldes, bislang kürzt man im Wesentlichen anteilig, auch wenn eine 30%-Kürzung bei kleinen Einheiten oder Projekten zum Gesamt-Tod führen können und oft auch führen. Wobei man sich schon fragt, was hier wen geritten hat, den der Anteil der Archäologie-Förderung am Landeshaushalt ist nun wirklich im molekularen Bereich und damit wird man sich nicht vom Schuldenberg herunterkommen - zugleich hat der Ausstieg eines Mitfinanziers wie des Landes erhebliche Kollateralschäden, auf die in dem Artikel der Süddeutschen Zeitung hingewiesen wird, denn "... der Wegfall der staatlichen Zuschüsse (wird) zudem dazu führen, dass weitere Geldquellen versiegen: 'Stiftungsgelder fließen in vielen Fällen nur, wenn auch das Land ein Projekt mitfinanziert. Somit würden beispielsweise Gelder der Deutschen Stiftung Denkmalschutz hier ausfallen und in andere Länder fließen.' Angesichts der kommunalen Finanznot könnten auch die Städte und Gemeinden nicht einspringen, wenn sich das Land aus der Finanzierung zurückziehe."
Die Parteien laufen sich warm für den beginnenden Bundestagswahlkampf und in diesem werden Arbeitsmarktthemen eine große Rolle spielen, ob nun rund um das Themenfeld Mindestlohn/Lohnuntergenzen oder beispielsweise um die "Minijobs" herum, die landläufig als "400-Euro"- bzw. seit Jahresbeginn als "450-Euro-Jobs" bezeichneten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
Hier haben sich die Grünen diese Tage zu positionieren versucht - und leisten damit eine Art "Vergangenheitsbewältigung", denn die massive Ausweitung dieser mehr als begründungspflichtigen Sonder-Beschäftigungsform ist eines der Ergebnisse der rot-grünen "Arbeitsmarktreformen" der Schröder-Regierung. Nun also können wir in der Süddeutschen Zeitung lesen "Grüne wollen Ende der Minijobs", der ebenfalls an die zeitgeschichtliche Verantwortung der Grünen erinnert. "Minijobs sollten eine Wunderwaffe gegen Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit sein. Manchmal aber erfüllen sich Hoffnungen nicht. Schlimmer noch: Die Wirkung kann genau umgekehrt sein." Man muss anerkennen, dass Teile der Grünen daraus offensichtlich Konsequenzen ziehen wollen, die sehr weitreichend wären: "Die Grünen wollen ... den Niedriglohnsektor neu organisieren. Ein Bestandteil ist die faktische Abschaffung der Minijobs. Sozialversicherungsfrei sollen lediglich Monatsverdienste bis 100 Euro sein." Im Bundestagswahlprogramm der Grünen wird eine Sozialversicherungspflicht ab einhundert Euro gefordert. "Allerdings soll mit den Minijobs nicht von heute auf morgen Schluss sein. Auf der grünen Prioritätenliste ganz oben steht zunächst die Einführung eines gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohns. Dann soll in den Betrieben die Anzahl von Minijobbern begrenzt werden, die dort außerdem auch nur eine bestimmt Anzahl Arbeitstunden leisten dürfen. Erst in einem weiteren Reformschritt soll die Sozialversicherungspflicht ab 100 Euro eingeführt werden."
Als "Politik mit grobem Keil" bewertet Detlef Esslinger in seinem Kommentar, der ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung erschenen ist, die Idee der Grünen: "Die Grünen halten Minijobs als Brücke aus der Langzeitarbeitslosigkeit in reguläre Arbeitsplätze für gescheitert. Die Arbeitgeber pochen auf den flexiblen Einsatz von Minijobbern in Spitzenzeiten, der auch die Jobs der Festangestellten sichere. Das Kuriose ist: Beide haben recht", so Esslinger. Während er einerseits zeigt, dass er die fatalen Anreizwirkungen durch die Existenz der Minijobs in einer zumindest diskussionswürdigen Art und Weise als eine freie Wahlentscheidung der Betroffenen individualisiert ("Viele Kellner, Putzleute oder Verkäuferinnen wollen gar keine andere Tätigkeit - es reicht ihnen, wenn sie auf diese Weise etwas hinzuverdienen: weil sie eigentlich studieren oder in Rente sind, weil ihr Lebensmittelpunkt bei Haushalt und Kindern liegt oder weil sie bereits einen auskömmlichen Job haben"), bringt er eine andere hoch problematische Mechanik durch die Minijobs auf den Punkt: "Das Flexibilitäts-Argument, die Unterscheidung von Grundlast und Spitzenzeiten, ist ja richtig - niemand zum Beispiel wird dem Betreiber einer Skihütte zumuten, außerhalb der Ferien genauso viel Personal vorzuhalten wie am Osterwochenende. Richtig ist aber auch, dass es einen Trend gibt: weg von Vollzeit- oder Zwei-Drittel-Teilzeitjobs, hin zu Minijobs. Wo dies so ist, sind die Minijobs gar nicht darauf angelegt, Beschäftigten auf dem Weg zu einer regulären Stelle zu helfen. Sondern es bedienen sich Arbeitgeber einer Reservearmee, die mittlerweile auf knapp sieben Millionen Menschen angestiegen ist ... Ohnehin kommt einem das Flexibilitäts-Argument sehr bekannt vor. Genau damit haben Arbeitgeberverbände immer für die Leiharbeit gefochten - zugleich aber haben etliche Firmen die Gelegenheit genutzt, auf diese Weise eine zweite Lohnkostenlinie einzuführen." Seine Schlussfolgerung ist gerade aufgrund dieser Analogie zur Leiharbeit eine interessante: "Die Konsequenz daraus war nicht ein Verbot der Leiharbeit. Aber sie wird allmählich strenger reguliert. Ähnlich dürfte es bei den Minijobs kommen." Man wird sehen.
Möglicherweise fallen also Minijobs weg - was ganz sicher wegfallen soll sind Arbeitsplätze bei der Bundesagentur für Arbeit (BA): "Arbeitsagentur streicht 10.000 Stellen", meldet die Süddeutsche Zeitung unter Bezugnahme auf ein Interview des Vorstandschefs Frank-Jürgen Weise mit der Rheinischen Post. "Der Abbau werde allerdings 'ohne betriebsbedingte Kündigungen' ablaufen.
Im vergangenen Jahr hatte die BA die Zahl ihrer Stellen bereits um 5.200 auf 93.400 verringert. Ein Teil davon geht auch darauf zurück, dass im vorigen Jahr 41 Hartz-IV Jobcenter von den Kommunen in Alleinregie übernommen wurden. Sie beschäftigten einen großen Teil der BA-Mitarbeiter weiter ... Um weiter zu sparen, sollen bis Ende 2015 sogar 17.000 Stellen im Vergleich zu 2011 weggefallen sein."
Bleiben wir einen Moment beim BA-Chef Weise, denn der hat in die Glaskugel geschaut, was die Zuwanderung nach Deutschland angeht und herausgekommen ist beispielsweise diese Schlagzeile: "BA-Chef Weise rechnet mit starker Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien". Dies ist natürlich auch und gerade vor dem Hintergrund der immer schriller werdenden Debatte über die "Armutszuwanderung" der Roma aus Rumänien und Bulgarien von Bedeutung, die sich in den Medien ausgebreitet hat. "Ab 2014 soll für Bulgarien und Rumänien die volle Freizügigkeit innerhalb der EU gelten. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass dann zwischen 100.000 und 180.000 Zuwanderer aus diesen Ländern jedes Jahr nach Deutschland kommen." Wohlgemerkt, Weise geht bei diesen Zahlen von einer Netto-Zuwanderung aus, also schon bereinigt um die Fortzüge aus Deutschland. Weise versucht allerdings, die umlaufenden Befürchtungen zu dämpfen, dass es zu einer Welle der Armutszuwanderung kommen wird, in dem er auf die bisherigen Erfahrungen verweist:
Bundesagentur-Chef Weise erinnerte daran, dass es ähnliche Befürchtungen auch gegeben habe, bevor osteuropäische EU-Mitglieder wie Polen ab 2011 die volle Freizügigkeit erhielten. Diese Sorgen hätten sich nicht bewahrheitet. Damals rechnete die Bundesagentur mit einer jährlichen Zuwanderung von 140.000 Osteuropäern ab 2011. Nun läge die Nettozuwanderung aus diesen Staaten bei 100.000 Arbeitskräften pro Jahr, so Weise. "Die Menschen sind überwiegend gut qualifiziert."
Es bleibt an dieser Stelle wohl erst einmal nur der Hinweis, dass bei solchen "Prognosen" immer größte Distanz und Vorsicht geboten ist, denn hier gilt die Lebensweisheit: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Was aber im Kontext des Themas Zuwanderung gerade aus Südeuropa interessant ist: Die Frage nach dem Hierbleiben, weil das Herkommen ja nur das eine ist und es auch ein Weggehen gibt. "Ungefähr jeder Vierte bleibt", unter dieser Überschrift findet man in der taz ein Interview mit Sozialwissenschaftler Andreas Kapphan über die stärkere Zuwanderung aus Ländern Südeuropas und die Berliner Willkommenskultur.
Bleiben wir noch auf dem Arbeitsmarkt - neben den Minijobs immer wieder gerne diskutiert wird der Mindestlohn bzw. die Frage der Lohnuntergrenzen. Hierzu hat sich jetzt einer der so genannten "Wirtschaftsweisen" zu Wort gemeldet mit einer klaren, einfach strukturierten Botschaft:
"8,50 Euro ist entschieden zu hoch." Der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, hat sich dafür ausgesprochen, den gesetzlichen Mindestlohn niedriger anzusetzen. Wir werden Zeuge einer sehr statischen Sicht auf den Arbeitsmarkt: " Jeder Arbeitsplatz müsse sich wirtschaftlich tragen, sonst falle er weg, schrieb der Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in einem Gastbeitrag für die Zeitung Bild am Sonntag." Und weiter: "Der Essener Wirtschaftsprofessor räumte ein, dass in Deutschland manche Arbeitnehmer nicht von ihrer Arbeit leben könnten. Dafür sei aber 'vor allem die erhöhte Bedürftigkeit von Haushalten mit Alleinerziehenden, einem arbeitslosen Partner oder vielen Kindern' verantwortlich." Ach, so möchte man dem Weisen der Wirtschaft zurufen: Wenn es so einfach wäre. Kein Wort darüber, dass die Arbeitsplätze zu 4 oder 5 Euro in der Stunde doch nicht alle in der Versenkung verschwinden, weil die Arbeitgeber höhere Löhne zahlen müssten, was viele von ihnen auch tun werden, wenn es denn die anderen auch müssen, weil die Arbeit sich nicht in Luft auflöst. Und kein Wort zu dem Geschäftsmodell "Aufstocker", immerhin fast 9 Milliarden Euro im Jahr 2011, bei dem die Arbeitgeber belohnt werden, die einen Teil der betrieblichen Kosten sozialisieren und damit nicht selten auch die Unternehmen zu einem solchen Verhalten zwingen, die sich bislang noch anders verhalten haben. Ach, manchmal ist es einfach müßig, sich mit der nordkoreanischen Fraktion der Wirtschaftsweisen zu unterhalten, geht es ihnen doch um etwas anderes: Das bisherige Geschäftsmodell retten und die eigene Rolle stabilisieren. Da überrascht es denn auch nicht wirklich, was der Weise aus dem Wirtschaftsland empfiehlt: "Schmidt rief zudem die Tarifpartner auf, vor Lohnänderungen künftig den Rat von Wissenschaftlern einzuholen." Ein Schelm, der Böses dabei denkt ...
Da muss zum Abschluss ein Blick in echte wissenschaftliche Arbeit her, die es natürlich auch gibt. Und dann auch noch zu einer Branche, die gerade in den vergangenen Jahren Ort des realen Lohndumping gewesen ist: Der Einzelhandel. Hierzu hat das IAB eine fundierte Branchenanalyse vorgelegt:
Sandra Dummert: Branchenstudie Einzelhandel. Auswertungen aus dem IAB-Betriebspanel 2010 und 2011 (= IABForschungsbericht Nr. 2/2013), Nürnberg, 2013 >> PDF
Aus diesem Forschungsbericht nur ein Zitat:
Basierend auf den Auswertungen des IAB-Betriebspanels der Jahre 2010 und 2011 zeigt sich in der Einzelhandelsbranche sowohl eine starke betriebliche Verbreitung als auch eine hohe Nutzungsintensität der Teilzeitarbeit sowie der geringfügigen Beschäftigung. 82 Prozent der Betriebe nutzen Teilzeitarbeit und 64 Prozent der Einzelhandelsbetriebe beschäftigen mindestens einen Mini-Jobber. 44 Prozent der Beschäftigten des Einzelhandels arbeiten in Teilzeit und 23 Prozent sind geringfügig beschäftigt ... 27 Prozent der Einzelhandelsbetriebe unterliegen einem Branchentarifvertrag, 2 Prozent der Betriebe einem Haus- oder Firmentarifvertrag, während 71 Prozent der Einzelhandelsbetriebe nicht-tarifgebunden sind.
Und was es bedeutet, dass a) 71 Prozent der Betriebe nicht-tarifgebunden sind und b) seit dem Jahr 2000 die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags auf Druck der Arbeitgeber von der Bundesregierung aufgehoben worden ist, dass könnte jeder Wirtschaftsweise und sonstige Interessierte erfahren, wenn er oder sie ein Gespräch mit dem Verkaufspersonal oder den Gewerkschaftern führen würde. Aber das ist ja ein Form der Feldforschung, die nicht so viele wissenschaftliche Lorbeeren verspricht wie das Aufstellen komplexer, aber lebensentleerter mathematischer Modelle.