Dienstag, 4. Juli 2017

Selbst schuld am Minijob-Dasein, wenn man nicht was Ordentliches gelernt hat? Ein Tweet und eine komplexe Realität, die von einigen sehr weit weg ist


Erneut werden wir Zeugen, wie man twitternd eine ziemlich große Welle auslösen kann. Diesmal ist es nicht der amerikanischen Präsident, sondern jemand, der einige Kampfgewichte leichter, aber immerhin Generalsekretär der CDU Deutschland ist. Und seine Partei hat erst diese Tage als letzte in der Riege der zur Bundestagswahl antretenden Parteien ihr Wahlprogramm der Öffentlichkeit vorgelegt: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2017 - 2021, so ambitiös ist das überschrieben. Darin findet man beispielsweise diese Aussage: »Sozial ist, was Arbeit schafft. Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Wir setzen uns ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen bis spätestens 2025 Vollbeschäftigung für ganz Deutschland. In West und Ost, in Nord und Süd. Wir werden die Zahl der Arbeitslosen nochmals halbieren.« Das ist an vielen Stellen mittlerweile kommentiert worden, vgl. beispielsweise Voll mit fremden Federn von Florian Diekmann: »Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2025. Das ist nicht nur wohlfeil. Es ist dreist. Denn die Union hat beim entscheidenden Punkt bisher gebremst, nicht gefördert« - und er meint hier die Nicht-Aktivität der Union hinsichtlich einer wirklichen Bekämpfung der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland.«
"Sozial ist, was Arbeit schafft" - so steht es im Wahl-, bzw. Regierungsprogramm der Union. Das allein wäre schon ausreichend Stoff, um über den Un-Sinn einer solchen Formulierung nachzudenken, denn es sollte eigentlich nicht wirklich schwer zu erkennen sein, dass gerade nicht jede Arbeit sozial ist.

Aber hier geht es um einen ganz besonderen Aspekt unseres Arbeitsmarktes: die Minijobs. Und um die Vorstellungen, die offensichtlich ein Spitzenpolitiker von dieser sehr deutschen Ausformung einer Teilzeit-Beschäftigung hat. Grundsätzlich muss man wissen, dass es zwei Formen der geringfügigen Beschäftigung gibt: Zum einen die ausschließlich geringfügig Beschäftigten und zum anderen die geringfügig Beschäftigten im Nebenjob, also Arbeitnehmer, die einer sozialversicherungspflichtigen Teil- oder Vollzeitbeschäftigung nachgehen und dann noch einen Minijob zusätzlich ausüben.


Man braucht keine drei Minijobs, wenn man was Ordentliches gelernt habe, so Peter Tauber. Bei ihm und sicher vielen anderen schwirrt da im Kopf herum, dass es Leute gibt, die mehrere 450-Euro-Jobs nebeneinander machen (müssen). Nun muss man an dieser Stelle zum einen klar stellen, dass es zwar durchaus die Möglichkeit gibt, mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nebeneinander auszuüben, aber dies 1.) im Grunde nur für die ausschließlich geringfügig Beschäftigten gilt* und 2.) darf die Grenze von 450 Euro insgesamt nicht überschritten werden. Man kann schlichtweg nicht mehrere eigenständige 450-Euro-Jobs parallel nebeneinander ausüben.

*Wenn man eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat und nebenbei einen oder mehrere Minijobs ausüben will, gilt die Regelung: Zwar bleibt der 450-Euro-Job abgabenfrei, den der Arbeitnehmer zuerst angenommen hat, aber alle weiteren Entgelte aus den Minijobs werden mit dem aus der Hauptbeschäftigung zusammengerechnet.

Die Abbildung zeigt auf Basis von aktuellen Daten der Minijob-Zentrale, dass im gewerblichen Bereich 97,3 Prozent der Minijobber lediglich eine geringfügige Beschäftigung ausüben, in den Privathaushalten sind es mit 88 Prozent etwas weniger. Zwei oder gar noch mehr Minijobs haben keine wirkliche Relevanz. Dann bleibt die Frage, wie es denn aussieht mit dem Vorwurf, die Leute, die geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ausüben (müssen), hätten besser "was Ordentliches" gelernt, dann müssten sie das jetzt nicht machen.

In diesem Zusammenhang lohnt der Blick in die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag: Minijobs in Deutschland, Bundestags-Drucksache 18/7840 vom 10.03.2017. Die dort in aller Tiefe ausgewiesenen Daten beziehen sich auf den Juni 2015:
  • Hinsichtlich des Anforderungsniveaus der Tätigkeiten, die Minijobber ausüben, zeigen die Daten folgenden Befund: Bei den geringfügig entlohnt Beschäftigten waren im Juni 2015 insg. 44,4 Prozent Personen mit Helfertätigkeiten. Die Anteile der Personen, die als Fachkraft, Spezialist oder Experte arbeiten, unter den Minijobbern, stellt sich folgendermaßen dar: Fachkräfte: 43,7 Prozent; Spezialisten: 4,6 Prozent; Experten: 3,6 Prozent. 
  • Von den Minijobbern haben 48,9 Prozent einen anerkannten Berufsabschluss, nur 19,3 Prozent haben keinen Berufsabschluss.
Der DGB hat im November 2015 diese Studie veröffentlicht: Minijobs: Sackgasse für qualifizierte Arbeitskräfte. Analyse der Qualifikationsprofile von ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten. In dieser Studie wurden die ausschließlich geringfügig Beschäftigten betrachtet und darunter die Gruppe der "im klassischen Erwerbsalter von 25-64 Jahren" befindlichen Personen. Fast drei von vier in dieser Altersgruppe sind weiblich. Wenn wir über Minijobs reden, sprechen wir über typische Frauenjobs.

Es handelt sich um eine Beschäftigtengruppe, in der sich viele gut ausgebildete Arbeitskräfte befinden: 51 Prozent dieser Gruppe verfügen über einen beruflichen oder zum Teil sogar akademischen Abschluss, 13 Prozent haben jedoch keine abgeschlossene Ausbildung. Von weiteren 36 Prozent ist das Qualifikationsniveau unbekannt.

»Betrachtet man nur die bekannten Qualifikationen und setzt sie ins Verhältnis, so kommt man zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent keinen Abschluss (404.481), 71 Prozent (1.414.747) einen Berufsabschluss und weitere 9 Prozent (177.632) sogar einen akademischen Abschluss haben.« (DGB 2015: 6)

Nach DGB-Berechnungen unter der Annahme, dass sich die Qualifikationen bei denen, für die keine Angaben vorliegen, so verteilen wie bei den anderen, kommen unter den 3,1 Mio. Minijobbenden im klassischen Erwerbsalter (25-64 Jahre) auf eine Person ohne Berufsabschluss etwa vier qualifizierte Arbeitskräfte.

Man kann schon an diesen Daten erkennen, dass Tauber völlig falsch liegt. Aber schauen wir weiter in die Ergebnisse der empirischen Forschung. Bereits 2012 veröffentlichte das Bundesfamilienministerium diese Studie:

Carsten Wippermann (2012): Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin, Oktober 2012

Wippermann hat die Erfahrungen von rund 2.000 aktuellen oder ehemaligen Minijobberinnen erhoben. Ergebnis: Eine geringfügige Beschäftigung taugt in der Regel nicht als Brücke in einen regulären Job. Die Befreiung von Steuern und Sozialabgaben bis zu einem Einkommen von 450 Euro und die beitragsfreie Krankenversicherung über den Ehegatten böten sogar Anreize, auf Dauer in einem Minijob beschäftigt zu bleiben. In dem die Studie zusammenfassenden Beitrag Minijob: Sackgasse für viele Frauen werden weitere Befunde referiert:

»Minijobberinnen haben zwar in der Regel eine fundierte Berufsqualifikation ... Dennoch werden sie in der Regel nicht mehr als qualifizierte Fachkraft wahrgenommen. Damit ist ihre Verhandlungsposition in späteren Einstellungsgesprächen schlechter als die vergleichbarer Bewerber – sollten sie zu den 40 Prozent gehören, die den Weg zurück in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überhaupt schaffen. Knapp zwei Drittel der Frauen, die vorher ausschließlich in einem Minijob gearbeitet haben, erhalten in ihrem neuen, sozialversicherungspflichtigen Job ein Nettoeinkommen unter 1.000 Euro. Das gilt sogar für gut 28 Prozent der Vollzeit-Beschäftigten.

Damit führe der Minijob nicht nur während der Minijob-Tätigkeit, sondern auch in seinen Spätfolgen zu einer signifikanten Zementierung der Entgeltungleichheit ... Im Lebensverlauf vergrößere sich so die Entgeltdifferenz zwischen den Geschlechtern. Denn mit jedem Jahr im Minijob sinken die für die Frauen künftig möglichen Lohnsteigerungen und Entgelte.«

Wippermann ging es in seiner Studie vor allem um die Motivlage der Minijobberinnen, also warum machen die das. Als Gründe nannten die Frauen:
  • Eine geringfügige Beschäftigung biete „gute Bedingungen“. 72 Prozent der Frauen im Minijob „pur“ berichteten, der Arbeitgeber habe bei der Gestaltung des Arbeitsvertrages auf ihre Wünsche geachtet. Gerade junge Mütter schätzen die Möglichkeit, nur wenige Stunden zu arbeiten. 
  • Mit zunehmendem Alter gewinnt ein weiterer Grund an Bedeutung: „Ich habe einen Minijob angenommen, weil ich keine bessere Alternative habe“, sagte knapp die Hälfte der 50- bis 64-Jährigen in ausschließlich geringfügiger Beschäftigung. Mit zunehmender Dauer komme also der „Realitätsschock“ ... Denn Minijobberinnen gälten trotz Berufsausbildung als unqualifiziert und würden dauerhaft niedrig entlohnt – ohne Aufstiegs- und Karriereperspektive. 
Man muss also durchaus differenzieren - für viele Frauen, vor allem Mütter, ist eine ausschließlich geringfügige Beschäftigung in der Eigenwahrnehmung nicht per se eine von außen aufgedrückte Unannehmlichkeit, sondern sie passt durchaus in die jeweilige Lebensphase. Das auch deshalb, weil es sich um eine subventionierte Beschäftigungsform handelt, bei der beispielsweise die beitragsfreie Familienmitversicherung in der Krankenversicherung erhalten bleibt, die natürlich von anderen Beitragszahlern quersubventioniert werden muss. Hinzu kommt der "Brutto=Netto"-Aspekt, was sich bei einer regulären Beschäftigung aufgrund der Steuerklassen und der Sozialabgabenpflicht erheblich verändert.

Zu dem hier angesprochenen Themenfeld vgl. auch Markus Krüsemann: Fehlsubventionen, von denen die Falschen profitieren vom 11.05.2017. Er weist auf zwei Gruppen hin, die von der staatlichen Subventionierung der Minijobs besonders profitieren:

»Dies sind zum einen die im Nebenjob geringfügig Beschäftigten. Sie werden gegenüber jenen Beschäftigten bessergestellt, die ihren regulären Verdienst durch (der Steuerpflicht unterworfene) bezahlte Überstunden und Mehrarbeit aufstocken. Zum anderen sind es Ehe- bzw. Lebenspartner, die neben ihre Tätigkeit als Hausfrau und -mann per Minijob das gemeinsame Einkommen aufbessern ohne damit die aus gemeinsamer Veranlagung resultierende Steuerlast zu vergrößern. Von der Subventionierung der Minijobs profitieren insbesondere Personen, die selbst oder deren Ehe- oder Lebenspartner ein hohes Einkommen generieren, und gleichzeitig ein relativ hohes Einkommen aus dem Minijob erzielen. Letztlich sind es also die Haushalte mit höherem Einkommen, für die der Minijob ein gutes Geschäft ist.«

Eine genauere Bilanzierung findet man in der 2017 veröffentlichten Studie Die fiskalischen Kosten der Minijobs von Tobias Peters.


Und vollends abstrus wird die Taubersche Argumentation, wenn man bedenkt, welche Entwicklungen wir am aktuellen Rand bei "den" Minijobs sehen. »Nach Rückgängen im Jahr 2015 steigt die Zahl der Minijobs seit dem zweiten Quartal 2016 wieder leicht an. Diese Entwicklung hat sich im dritten Quartal 2016 fortgesetzt. Erneut ist der Boom bei den Minijobs im Nebenjob die treibende Kraft«, berichtet Markus Krüsemann. Während die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten aufgrund deren Verteuerung durchaus Bremseffekte gezeitigt hat, stellt sich die Situation bei den  im Nebenjob geringfügig Beschäftigten ganz anders dar: »Ihre Zahl steigt schon seit Jahren und unbeeindruckt vom Mindestlohn an. Ende September 2016 lag das Plus im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 4,4 Prozent. Damit gab es fast 2,76 Millionen Beschäftigte mit einen zusätzlichen Minijob als Nebenjob, womit mal wieder ein neuer Höchststand markiert wurde.« Darunter sind eben auch viele Beschäftigte mit einer "ordentlichen" Ausbildung, die sich auf diesem Weg etwas dazuverdienen (müssen).

Und selbst wenn man eine "ordentliche" Ausbildung gemacht hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man auf der Sonnenseite des Lebens lustwandeln kann. Vgl. dazu den Beitrag Der nach Gerhard Schröder "beste Niedriglohnsektor", der in Europa geschaffen wurde, betrifft mehr als jeden fünften Arbeitnehmer in Deutschland vom 17. Juni 2017:

2017, nach Jahren des angeblichen "Jobwunders" in Deutschland, wird man mit so einer Meldung konfrontiert: Knapp jeder Vierte arbeitet für Niedriglohn: »Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Deutschland einen Niedriglohn beziehen, ist im europäischen Vergleich hoch. So verdienen 22,5 Prozent der Beschäftigten unter der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde ... Zum Vergleich: Im Euroraum insgesamt kommen nur 15,9 Prozent der Arbeitnehmer mit Niedriglohn nach Hause und haben aber mehr in der Tasche als deutsche Niedriglöhner: Im Euroraum beginnt der Niedriglohn erst unterhalb von 14,10 Euro.« Als Niedriglohn gilt nach einer Definition der OECD ein Verdienst, der unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Bruttostundenlohns (gemessen am Median, nicht am arithmetischen Mittel) liegt. In Frankreich arbeiten nur 8,8 Prozent der Beschäftigten für einen Niedriglohn, der dort mit nur zehn Euro etwas niedriger liegt als in Deutschland. An der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde wird auch erkennbar, dass eine Vergütung nach dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde nicht dazu führen kann, die betroffenen Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnbereich herauszuholen - er ist ja auch "nur" eine Lohnuntergrenze.

Es erübrigt sich für diejenigen, die sich mit der Lebenswirklichkeit der Menschen auseinandersetzen, die nicht nur zu den Privilegierten gehören, darauf hinzuweisen, dass ganz viele der hier angesprochenen Arbeitnehmer über eine grundsolide Ausbildung verfügen. Sie sind aber nicht CDU-Generalsekretär.