Donnerstag, 9. Februar 2017

Diesseits und jenseits der schwarzen Pädagogik: Eine Studie zu den Wirkungen von Sanktionen auf junge Hartz IV-Empfänger - und ihre "Nebenwirkungen"


Oftmals kann man schon an den Überschriften von Artikeln erkennen, dass wir es mit einem höchst kontroversen Thema zu tun haben: Kürzung von Hartz IV führt Bezieher schneller in den Job, behauptet der eine. Strafen wirken, so apodiktisch hat Sven Astheimer seinen Kommentar zu der Angelegenheit betitelt. Und dann kommt so ein Beitrag dazu: Forscher empfehlen Reform der Hartz-IV-Sanktionen. Und alle berichten über ein und dieselbe Sache: Eine neue Studie aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Gerard J. van den Berg, Arne Uhlendorff und Joachim Wolff haben sich mit den Wirkungen von Sanktionen für junge ALG-II-Bezieher beschäftigt und bilanzieren bereits in der Überschrift: Schnellere Arbeitsaufnahme, aber auch Nebenwirkungen. Die Studie untersucht die Wirkungen erster und wiederholter Sanktionen auf unter- 25-jährige Männer in Westdeutschland.

Bevor man sich die Ergebnisse der Studie genauer anschaut, muss man sich darüber orientieren, was es mit den Sanktionen generell auf sich hat und warum man mit Blick auf die Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahre von einem "deutlich verschärften Sanktionsregime" spricht.

Generell gilt: Verletzen Bezieher von Arbeitslosengeld (ALG) II eine gesetzliche Pflicht nach dem SGB II), ohne einen wichtigen Grund dafür vorweisen zu können, werden ihre Leistungen für drei Monate durch eine Sanktion reduziert. Auch das Gesetz differenziert bei den Folgen eines Verstoßes nach dem sanktionsauslösenden Tatbestand. Wenn ein Meldeversäumnis (nach § 32 SGB II) vorliegt, also die Betroffenen einer Terminverpflichtung im Jobcenter ohne wichtigen Grund nicht eingehalten haben, dann führt das zu Sanktionen in Höhe von 10 Prozent des maßgebenden ALG-II-Regelbedarfs, für drei Monate. Kommen ALG-II-Bezieher anderen Pflichten (§ 31 SGB II) nicht nach – z. B. der Annahme eines zumutbaren Stellenangebots oder der Teilnahme an einer Fördermaßnahme –, dann werden sie mit härteren Sanktionen konfrontiert. Für Personen ab 25 Jahren liegen sie bei einem ersten Verstoß bei 30 Prozent und bei einem zweiten Verstoß innerhalb eines Jahres bei 60 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs. Bei weiteren gleichartigen Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres entfällt das ALG II für drei Monate ganz.

Abweichend sind die Regelungen für die Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahre. Schon beim ersten Verstoß nach § 31 SGB II wird das ALG II bei dieser Personengruppe auf die Leistungen für die Unterkunft begrenzt und bei wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres entfällt das gesamte ALG II.

Junge Hartz IV-Leistungsbezieher werden nicht nur besonders streng, sondern auch vergleichsweise häufig sanktioniert. Die Abbildung aus der IAB-Studie am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht das anschaulich.

Bereits im Mai 2011 hatte der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit in seinem Positionspapier Ausgrenzung junger Menschen verhindern - neue Wege in der Förderung gehen und Jugendsozialarbeit stärken darauf hingewiesen, dass man in der Praxis der Jobcenter beobachten muss, »dass junge Menschen dreimal so häufig sanktioniert werden wie über 25‐Jährige. Jede fünfte Sanktion führt zur völligen Leistungsstreichung. Um ihr Überleben abzusichern, flüchten sich die betroffenen jungen Menschen oft in illegale Beschäftigung oder Kleinkriminalität. Auch ein völliges „Verschwinden“ der Hilfebedürftigen aus dem Hilfesystem kommt vor. So versagt auch die Jugendhilfe diesen jungen Menschen ihre Unterstützung, denn nach herrschender Rechtsmeinung befürchtet sie, die Regelung des SGB II zu unterlaufen, wenn sie für sanktionierte Jugendliche aus dem Rechtskreis SGB II tätig wird. Daher ist es verbreitete Praxis der Jugendämter, sich für diese Jugendlichen als „nicht zuständig“ zu erklären.«

Aber erst einmal wieder zurück zur Studie des IAB. Was haben die nun herausgefunden hinsichtlich der Wirkungen der Sanktionen (in Westdeutschland, denn darauf ist die Untersuchung begrenzt)? »Leistungskürzungen führen bei jungen Hartz-IV-Beziehern, die sich schwere Verstöße gegen Auflagen zuschulden kommen ließen, einer Studie zufolge zu einer schnelleren Arbeitsaufnahme. Durch die erste Sanktion verdoppele sich der Anteil der unter 25-Jährigen, die in eine reguläre Beschäftigung wechselten ... Durch eine zweite Sanktion beschleunige sich die Beschäftigungsaufnahme nochmals«, kann man diesem Bericht über die Studie entnehmen: Kürzung von Hartz IV führt Bezieher schneller in den Job.

Das kann man so lesen wie beispielsweise Sven Astheimer in seinem Kommentar Strafen wirken in der FAZ: Nachdem er mit Verweis auf die USA (als ob das ein naturgegebenes referenzhandbuches wäre) darauf hinweist, dass Hartz IV die Menschen vo dem Fall ins Bodenlose schützt, kommt er zu seinem eigentlichen Anliegen:

»Gerne vergessen wird ..., dass die Empfänger verpflichtet sind, die Abhängigkeit aus eigener Kraft schnellstmöglich zu beenden. Gerade für junge Hartz-IV-Bezieher gilt: Jeder Tag Arbeitslosigkeit ist einer zu viel. Um „Hartz-Karrieren“ zu vermeiden, ist eine rasche Beschäftigung entscheidend und angesichts der guten Arbeitsmarktlage auch realistisch ... Wer mutwillig Termine im Jobcenter versäumt oder zumutbare Tätigkeiten ablehnt, bekommt folgerichtig vorübergehend weniger Geld. Wie die Untersuchung der Arbeitsagentur belegt, rechnen viele Betroffene beim nächsten Mal nach, ob sie sich ihr Verhalten leisten können.«

Damit beweist er leider, dass er von dem, was hier im Sanktionsregime (nicht nur, aber besonders) für junge Hartz IV-Empfänger abgeht, keine Ahnung hat und ihn wahrscheinlich die Details auch nicht wirklich interessieren, da er seine Bestrafungs- und Abschreckungsbotschaft mit der Studie belegen möchte. Nur zwei Anmerkungen dazu: Die Rahmenbedingung einer "allgemein guten Arbeitsmarktlage" trifft bei dieser, teilweise auch wirklich schwierigen, weil mit zahlreichen Einschränkungen versehenen Personengruppe oder aufgrund der Tatsache, am falschen Ort zu leben, so generell bis gar nicht zu. Und "vorübergehend weniger Geld" ist nun mehr als ein Euphemismus, von der Möglichkeit und zigtausendfachen Realität der Totalsanktionierung, also dem vollständigen Entzug des Existenzminimums hat er offensichtlich noch nichts gehört. Vgl. dazu nur als ein Beispiel den Beitrag Hartz IV: Auch die Kinder kommen unter die Räder. Von Sanktionen der Jobcenter sind jeden Monat tausende Familien betroffen vom 14. November 2016.

Die IAB-Forscher selbst schreiben zu ihren Befunden:

»Besonders einschneidende Sanktionen für Unter-25-Jährige führen unseren Befunden zufolge dazu, dass die Abgangsrate junger ALG-II-Bezieher in ungeförderte versicherungspflichtige Beschäftigung bei einer ersten Sanktion deutlich ansteigt. Eine wiederholte Sanktion innerhalb eines Jahres verstärkt diese Wirkung. Eine Arbeitsaufnahme infolge von Sanktionen ist aber mit Einbußen bei den Tagesentgelten verbunden, allerdings nur aufgrund der ersten Sanktion. Künftig sollte untersucht werden, ob diese Lohneinbußen bei verschiedenen Personengruppen nur zum Zeitpunkt der ersten Beschäftigungsaufnahme vorliegen, oder auch mittel- und langfristig. Dann könnten den Betroffenen materielle Einbußen nicht nur durch die Sanktion entstehen, sondern auch durch verminderte Erwerbseinkommen im weiteren Erwerbsverlauf ... Die Schätzergebnisse der Verweildaueranalyse für junge Leistungsbezieher unterstreichen, dass Sanktionen Anreize zur Arbeitsuche verstärken. Allerdings sind sie mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden, da es auch zu einem beschleunigten Rückzug aus dem Arbeitsmarkt kommt.« (S. 7)

Und dann kommt ein Punkt, der auch in diesem Artikel schon in der Überschrift herausgestellt wurde: Forscher empfehlen Reform der Hartz-IV-Sanktionen, in dem mit Bezug auf die IAB-Studie darauf hingewiesen wird, dass die Forscher auch unerwünschte Nebenwirkungen festgestellt haben. »So war die Zahl derjenigen jungen Hartz-IV-Bezieher, die ihre Arbeitssuche ganz aufgaben, nach der ersten Sanktion sogar fast viermal so hoch wie ohne Sanktion. Nach der zweiten Sanktion innerhalb eines Jahres verdoppelte sich diese Zahl noch einmal.«

In der Studie werden mögliche Konsequenzen dann so zur Diskussion gestellt:

»Betrachtet man die Erkenntnisse dieser Studie gemeinsam mit Befunden anderer Studien, lassen sich gute Gründe dafür finden, das System so umzugestalten, dass ein Rückzug vom Arbeitsmarkt und ALG-II-Bezug wegen Sanktionen weniger wahrscheinlich wird. Insbesondere alleinlebende junge Leistungsbezieher reagieren unseren Ergebnissen zufolge damit auf sehr scharfe Sanktionen. Verschiedene Studien zur Sanktionierung von unter-25-jährigen ALG-II-Beziehern weisen auf Probleme hin, die mit hohen Sanktionen einhergehen ... Es besteht die Gefahr, dass sie zu Wohnungslosigkeit führen ... Zudem verdeutlichen die Befunde einer qualitativen Befragung von unter-25-jährigen Sanktionierten ..., dass mit Sanktionen erhebliche Einschränkungen der Lebensbedingungen einhergehen: Dazu gehörten unter anderem eine teils eingeschränkte Ernährung, teils Zahlungsrückstände verbunden mit der Sperrung der Energieversorgung und bei einigen Totalsanktionierten der Verlust ihrer Wohnungen.« (S. 7)

Was sind nun die Vorschläge der Wissenschaftler in der Studie?

»So könnten die Sonderregelungen für Unter-25-Jährige abgeschafft werden und für alle Sanktionierten die Regelungen der Ab-25-Jährigen gelten«, so lautet einer davon. Ferner wird hervorgehoben, »dass bereits vergleichsweise milde Sanktionen in Höhe von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs aufgrund von Meldeversäumnissen die Abgangsraten der unter-25-jährigen ALG-II- Bezieher in Beschäftigung um mehr als 36 Prozent erhöht haben.« Außerdem plädieren die Autoren dafür, »eine Obergrenze für die Sanktionshöhe festgesetzt werden. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil alleinlebende Personen keine Möglichkeiten haben, im Falle einer Sanktionierung auf Ressourcen von anderen Haushaltsmitgliedern zurückzugreifen.« Statt strengeren Sanktionen »könnte die Sanktionshöhe unverändert bleiben und eine Sanktionsdauer von vier oder fünf Monaten statt drei Monaten vorgesehen werden.«

Dem einen oder anderen wird einiges davon irgendwie bekannt vorkommen, was auch nicht überrascht, denn diese Vorschläge sind schon gemacht worden, worauf die Autoren der Studie auch hinweisen: Man findet sie im Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Rechtsvereinfachung im SGB II, in dem die Abschaffung der verschärften Sanktionsregeln für Unter-25-Jährige und ein einheitlicher Minderungsbetrag unabhängig davon, ob es sich um eine erste oder wiederholte Pflichtverletzung handelt, sowie Kürzungen der Leistungen für Unterkunft und Heizung sollten nicht mehr möglich sein, so die Empfehlungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe - das alles ist letztendlich am Veto des Freistaats Bayern gescheitert.

Viele, die in der Jugendhilfe unterwegs sind und dort praktische Erfahrungen gemacht haben, werden bei den Vorschlägen abwinken und sie für den sicher ehrenhaften, aber an einem gewichtigen Teil der Probleme vorbeigehenden Versuch einordnen, die enorme Wucht der Sanktionen etwas abzumildern, ohne den letztendlich und zugespitzt formuliert aus der Welt der schwarzen Pädagogik stammenden Impuls aufgeben zu müssen, mit Druck und Bestrafung eine Verhaltensänderung herbeiführen zu können. Dass das bei einem nicht kleinen Teil der jungen Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht gelingt, ist in vielen Studien nachgewiesen worden (vgl. zu diesem Thema den Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die "entkoppelten Jugendlichen" vom 11. Juni 2015).

Man kann an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass die Sanktionsfrage insgesamt nicht nur nach Auffassung einiger Außenseiter grundsätzlich auf dem Prüfstand gehört, sondern in diesem Jahr wird sich das Bundesverfassungsgericht vor dem Hintergrund einer erneuten Richtervorlage aus der Sozialgerichtsbarkeit mit der Frage der möglichen Verfassungswidrigkeit der Sanktionen, die ja das eigentlich nicht unterschreitbare Existenzminimum eines Menschen betreffen, befassen müssen (vgl. hierzu den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016). Selbst wenn die Verfassungsrichter die Sanktionen nicht an sich kippen sollten, an dem verschärften Sanktionsregime für die jungen Hartz IV-Empfänger werden sie - so viel sei vorhergesagt - nicht bestätigend vorbei gehen.