Dienstag, 20. September 2016

Hartz IV: Wie viel mehr sollten es denn sein müssen oder dürfen? Der Streit um die (Nicht-)Erhöhung der Regelbedarfe im SGB II


Das ist schon eine ordentliche Spanne: Die einen sagen, gar keine Erhöhung (für die Kleinsten) und ein Plus von vier bzw. fünf Euro für die Großen sei in Ordnung, die anderen fordern 111 Euro mehr als heute bei den Alleinstehenden. Was für ein Zahlensalat. Mit handfesten Konsequenzen für Millionen Menschen, die jeden Euro umdrehen müssen.

Es geht um die Anpassung der Regelsätze in der Grundsicherung und hierzu hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Stand: 29.08.2016) vorgelegt. Darin enthalten ist beispielsweise die Ansage, dass die ganz Kleinen im Hartz IV-System, also Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres, im kommenden Jahr keinen Cent mehr bekommen sollen. Darüber wurde hier bereits berichtet am 31. August 2016: Ältere Kinder essen einfach mehr als jüngere und die ganz Kleinen haben genug? Zur Anhebung der Hartz IV-Regelsätze 2017.

Die Neuermittlung der Regelbedarfe auf der Basis der nunmehr ausgewerteten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) aus dem Jahr 2013 ist (nicht nur) bei den Sozialverbänden auf teilweise erhebliche Kritik gestoßen.

Neuer Hartz-IV-Regelbedarf ist auf Kante genäht, so beispielsweise die Caritas: „Der neue Hartz-IV-Satz wurde nicht fair berechnet“, kritisiert Caritas-Präsident Peter Neher. Berechnungen der Caritas auf der Basis des tatsächlichen Verbrauchs von Hartz-IV-Empfängern zeigen, dass allein der Anteil für Strom rund zehn Euro über dem vorgegebenen Wert liegen müsste. »Zudem dürften verdeckt Arme nicht als Teil der Ausgangsgruppe für die Berechnung der Grundsicherung genommen werden. Seröse Schätzungen haben gezeigt, dass viele Haushalte trotz geringer Einkommen keine Leistungen beantragen. Die Caritas hat wiederholt gefordert, Konsequenzen aus dieser Tatsache zu ziehen und die Referenzgruppe entsprechend zu bereinigen.« Diese und weitere Kritikpunkte werden in der Stellungnahme der Caritas zum Entwurf eines Regelbedarfsermittlungsgesetzes ausführlich dargelegt und begründet.

Auch die Diakonie hat sich zu Wort gemeldet. Zur fachlichen Beurteilung des angewandten Rechenmodells hat sie die Verteilungsforscherin Irene Becker mit einem Gutachten beauftragt. Dieses habe ergeben, dass der Ende August vorgelegte Referentenentwurf (RE) eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen inhaltlich weitgehend den Vorschriften des Regelbedarfsermittlungsgesetzes 2011 entspricht. Er berücksichtigt nur wenige (drei) Korrekturen, die konkrete Änderungsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) umsetzen. Weitere Hinweise in den Urteilen des BVerfG von 2010 und 2014 sowie Kritik aus Wissenschaft und Verbänden werden nicht aufgegriffen oder mit nicht sachgerechter Darstellung und Deutung der Empirie abgewiesen. »Zudem wird das Gebot der Transparenz noch weniger befolgt als im Gesetzgebungsverfahren 2010/2011, da das veröffentlichte statistische Material vergleichsweise spärlich ist.« Die Gutachterin bilanziert:

»Letztlich orientiert sich der RE an Minimalstandards, die aus den einschlägigen Urteilen des BVerfG abgeleitet oder entnommen werden, nicht aber an gesellschaftspolitischen Zielen der Bedarfs- und Chancengerechtigkeit, die über das verfassungsrechtliche Minimum hinausgehen.«

Besonders kritisch sind die Befunde des Gutachtens hinsichtlich des Herunterrechnens der in der EVS gemessenen Verbrauchsausgaben der unteren 15 Prozent der Haushalte, die als Referenzgruppe für die Ermittlung des Regelbedarfs fungieren:

»Die teilweise marginalen, teils beträchtlichen Kürzungen aus den Konsumausgaben der Referenzgruppen summieren sich auf etwas mehr (bei Erwachsenen und Kindern unter 6 Jahren) bzw. etwas weniger (bei Kindern ab 6 Jahren und Jugendlichen) als ein Viertel der Ausgaben der jeweiligen Referenzgruppe. Die Kürzungen sind auf Bereiche der sozialen Teilhabe konzentriert: Der höchste Abschlag ergibt sich bei den Kindern unter 6 Jahren – nur die Hälfte der entsprechenden Ausgaben der Referenzgruppe gelten als regelbedarfsrelevant. Aber auch bei den Jugendlichen ist eine Kürzung der Referenzausgaben um zwei Fünftel unter Aspekten der Teilhabegerechtigkeit nicht vertretbar. Ein Vergleich mit den Ergebnissen, die dem RBEG 2011 zugrunde liegen, zeigt zudem, dass das relative Gewicht der Abschläge hinsichtlich der sozialen Teilhabe bei den Kindern und Jugendlichen erheblich – um etwa zehn Prozentpunkte – zugenommen hat.
Häufig beschränkt sich der RE auf die knappe Bemerkung, dass das gestrichene Gut nicht zum existenziellen Bedarf gehöre, teilweise wird vermerkt, dass der physische Grundbedarf nicht tangiert sei.«

Die Folge: »Insgesamt kommt es aufgrund dieser Herangehensweise zu massiven Kürzungen an den in der statistischen Vergleichsgruppe festgestellten Ausgabepositionen, die entsprechend dem Statistikmodell Grundlage für die Ermittlung des Regelsatzes sein müssten.«

Und nun ist auch noch der Paritätische Wohlfahrtsverband vor die Öffentlichkeit getreten und hat neben der Kritik an dem Entwurf der Bundesregierung auch Alternativberechnungen vorgelegt. eines der wichtigsten Ergebnisse wurde in diese Schlagzeile gepackt: Hartz IV: Paritätischer fordert Regelsatz von 520 Euro. »Der Paritätische Wohlfahrtsverband wirft dem Bundesarbeitsministerium vor, bei der Neuberechnung der Regelsätze willkürliche Eingriffe in die Statistik vorgenommen und das Ergebnis auf 409 Euro künstlich klein gerechnet zu haben. Zur Bestimmung des Existenzminimums von Kindern verlangt der Verband die umgehende Einsetzung einer Expertenkommission.«

Die Berechnungen und Schlussfolgerungen des Verbandes können nachgelesen werden in dieser Expertise:

Regelsätze 2017. Kritische Anmerkungen zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze durch das Bundesministerium Arbeit und Soziales und Alternativberechnungen der Paritätischen Forschungsstelle, Berlin, September 2016

Weiter erfahren wir vom Paritätischen: „Die vorliegenden Regelsatzberechnungen des Ministeriums sind ein Gemisch aus statistischer Willkür und finanzieller Nickeligkeit. Wer hingeht und sogar Cent-Beträge für die chemische Reinigung, Grabschmuck oder Hamsterfutter streicht, hat sich vom Alltag der Menschen ganz offensichtlich längst verabschiedet“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Der Verband kritisiert, dass so gut wie alle Ausgaben, die mit gesellschaftlicher Teilhabe zu tun haben, dem Rotstift geopfert wurden. Statt das soziokulturelle Existenzminimum zu garantieren, wie es die Verfassung vorsieht, werde fast ausschließlich ein physisches Existenzminimum berechnet. „Der Regelsatz der Bundesregierung grenzt die Menschen einfach nur aus, anstatt wenigstens auf bescheidenstem Niveau Teilhabe zu ermöglichen“, kritisiert Schneider. Überhaupt nicht nachvollziehbar sei zudem, dass die Bundesregierung trotz Ermahnung des Bundesverfassungsgerichts noch immer keine Lösung für die Frage nach dem Mobilitätsbedarf vorgelegt habe.

Und vor dem Hintergrund der Diskussion über Kinderarmut besonders relevant:

»Die Berechnungen des Ministeriums zu den Kinderregelsätzen seien wissenschaftlich nicht belastbar und extrem fehlerbehaftet, so das Ergebnis der Expertise. Auf der vorhandenen Datengrundlage ließen sich seriöserweise keine Kinderregelsätze berechnen. Der Paritätische fordert daher von der Bundesregierung die sofortige Einsetzung einer Expertenkommission, um die Frage zu beantworten, was ein Kind braucht.«

Es stellt sich natürlich die Frage, warum sind wir denn mit dieser "finanziellen Nickeligkeit", wie Ulrich Schneider das formuliert hat, konfrontiert? Man könnte meinen, die da oben gönnen den da unten nicht mehr. Aber das wäre zu kurz gesprungen.

Die These, die hier verfolgt werden soll, lautet: Man muss die Kleinkrämerei verstehen als eine Art Abwehrreaktion angesichts dessen, was eine substantielle und durchaus begründbare spürbare Anhebung der Regelbedarfe an Folgewirkungen auslösen würde:
  1. Von besonderer Bedeutung sind die Wechselwirkungen mit dem Steuersystem, denn die Steuereinnahmen des Staates werden u.a. begrenzt durch das steuerfrei zu stellende Existenzminimum, was über den Grundfreibetrag im Einkommenssteuerrecht abgebildet wird. Dem Einkommensteuerpflichtigen muss nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen soviel verbleiben, als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie bedarf („Existenzminimum“). Vgl. hierzu grundlegend die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1992: BVerfGE 87, 153. Maßgröße für die Bemessung des steuerfrei zu stellenden sächlichen Existenzminimums ist das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum, das über-, aber nicht unterschritten werden darf. Die Ermittlung des steuerfrei zu stellenden sächlichen Existenzminimums erfolgt auf der Basis des geltenden Sozialhilferechts (SGB XII, Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz). Da ist der Link zu unserem Thema. Jede Anhebung der Regelbedarfe hat entsprechende Auswirkungen im Steuersystem, aus herrschender Sicht negative, denn es kommt in Folge einer Anhebung zu Steuereinnahmeausfällen in einer nicht unerheblichen Größenordnung, denn der Grundfreibetrag gilt für alle Bürger.
  2. Hinzu kommt ein banaler, aber überaus kostenträchtiger Aspekt: Jede deutliche Erhöhung der Regelbedarfe im Grundsicherungssystem führt schlichtweg zu mehr "Kunden", vor allem bei den sogenannten "Aufstockern". Das muss auch gesehen werden im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass wir in den vergangenen Jahren, die ja arbeitsmarktlicht insgesamt betrachtet sehr gute Jahre waren, mit einer einer Verfestigung und Verhärtung im Hartz IV-System konfrontiert waren, also einer eklatanten Problematik im Langzeitbezug. Offensichtlich gelingt es selbst bei arbeitsmarktlicht guten Rahmenbedingungen nicht mehr, die Hilfebedürftigkeit parallel zu reduzieren. Zugleich muss man sehen, dass den Verantwortlichen klar ist, dass die Zahl der auch für lange Zeit auf Grundsicherungsleistungen angewiesen Menschen weiter steigen wird, wenn erst einmal die vielen hunderttausend Flüchtlinge im Hartz IV-System aufschlagen werden.
  3. Und last but not least darf man nicht vergessen, dass es natürlich einen Zusammenhang mit den Niedriglöhnen gibt, denn deren Höhe "kommuniziert" mit den Regelbedarfen im Grundsicherungssystem. Früher hat man das immer unter dem Begriff "Lohnabstand" diskutiert. Jede Anhebung der Regelbedarfe führt natürlich dazu, dass der Arbeitslohn höher ausfallen muss, damit man nicht in die Bedürftigkeit fällt. Das berührt übrigens auch den gesetzlichen Mindestlohn, denn der war aufgrund seiner konkreten Festlegung auf 8,50 Euro pro Stunde im Jahr 2015 nur für einen Alleinstehenden so ausreichend hoch, dass keine Bedürftigkeit im Sinne des SGB II vorlag (vgl. hierzu aus dem Februar 2015 Johannes Steffen: Ein Mindestlohn für Arbeit und Rente. Erforderliche Höhe eines existenzsichernden Mindestlohns). 
Unabhängig, ob man das gut oder schlecht findet - die drei Punkte sollen aufzeigen, mit welchen enormen politökonomischen Herausforderungen die Frage verbunden ist, wie hoch er denn sein darf und sollte, der Regelbedarf im Hartz IV-System.

Fazit: Die Dinge hängen miteinander zusammen und zwar ziemlich klebrig.