Samstag, 16. Juli 2016

Zur Finanzierung der Grundschulen in Deutschland und dem offensichtlich nicht wirklich geschätzten Fundament der Bildungsbiografien

Für das Bildungssystem gilt eine vergleichbare Logik wie für das gewöhnliche Bauen: Das Fundament muss stimmen, sonst ist alle filigrane Feinarbeit in den höheren Stockwerken auf eine im wahrsten Sinne des Wortes wackelige Grundlage gestellt. Und man muss nun wirklich nicht noch einmal die vielen empirischen Studien der vergangenen Jahre und Jahrzehnte aufrufen, die zeigen, dass zum einen in der frühkindlichen Phase der ersten sechs Lebensjahre und dann in der Primarstufe, also den Grundschulen, die Basis gelegt wird (oder eben auch nicht) für die weitere Entfaltung der Bildungsbiografien der jungen Menschen.

Insofern wäre es rational und konsequent, wenn in einer Welt der begrenzten Ressourcen die immer knappen Mittel hinsichtlich ihrer Verteilung so gewichtet werden, dass sie vor allem da eingesetzt werden, wo man die größten Effekte realisieren kann. Und das wäre am Anfang der Bildungsbiografien, also in den ersten zehn Jahren der Kinder. Kurzum - am Anfang müssten wir die höchsten Bildungsausgaben und die besten Bedingungen für pädagogische (und heutzutage immer mehr auch sozialarbeiterische) Arbeit vorfinden. Nun wissen die meisten Beobachter der Wirklichkeit, dass es so gerade nicht ist, sondern ganzem Gegenteil gilt die gesellschaftspolitisch hoch brisante und letztendlich nur historisch zu erklärende Formel: Je älter die Kinder und Jugendlichen, desto mehr wird ausgegeben. Und die schlechtesten Arbeitsbedingungen für das Personal findet man in den ersten Lebensjahren der Kinder.

Auf diesen beklagenswerten Tatbestand wurde diese Tage erneut mit nackten Zahlen die Finanzierung der Grundschulen betreffend hingewiesen. Dazu hat der Bildungsökonom Klaus Klemm ein Gutachten veröffentlicht, in dem er einige Daten zusammengestellt hat:

Klaus Klemm: Finanzierung und Ausstattung der deutschen Grundschulen. Gutachten im Auftrag des Grundschulverbandes e.V., Essen, Juni 2016

Geld ist für Grundschulen Glückssache, so der Titel eines der Artikel, die über das Klemm-Gutachten berichten: »Hamburg gibt am meisten für seine Grundschüler aus, NRW ist Schlusslicht, zeigt ein Gutachten. Bildungsökonomen fordern daher: Schule dürfe nicht allein Ländersache sein.« Und die mit den Zahlen aufgezeigten Unterschiede allein auf der Ebene der Bundesländer sind erheblich: Während der Stadtstaat Hamburg 8.700 Euro pro Schüler und Jahr ausgibt, sind es im Schlusslicht Nordrhein-Westfalen lediglich 4.800 Euro. Im Schnitt geben die 16 Bundesländer an den öffentlichen Grundschulen 5.600 Euro (Jahr 2013) aus, deutlich weniger als für die Sekundarstufe I (5.900) und Sekundarstufe II (7.700 Euro). Ein Grundschulkind erhält mit durchschnittlich rund 24 Wochenpflichtstunden erheblich weniger Lernzeit als Heranwachsende in den weiterführenden Schulen (31 Stunden).
Und auch innerhalb der Bundesländer gibt es ganz erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Ausstattung zwischen den einzelnen Grundschulen.

Der Grundschulverband verweist in seiner Stellungnahme zum Klemm-Gutachten am Anfang auf die positiven Aspekte der Grundschulentwicklung trotz der schwierigen Rahmenbedingungen:

»In Deutschland sind die Grundschulen in ihrer Leistungsbilanz nicht mehr die „Hinterhöfe der Nation“ ... Das hatte sich schon in den Leistungsstudien „IGLU“ (2001 ff.) angedeutet. Bei diesen internationalen Leistungsvergleichen erreichten die deutschen Schüler/innen in den letzten Jahren Plätze im oberen Viertel. Bei der Finanzierung und Ausstattung der Grundschule landet Deutschland – als einer der reichsten Staaten - inzwischen zumindest im OECD-Mittelfeld ... und auch im innerdeutschen Vergleich hat die Grundschule ihren Rückstand gegenüber der Sekundarstufe I und II etwas aufgeholt ... Zudem sind die Klassen bis 2014 kleiner geworden ..., was sich aktuell allerdings wieder zu ändern scheint.«

Nicht zu übersehen sind die Schattenseiten der Grundschulentwicklung:

»Andere international wichtige Vergleichsländer wie die USA, das Vereinigte Königreich, Schweden, die Schweiz und Österreich geben für die ersten vier Grundschuljahre erheblich mehr aus als das reiche Deutschland: Wenn man die Ausgaben – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft der Währungen - in Euro angibt, so zeigt sich, dass Deutschland mit etwa 6.100 € pro Jahr und Schüler/in deutlich weniger ausgibt als viele Länder, die mehr als jährlich 6.700 Euro verausgaben ... Vor allem erhalten die Kinder in den anderen OECD- Staaten während der ersten vier Schuljahre mit durchschnittlich gut 3.000 deutlich mehr Unterricht als die Kinder in Deutschland mit durchschnittlich gut 2.800 Zeitstunden.«

In Europa liegen die Niederlande mit 3.640 Stunden ganz vorne.

Und die offensichtliche Unterfinanzierung der Grundschulen muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass diese mit erheblich gewachsenen Anforderungen konfrontiert werden. Der Grundschulverband hebt drei Aspekte hervor.

1. Im Vergleich zu anderen Schulformen sind die Grundschulen am weitesten in der Entwicklung zu inklusiven Schulen. Die führt angesichts der knappen Personaldecke – insbesondere bei Ausfällen durch Krankheit – regelmäßig zur Überforderung des Personals im Alltag, zum Beispiel bei der Versorgung körperbehinderter Kinder.
2. Auch das Ganztagsangebot ist im Grundschulbereich am größten. Wenn der Nachmittag nicht zu einem bloßen Anhängsel werden soll, sind die Grundschulen in einem besonderen Maße bei der Planung, Abstimmung und Betreuung der pädagogischen Angebote gefordert. Hier fehlt Zeit und Geld.
3. In vielen Grundschulen kommen 30% oder mehr der Kinder aus Armutsfamilien. Das macht schon den Fachunterricht erheblich schwieriger, es überfordert die Lehrer/innen aber auch oft in ihrer Zusatzfunktion als Sozialpädagogin oder Sozialarbeiter.

Und vor diesem Hintergrund muss man dann auch zur Kenntnis nehmen, dass in der letztendlich nur ständestaatlich zu verstehenden Bildungshierarchie die Grundschullehrer/innen, wobei es unter diesen kaum noch Männer gibt, die am schlechtesten besoldete bzw. vergütete Lehrer-Gruppe ist. Und vor kurzem wurde darüber diskutiert: Grundschulleiter? Auf den Job haben Lehrer keine Lust, so haben Freia Peters und Marcel Pauly ihren Artikel überschrieben.

»In Deutschland gibt es etwa 10.000 Grundschulen, etwa 1.000 von ihnen haben keine Leitung. Am schlimmsten ist die Situation in Berlin und in Nordrhein-Westfalen. An Rhein und Ruhr haben von 2787 Grundschulen 345 keine Schulleiter und 670 keinen Stellvertreter ... Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern leiden, wenn die Schulleitung über einen längeren Zeitraum nicht besetzt ist. Rektoren können einer Schule zum Aufstieg verhelfen – oder sie in den Abgrund treiben. Die Situation ist drastischer, als die Zahlen belegen. In Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz etwa werden die unbesetzten Stellen nicht vom Landesbildungsministerium erfasst – zuständig sind die einzelnen Regierungspräsidien und Schulämter. Aber auch hier ist die Tendenz klar. Laut dem Philologenverband bleiben etwa auch in Rheinland-Pfalz einige Schulleiterstellen sogar über mehrere Jahre unbesetzt.«

Bei der Frage nach dem Warum für diese Misere landet man auch wieder bei dem Geld. "Die Bezahlung für Schulleiter an Grundschulen ist völlig unattraktiv", sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, zitiert. »Wer in einer kleinen Schule mit weniger als 180 Schülern vom Lehrer zum Schulleiter aufsteigt, bekommt 180 Euro im Monat mehr. Da lehnen die meisten verständlicherweise dankend ab. Zu enorm ist das Mehr an Aufgaben für eine winzige Summe an zusätzlichem Gehalt.«

Und neben dem mickrigen Zuschlag zum Gehalt: "Die Leitungszeit, die Schulleiter ... zugesprochen bekommen, ist viel zu gering. Die vielen Aufgaben sind in der dafür gewährten Zeit schlicht nicht zu schaffen", so Beckmann.

»Ein Lehrer in Vollzeit muss 28 Stunden wöchentlich unterrichten. Ein Schulleiter wird nur von einem Teil des Unterrichts befreit. Bei einer kleinen Schule muss der Rektor noch die Hälfte der Stunden geben, also 14 pro Woche. Zählt man pro Stunde Unterricht eine Stunde Vorbereitung, verbleiben bei einer 40-Stunden-Woche noch zwölf Stunden, in denen sich ein Schulleiter um die Leitungsaufgaben kümmern könnte.«

Man könnte jetzt noch ergänzend anführen, dass viele Schulleiter an Grundschulen "selbstverständlich" kein voll besetztes Schulsekretariat haben, sondern eine Schulsekretärin für eine Handvoll Stunden in die Schule kommt, weil mehr nicht bewilligt wurde. Keine Klitsche in der normalen Wirtschaft würde unter solchen Bedingungen arbeiten. Bei unseren Grundschulen ist das aber ganz normale Realität und insofern kann man sich nur wundern, dass es immer noch so viele Masochisten gibt, die sich eine Leitungsstelle antun.

Und die Leitung einer Schule ist von ganz grundlegender Bedeutung. In dem Artikel  Grundschulleiter? Auf den Job haben Lehrer keine Lust wird die engagierte Brigitte Unger, Schulleiterin der Karlsgartenschule in Berlin-Neukölln, einer großen Grundschule mit 420 Kindern in einem sozialen Brennpunkt, mit diesen Worten zitiert:
"Es gibt niemanden, der einen auf diesen Job vorbereitet". Auf einmal muss man betriebswirtschaftliche Aufgaben erfüllen, die Kollegen sind aber alle früher Lehrer gewesen und wissen nicht, wie man Stellen ausschreibt und 300.000 Euro verwaltet."

Und dann dieser Passus, der de Bedeutung der Leitungsebene prägnant zusammenfasst:

"Ohne Schulleitung geht es nicht", sagt Unger. "Dann hat niemand einen Überblick über die Lehrer, die kommen nicht zu den Konferenzen, es gibt keine klare Haltung, keinen Respekt." Es müsse jemanden geben, der sagt, wo es langgeht, der Ideen entwickelt, mit dem Schulamt auf Augenhöhe kommuniziert. "Denen muss man auf den Füßen stehen".

Ach ja: Brigitte Unger geht in diesem Sommer in Rente, vier Wochen ist sie noch im Dienst. Dann wird wieder eine Stelle frei.