Mittwoch, 8. Juni 2016

Das Mögliche möglich machen, wenigstens darüber diskutieren und streiten. Kritik am drogenpolitischen Absentismus in Deutschland


Veraltet, realitätsfern, ohne wissenschaftliche Grundlage, so müsse man die deutsche Drogenpolitik charakterisieren. Ein starker Vorwurf, der da im neuen Alternativen Drogen- und Suchtbericht gemacht wird. Es ist nunmehr der dritte Bericht, der hier - nicht nur, aber auch - als Gegenbericht zu den offiziellen Sucht- und Drogenberichten der Drogenbeauftragten der Bundesregierung zu verstehen ist (vgl. den offiziellen Bericht für 2015). Der Präsentation des Drogen- und Suchtberichts 2016 der Bundesregierung, die für den 9. Juni 2016 vorgesehen ist, ist man also ein paar Tage zuvor gekommen, wie auch bei den beiden vorherigen Berichten. Herausgegeben wird der Alternative Drogen- und Suchtbericht, der seit 2014 jährlich erscheint (vgl. den 1. Bericht 2014 und dazu den Beitrag Alternativer Drogen- und Suchtbericht fordert eine neue Strategie in der Drogenpolitik vom 3. Juli 2014 in diesem Blog sowie den 2. Bericht 2015), von diesen Organisationen: akzept Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane DrogenpolitkDeutsche AIDS-Hilfe und JES Bundesverband, wobei JES  für "Junkies, Ehemalige und Substituierte" steht, ein bundesweites Netzwerk von Gruppen, Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen.

Die Bestandsaufnahme unterscheidet sich nicht von den Vorjahren: »Beim Konsum der Volksdrogen Tabak und Alkohol sei Deutschland Weltspitze. "Bei den illegalisierten Drogen führen Strafverfolgung Konsumierender und ein Mangel an Hilfsangeboten zu immer mehr Drogentoten und drastischen Problemen für Konsumierende und Gesellschaft", heißt es im Bericht. So führte eine schlechte Qualität der Substanzen und Marginalisierung der Betroffenen zu gesundheitlichen Risiken wie einer Überdosis, außerdem werde die medizinische Versorgung erschwert. Folgeerkrankungen verursachten ebenso wie Strafverfolgung und Inhaftierung enorme Kosten«, so die Zusammenfassung in dem Artikel Verbände fordern neue Drogenpolitik.

Aber in der deutschen Drogenpolitik herrsche Stillstand, so der Vorwurf der Herausgeber: "Während sich global ein Paradigmenwechsel vollzieht, lehnt die Bundesregierung selbst eine Überprüfung des Betäubungsmittelgesetzes ab, obwohl es seine Ziele verfehlt."

Alina Schadwinkel hat ihren Artikel über den neuen Bericht entsprechend so überschrieben: Drogenpolitik? Eine Katastrophe! Immer mehr Drogentote, verschwendete Milliarden für die Strafverfolgung von Cannabis-Konsumenten sowie anhaltend hoher Tabak- und Alkoholkonsum seien die drei wesentlichen Beispiele für das Versagen der Politik.


Nehmen wir den Aspekt immer mehr Drogentote, nachdem es eine Zeit gegeben hat, wo über zurückgehende Zahlen berichtet wurde. In den Jahren 2008 bis 2013 ist die Zahl der Rauschgifttoten gesunken. Dieser positive Trend wurde allerdings 2013 durchbrochen und für 2015 wird nun im Bundeslagebild des Bundeskriminalamts für das vergangene Jahr von einem drastischen Anstieg der Todesfälle berichtet - es sei eine Zunahme um 18,8 Prozent verzeichnet worden, insgesamt habe der illegale Drogenkonsum 1.226 Menschenleben gefordert, so wird in den Medien berichtet (vgl. beispielsweise den Artikel Zahl der Drogentoten steigt merklich). Weitere Beobachtungen: Auch die Zahl der Erstkonsumenten harter Drogen steige (wobei man eine solche Botschaft immer auch kritisch sehen muss, denn sie spiegeln natürlich auch das polizeiliche Verhalten gegenüber Konsumenten, also bei einer "harten" Verfolgung jeglichen Konsums hat man natürlich auch höhere Zahlen produziert). Heroin und Kokain seien wieder auf dem Vormarsch. Heroin galt seit einigen Jahren als "out", während das besonders gefährliche Crystal Meth auf dem Vormarsch schien. Auch in diesem Bereich muss man auf die Quelle der statistischen Angaben achten: »Die BKA-Statistik ist eine von zwei offiziellen Zählungen in Deutschland: Auch das statistische Bundesamt erfasst Drogentote, zählt allerdings mit einer anderen Methodik als das BKA. Die Statistiker erfassen die Daten aus Totenscheinen, während das BKA durch Obduktionen und Gewebeproben diagnostizierte Todesfälle erfasst, die von den Landeskriminalämtern zugeliefert werden. Da sich auf dieser Ebene Standards unterscheiden, geht man davon aus, dass die BKA-Schätzungen eher konservativ sind. Tatsächlich fallen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes regelmäßig leicht höher aus.«

Zur Einordnung der Zahlen ist aber auch dieser Hinweis wichtig: Den 1.226 Opfern harter Drogen stehen 110.000 Nikotintote und rund 15.000 Alkoholtote im Jahr gegenüber.

Zurück zu dem Artikel von Schadwinkel: »Tatsächlich sind sich Strafrechtler und Forscher einig: Drogenverbote hätten kaum Wirkung, die Strafen für Drogendelikte seien unverhältnismäßig hoch, kaum abschreckend und überaus kostspielig. Derweil würden andere Risiken heruntergespielt. Eindrückliches Beispiel: Alkohol und Tabak. Sie sind seit Jahrzehnten die beliebtesten Volksdrogen. Dabei verursacht keine Droge so umfangreiche soziale und gesundheitliche Schäden wie Alkohol – eine Tatsache, die kein Wissenschaftler bestreitet. Tabak kommt gleich dahinter. In Deutschland sterben rund 200 Menschen pro Tag an den Folgen alkoholischer Getränke, 300 aufgrund des Zigarettenrauchens oder infolge anderer Tabakprodukte. Dennoch sind diese Drogen legal.«

Die Autoren des Alternativen Drogen- und Suchtberichts plädieren erneut gerade am Beispiel von Cannabis für eine andere Drogenpolitik bzw. man müsste korrekter formulieren für überhaupt eine Drogenpolitik jenseits der einzementierten Verhältnisse. Der Einleitung kann man entnehmen:

»Beispiel Cannabis: Hier tut sich was. Langsam aber sicher setzt sich die Einsicht durch, dass Strafverfolgung von Konsumierenden zwar einen unvorstellbaren Aufwand erforderlich macht und jährlich Ausgaben in Milliardenhöhe verursacht, zugleich aber nichts, aber auch wirklich gar nichts zur Lösung des Problems beiträgt. Nur zur Bundesregierung und ihrer Drogenbeauftragten sind diese Entwicklungen noch nicht vorgedrungen. Im Drogen- und Suchtbericht 2015 findet sich dazu: nichts. Eine durchaus wirkmächtige „Drogenpolitik von unten“, die sinnvolle Veränderungen anmahnt und teilweise bereits ins Werk setzt, soll von höchster Stelle offenbar so lange wie möglich ignoriert werden.
Dabei wird nicht nur in Deutschland, sondern weltweit darüber diskutiert, wie sich Vertrieb und Konsum von Cannabis besser kontrollieren ließen als über wirkungs- lose Verbote. Kanada hat gerade die Legalisierung von Cannabis beschlossen. In den USA haben bereits einige Staaten (Washington, Colorado, Alaska, Oregon) Cannabis legalisiert oder sind auf dem Weg, die Prohibition zu beenden ... Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass die Forderung nach gesetzlich kontrollierter Abgabe nicht mehr aufzuhalten ist. Selbst diejenigen Experten, die von Regierungsparteien regelmäßig als Kronzeugen des Status quo aufgerufen werden, wollen weitergehende Regelungen zur Straffreiheit für Cannabis Konsumierende. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch bei anderen Substanzen: Der Krieg gegen Drogen gilt längst als gescheitert, die Suche nach neuen Wegen hat begonnen und Erfolge in Ländern wie Portugal, das den Besitz kleiner Mengen bei allen illegalen Drogen nicht mehr bestraft, taugen als Vorbild.«

Die Herausgeber des Alternativen Drogen- und Suchtberichts fordern vor diesem Hintergrund:
  • eine wissenschaftlich fundierte Überprüfung des Betäubungsmittelgesetzes,
  • staatlich kontrollierte Abgabe von bisher illegalen Substanzen (bei Cannabis z.B. über autorisierte Geschäfte, bei Heroin über das Medizinsystem), als erster Schritt Straffreiheit beim Besitz von geringen Mengen,
  • flächendeckende Einführung lebensrettender Maßnahmen wie Drogenkonsumräume und die Verfügbarkeit des Notfallmedikaments Naloxon sowie Druck-Checking und Spritzenvergabe in Haft.
"Es geht nicht um eine generelle Drogenfreigabe, sondern darum, mehr Kontrolle zu erlangen und Schäden zu reduzieren. Die Politik muss endlich das Mögliche möglich machen!", so Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Science. Das wird unterstützt von Bernd Werse vom Centre for Drug Research der Goethe-Universität Frankfurt:„Eine staatliche regulierte Abgabe von Cannabis kann Verbraucher- und Jugendschutz sehr viel besser gerecht werden als ein krimineller Markt außer Kontrolle. Milliarden Euro Steuergelder werden jährlich sinnlos für Strafverfolgung verbrannt. Dieses Geld könnte wesentlich sinnvoller für Prävention und Drogenhilfe eingesetzt werden!“

Und Ulf Hentschke-Kristal, Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe hebt hervor: „Die Strafverfolgung heroinabhängiger Menschen ist aberwitzig. In Haft besteht ein dramatisch höheres HIV- und Hepatitisrisiko. Mit einfachen Maßnahmen ohne Risiken und Nebenwirkungen könnten stattdessen zahlreiche Menschen gerettet werden. Darauf zu verzichten, kann man nur als unterlassene Hilfeleistung bezeichnen.“

Und Marco Jesse vom Bundesverband JES („Junkies, Ehemalige und Substituierte“) wird mit diesen Worten zitiert: Marco Jesse vom Bundesverband JES („Junkies, Ehemalige und Substituierte“): „Das Festhalten an einem überholten Abstinenz-Paradigma hilft niemandem. Der Konsum illegalisierter Substanzen findet sich auf allen Gesellschaftsebenen und in unterschiedlichster Ausprägung. Die aktuelle Drogenpolitik ermöglicht jedoch keine Unterscheidung zwischen Genusskonsumenten und abhängigen Menschen. Die Kriminalisierung von Konsumenten fördert einzig Stigmatisierung und Ausgrenzung. 

Auch aus der Strafverfolgung und den Reihen der Polizei gibt es Schützenhilfe für eine Infragestellung des Status-Quo (bereits vor einiger Zeit wurde eine Resolution deutscher Strafrechtsprofessorinnen und –professoren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages - Notwendigkeit der Überprüfung der Wirksamkeit des Betäubungsmittelgesetzes - von 123 Rechtsgelehrten unterschrieben mit der klaren Aussage: Die strafrechtliche Drogenprohibition ist gescheitert, sozialschädlich und unökonomisch):

André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter: „Das Strafrecht ist bei Drogenkonsum nicht das geeignete Instrument. Es bedarf einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den zahlreichen offenen Fragen und einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Ein ,Weiter wie bisher‘ ist ganz sicher nicht der zielführende Weg.“
Der auch aus den Medien bekannte Jugendrichter Andreas Müller aus Bernau bei Berlin führt aus: „Die Prohibition hat in den vergangenen vier Jahrzehnten weit über eine halbe Million überwiegend junge Menschen wegen Cannabis in den Strafvollzug gebracht. Jugendliche weichen teilweise auf so genannte Legal Highs aus, nicht selten mit tödlichen Folgen. Polizei und Justiz führen jährlich rund 150.000 Ermittlungsverfahren durch – überwiegend für den Papierkorb. Es ist höchste Zeit, die sinnlose, kostenintensive und gefährliche Prohibitionspolitik zu beenden.“

Und Hubert Wimber, ehemaliger Polizeipräsident von Münster und Vorsitzender von LEAP Deutschland („Law Enforcement against Prohibition“) wird mit diesen Worten zitiert: „Nicht Kriminelle, sondern ganz überwiegend Konsumenten werden zu Beschuldigten, obwohl sie niemandem schaden – außer in manchen Fällen sich selbst, was nach unserer Rechtsordnung nicht strafbar ist. Die Strafbarkeit des Drogenkonsums ist auch ein durch nichts gerechtfertigter Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Drogenkonsum ist ein Politikfeld der Gesundheitspolitik und nicht der Kriminalpolitik.“

Man kann nur hoffen, dass dieser vielstimmige Chor endlich auf die notwendige Resonanz im politischen Raum stößt.