Donnerstag, 27. August 2015

Ein entleerter, weil folgenloser Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, wenn das Um-die-Ecke-Denken mancher Richter so bleibt, wie es vom Oberlandesgericht Dresden verkündet wurde

Manche werden sich noch erinnern an die aufgeheizten Diskussionen im Vorfeld des Scharfstellens des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr des Kindes zum 1. August 2013. Da wurde der „Kita-Notstand“ oder gar das „Kita-Chaos“ beschworen und viele Debatten drehten sich um die Befürchtung so mancher Kommune, dass es zu massenhaften Klagen auf Schadensersatz seitens der Eltern gegen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die für die Umsetzung des Rechtsanspruchs zuständig sind, kommen könnte, weil man schlichtweg nicht genügend Angebote hatte (und hat), um die jeweilige Nachfrage auch bedienen zu können.

Skeptiker haben bereits damals darauf hingewiesen, dass es wahrscheinlich keine Klagewelle seitens der Eltern geben wird, denn diese sind zwar sehr viele, aber sie sind zugleich atomisiert, auf sich selbst gestellt, ohne eine kollektive und schlagkräftige Interessenorganisation und sie tun das, was sie immer tun als System Familie – sich irgendwie arrangieren mit den Verhältnissen, das Beste aus der Situation zu machen versuchen, zu überbrücken, Lücken zu stopfen und auf Sicht zu segeln.
Dabei hat allein die Angst in nicht wenigen Kommunen vor möglichen Schadensersatzforderungen seitens der Eltern bei Nicht-Erfüllung des Rechtsanspruchs sicherlich erheblich dazu beigetragen, dass es in den vergangenen Jahren einen erheblichen Ausbauschub gegeben hat, der in vielen Regionen die Angebotssituation deutlich verbessert hat.

Darüber hinaus sollte man meinen, dass ein individueller Rechtsanspruch in einem ordentlichen Staat wie Deutschland immer auch damit verbunden sein muss, dass man gegen seine Nicht-Erfüllung bei gewünschter Inanspruchnahme mit dem scharfen Schwert der Klage und der möglichen Schadensersatzpflichtigkeit der Gegenseite agieren kann.

Genau so haben wohl auch drei Mütter aus Leipzig gedacht. Sie hatten geltend gemacht, dass sie länger zu Hause bleiben mussten, weil ihnen die Stadt Leipzig keinen Platz für ihr Kind anbieten konnte. Sie wollten für ihren Verdienstausfall insgesamt 15.000 Euro Schadenersatz plus Zinsen. Eine Art Vorläufer-Verfahren hatte es bereits gegeben, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied zu dem Verlangen auf Entschädigung für den Verdienstausfall, wie er jetzt von den drei Müttern aus Leipzig vorgetragen wurde:

»Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, dass in solchen Fällen Eltern eine private Betreuung in Anspruch nehmen können, die meist teurer ist. Die Mehrkosten muss dann grundsätzlich die zuständige Stadt übernehmen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im September 2013 die Stadt Mainz zu 2.200 Euro Schadenersatz verurteilt. Die Mutter musste ihre Tochter damals monatelang in einer privat organisierten Elterninitiative unterbringen, obwohl sie ihre Tochter rechtzeitig für einen Kita-Platz angemeldet hatte«, kann man dem Artikel Herber Rückschlag für Mütter von Ursula Knapp entnehmen.

Die Fallkonstellation, die nun zu dem Urteil des OLG Dresden geführt hat, war aber eine andere als im Mainzer Fall, denn: »Die drei Familien hatten nämlich keinen privaten Betreuungsplatz in Anspruch genommen, nachdem ihre Kinder leer ausgegangen waren. Vielmehr waren die Mütter länger zu Hause geblieben. Für diesen Verdienstausfall wollten sie nun Schadenersatz von der Stadt Leipzig.«

Diesem Anliegen wurde am Anfang des Musterprozesses auch entsprochen: In der ersten Instanz hatte das Landgericht Leipzig die Stadt verurteilt, 15.000 Euro plus Zinsen an die Familien zu zahlen. (Az.: 1 U 319/15, 1 U 320/15, 1 U 321/15). Mit Blick auf die beklagte Stadt muss man wissen: In Leipzig fehlten nach Angaben der Stadtverwaltung in diesem Sommer noch knapp 1.200 Kita-Plätze, so der Artikel Fehlende Kitaplätze - Städte müssen keinen Schadensersatz zahlen. Wir reden hier also nicht über Einzelfälle.

Nun aber die gegenteilige Entscheidung des OLG in Dresden. Mit welcher Begründung wurde diese Kehrtwende vollzogen? Da muss man wie so oft bei Urteilen mindestens einmal um die Ecke denken:
Das OLG hat nun entschieden, dass die Stadt zwar ihre Amtspflicht verletzt habe, den Eltern rechtzeitig einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen. Dem Argument der Stadt, bei den privaten Trägern habe es bauliche Verzögerungen gegeben, die die Stadt nicht zu verantworten habe, folgten die Richter nicht. Diese Amtspflichtverletzung der Stadt führe aber nun nicht dazu, dass ein Elternteil seine Gehaltseinbußen einklagen könne. Warum nicht? Ziel des Gesetzes sei aber die frühkindliche Förderung. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei lediglich die Folge des Gesetzes, teilte das OLG mit. Deswegen könnten die Eltern keinen Schadensersatz verlangen.
»Die Begründung wörtlich: „Den Klägerinnen selbst steht kein Anspruch auf einen Platz für ihr Kind in einer Kindertagesstätte zu. Anspruchsinhaber sei alleine das Kind.“ Die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Eltern sei nur eine Folge des Anspruchs des Kindes. „Mittelbare Schäden der Eltern, wie der Verdienstausfall, sind hier nicht inbegriffen“, so der 1. Zivilsenat in Dresden. (Aktenzeichen: OLG Dresden 1 U 319/15, 1 U 320/15, 1 U 321/15)«, so Ursula Knapp in ihrem Artikel.

Die richtigen Worte zu dieser Entscheidung findet Heribert Prantl in seinem Kommentar Kita-Anspruch wird degradiert: » Die Richter in Dresden haben aus dem Recht auf einen Kita-Platz einen hohlen Spruch gemacht. Ihre Argumentation ist vermeintlich logisch, aber realitätsblind.«
Und weiter:

»Die Richter haben geurteilt: Wenn es keinen Kitaplatz gibt, wenn also der ansonsten berufstätige Vater oder die berufstätige Mutter deswegen zu Hause beim Kind bleiben müssen, dann folgt daraus - nichts. Kein Schadenersatzanspruch für den Verdienstausfall, keine Entschädigung, kein müder Euro. Die Richter gestehen zwar zu, dass die saumselige Kommune ihre Amtspflicht verletzt hat; aber auch daraus folgt angeblich - nichts.«

Nach Prantl verkennen die Dresdner Richter den Lebenszusammenhang. Der Verdienstausfall der Eltern ist ein Folgeschaden der Amtspflichtverletzung. Vor dem Hintergrund, dass Revision zugelassen wurde, hofft Prantl, dass der »Bundesgerichtshof ... hoffentlich in letzter Instanz das Dresdner Urteil wieder korrigieren (wird). Es entfällt sonst ein Druckmittel der Eltern, das Recht ihres Kindes auf einen Kita-Platz auch durchzusetzen.« Wohl wahr.

Es handelt sich hier keineswegs um einen lokalen Einzelfall, wie ein Blick in den Artikel Quälendes Warten auf einen Krippenplatz von Melanie Staudinger zeigen kann, die sich mit der Situation in München beschäftigt hat. Die Bilanzierung des Geschehens in München ist für Eltern nicht wirklich vielversprechend, ganz im Gegenteil:

»Die Prozess-Statistik des Bildungsreferats zählt insgesamt 106 Verfahren von 83 Klägern und Antragstellern. Verloren hat die Stadt bisher kein einziges davon. Ganz im Gegenteil: In 63 Fällen hat sie gewonnen, die Klagen sind zurückgenommen oder für erledigt erklärt worden - oft erhalten Eltern noch im Gerichtssaal ein Angebot vom Bildungsreferat. Die restlichen 43 Verfahren sind noch offen, dürften aber ähnlich ausgehen wie bisher.«

In der Münchner Prozess-Statistik sind die drei Hauptklagegründe enthalten:

»Die meisten Eltern, die klagen, wollen lediglich den Rechtsanspruch durchsetzen (etwa 60 Prozent der Fälle), also einen Krippenplatz haben, der ihnen vor einem Prozess dann meist noch angeboten werden kann. Der Rest will ..., dass die Stadt ihnen den Differenzbetrag zwischen ihrer teureren Kindertagesstätte und einer städtischen Einrichtung erstattet. Oder aber Eltern wollen, dass das Bildungsreferat ihren Verdienstausfall begleicht, weil sie erst später einen Kita-Platz bekamen und nicht wie geplant arbeiten konnten.«

Besonders ärgerlich aus Sicht der betroffenen Eltern ist eine Erfahrung, die man in München hat sammeln müssen mit der Argumentation der Stadt, der sich die Richter offensichtlich angeschlossen haben: Gesetzlich sei nur wichtig, dass ein Platz offeriert wurde, selbst ein verspätetes Angebot reiche aus. Damit laufen auch die Klagen ins Leere, die nicht wie die drei Leipziger Mütter auf Schadensersatz für den Verdienstausfall klagen, sondern „nur“ um die Erfüllung des Rechtsanspruchs, denn den meisten wird spätestens im Verfahren irgendein Angebot organisiert, dass ihnen dann aber vor Gericht den Wind aus den Segeln nimmt.

Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Geschichte mit David gegen Goliath auch anders ausgehen kann, als sie überliefert ist.