Samstag, 29. November 2014

Wir sind auf dem Weg in die Vollbeschäftigung, sagt der Chef der Bundesagentur für Arbeit. Wenn da nicht wären: Die Langzeitarbeitslosen, die Schwerbehinderten ...

Das ist doch mal eine Ansage: "Ab 2020 haben wir Vollbeschäftigung", so der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise. Dann wird ja alles gut. Ärgerlich nur, dass es da nicht wenige Abweichler zu geben scheint, die im Schatten der sonnigen Prognose zu verharren scheinen. Beispielsweise die Langzeitarbeitslosen, vor allem diejenigen, die schon seit mehreren Jahren ohne eine Beschäftigung sind. Denn deren Zahl hat in den vergangenen Jahren - also in einer arbeitsmarktlich guten Zeit mit steigender Beschäftigung und rückläufiger offizieller Arbeitslosigkeit - noch zugenommen. Neue Studien verdeutlichen das Problem der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit. Vgl. dazu beispielsweise die Berechnungen in der Studie Es werden mehr. Aktualisierte Abschätzung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung aus der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit, die im Oktober 2014 veröffentlicht wurde. Mehr als 480.000 Menschen in Deutschland sind zwar erwerbsfähig, aber gleichzeitig so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf Arbeit gen Null tendieren. Ebenfalls von der Lage ihrer Eltern betroffen sind 340.000 Kinder unter 15 Jahren, die in den Haushalten der besonders benachteiligten Arbeitslosen leben. Ein Jahr zuvor waren es noch 435.000 Menschen und 305.000 Kinder. Wir sehen hier also Anstiege von 10 bzw. 11,5%.
Und auch die Situation der Schwerbehinderten hat sich hinsichtlich ihrer Arbeitsmarktintegration keineswegs verbessert, sondern ganz im Gegenteil verschlechtert - unter wohlgemerkt günstigen allgemeinen arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen.

Insofern ist die Überschrift eines Artikels von Stefan Sauer - Menschen mit Behinderung weiter im Nachteil - leider nicht überraschend. An schwerbehinderten Arbeitsuchenden ist die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, von der überall berichtet wird, fast spurlos vorüber gegangen. Ihre Arbeitslosenquote liegt mit 14 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine Quote, so Sauer. An der Situation schwerbehinderter Arbeitsloser - sie sind weitaus häufiger arbeitslos und warten deutlich länger auf einen Job als nicht behinderte Menschen - hat sich seit 2009 nicht viel geändert. Nach dem neuen „Inklusionsbarometer 2014“ der Aktion Mensch geht es Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt heute kaum besser als im Mittel der vergangenen fünf Jahre.

»Im Auftrag der Aktion Mensch führt das Handelsblatt Research Institute mit dem Meinungsforschungs­institut Forsa seit 2013 jährlich eine bundesweite, repräsentative Umfrage durch. Aus den Ergebnissen dieser Umfrage und einer Analyse verfügbarer amt­licher Daten zur Beschäftigung Schwerbehinderter wurde für Deutschland ein Inklusionsbarometer entwi­ckelt. Für das diesjährige Inklusionsbarometer haben wir 402 Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeiter­innen und Mitarbeitern, die Menschen mit Behinde­rung beschäftigen, sowie 803 berufstätige Arbeit­nehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung zur Arbeitsmarktsituation und zu ihren Erfahrungen mit­einander in der Arbeitswelt befragt.« (Inklusionsbarometer 2014, S. 4)

Die Aktion Mensch berichtet über einige Ergebnisse aus dem "Inklusionsbarometer 2014" und der Überschrift Inklusion kommt im Berufsleben nur schleppend voran:

»Die Zahl der Arbeitssuchenden mit Schwerbehindertenausweis legte danach um rund 3.000 auf 179.000 Menschen zu. Die Arbeitssuche dauert in dieser Gruppe im Durchschnitt 100 Tage länger, die Quote der Arbeitslosen mit Behinderung liegt mit 14 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote. Insgesamt hat sich das Inklusionsklima bei Arbeitgebern, also die Bereitschaft zur Einstellung, gegenüber dem Vorjahr etwas abgekühlt.

Rund 60 Prozent aller Arbeitgeber in Deutschland bleiben unterhalb der geforderten Einstellungsquote für Menschen mit Behinderung von fünf Prozent ... Sie zahlen stattdessen die gesetzliche Ausgleichsabgabe. Diese wird bei Unternehmen mit mehr als 20 Angestellten fällig.«

Unternehmen ab 20 Beschäftigten haben in Deutschland die Pflicht, mindestens fünf Pro­zent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Men­schen zu besetzen. Unterschreitet ein Unternehmen diese Quote, muss es eine gestaffelte Ausgleichsab­ gabe von bis zu 290 Euro im Monat je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz zahlen. Allerdings: Fast 3,4 Millionen Betriebe mit weniger als 20 Mitarbeitern werden mit dieser Zahlung gar nicht konfrontiert.
Offensichtlich gibt es (immer noch) erhebliche Informationsdefizite auf Seiten der Arbeitgeber, denn: »Etwa jeder vierte Firmenchef weiß nichts von der staatlichen Eingliederungshilfe, die aus der Ausgleichsabgabe zur Verfügung steht.« Allerdings gilt auch: Wenn ein Unternehmen konkrete Erfahrungen mit der Beschäftigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern gemacht hat, dann werden diese Menschen deutlich besser beurteilt als bei denen, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben:

»Mehr als drei Viertel aller Unternehmer ... sehen keine Leistungsunterschiede zwischen den Berufstätigen mit und ohne Behinderung.«

Interessant sind auch die regionalen Unterschiede:

»Erstmals gibt es auch eine Regionalisierung der Ergebnisse. Danach ist Inklusion weniger stark vom Wohlstand einer Region abhängig als erwartet. Ostdeutschland, das bei den Wirtschaftsleistungen pro Kopf in der Bundesrepublik Schlusslicht ist, hat bei der Inklusionslage die Nase vorn. Baden-Württemberg, eigentlich ein ökonomisches Kraftzentrum, findet sich nur am Ende wieder. Die höchste Beschäftigungsquote hat danach Hessen, gefolgt von NRW. Im bevölkerungsreichsten Bundesland ist zudem das Inklusionsklima am besten.«

Stefan Sauer lässt in seinem Artikel auch die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, zu Wort kommen, die darauf hinweist, dass es zahlreiche, sehr unterschiedliche Gründe für die unbefriedigende Entwicklung gibt. So gestalte sich der Übergang von der Förderschule in die Berufsausbildung und den ersten Arbeitsmarkt häufig schwierig. Auf der einen Seite stünden Arbeitgeber, die keine persönlichen Erfahrungen mit behinderten Menschen hätten und vor der Einstellung zurückschreckten. „Viele Betriebe sehen erst einmal die vermeintlichen Schwierigkeiten“, so Benetze. Andererseits zeigen auch die Absolventen von Förderschulen nicht selten Scheu, sich offensiv auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bewerben. Das Verlassen des Schutzraums Förderschule sei nicht immer einfach, so Bentele. Eine zweite, noch größere Gruppe der Betroffenen wurde von einer Schwerbehinderung erst im Lauf des Berufslebens durch eine Erkrankung betroffen. Viele dieser Behinderten verlieren nach Erkenntnissen der Behindertenbeauftragten den Anschluss an den Arbeitsmarkt, etwa durch längere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit.

Fazit: Das allgemeine Gerede über der Perspektive "Vollbeschäftigung" erweist sich als Ideologie, dass nicht nur einige wenige, sondern Millionen von Menschen irgendwie vor die Klammer des Begriffs zieht.

Aber gerade angesichts der erneut vorgetragenen Problemdiagnose einer fehlenden erkennbaren Verbesserung für die schwerbehinderten Menschen im Kontext einer an sich guten Entwicklung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stellen sich zwei grundlegende Fragen, die hier nur in den Raum gestellt werden können, aber unbedingt weiter zu diskutieren wären:
  • Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es eine durchaus bereit ausgebaute Infrastruktur der Hilfe und Unterstützung schwer behinderter Menschen hinsichtlich ihrer Integration in den Arbeitsmarkt gibt. Eine ganze Reihe an Akteurinnen bieten hier ihre Unterstützung an. Wenn sich dennoch die Situation der schwer behinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt nicht erkennbar verbessert, dann muss das nicht, aber kann sehr wohl zu tun haben mit einer grundsätzlichen Exklusion bestimmter Personen aus der heutigen Arbeitswelt. Zugespitzt formuliert: Auch unter Berücksichtigung der zahlreichen Hilfen, die man bei der Einstellung eines schwerbehinderten Menschen in Anspruch nehmen kann, reduzieren viele Arbeitgeber ihre Beschäftigung angesichts der realen Bedingungen auf dem heutigen „Turbo-Arbeitsmarkt“ auf Menschen, die aus ihrer Sicht uneingeschränkt verfügbar sind und den Produktivitätserwartungen entsprechen. Eine vergleichbare Fragestellung stellt sich ja auch bei der Integration von Langzeitarbeitslosen. Letztendlich geht es hier um die überaus schwierige Frage, ob es auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes überhaupt noch genug Andockstellen  für eine Arbeitsmarktpolitik gibt, deren konzeptioneller Ansatzpunkt der technische und auch monetäre Ausgleich der so genannten „Minderleistungsfähigkeit“ der betroffenen Menschen ist.
  • Davon abgesehen: Als eine gesicherte Erkenntnis kann gelten, dass die entscheidende Hürde für eine bessere Integration schwerbehinderter Menschen in den Arbeitsmarkt der Zugang zu einer Beschäftigung in den Unternehmen ist. Denn wenn Unternehmen einmal solche Menschen beschäftigen, dann gibt es in aller Regel sehr positive Bewertungen, auch der Leistungsfähigkeit und damit des angeblich so wichtigen Produktivitätskriteriums seitens der Arbeitgeber. Wobei man natürlich einschränkend anmerken muss, dass das sicherlich nicht für alle schwerbehinderten Menschen gelten kann, denn ab einem bestimmten Grad der Behinderung wird man nie oder nur anteilig die Leistungsfähigkeit eines „Normal-Beschäftigten“ erreichen können. Aber genau dafür stehen dann ja entsprechende Ausgleichsmaßnahmen zur Verfügung, mit deren Hilfe den Arbeitgebern die Angst vor einer zusätzlichen Kostenbelastung genommen werden kann bzw. könnte. Wenn also die entscheidende Hürde der Zugang zu einer Beschäftigungsmöglichkeit ist, dann muss man offen darüber nachdenken, ob es möglicherweise im bestehenden System Barrieren gibt, die potentielle Arbeitgeber schwerbehinderter Menschen von einer Einstellung zurückschrecken lassen. Auch wenn das unter den Experten immer wieder als nicht zutreffend bezeichnet wird: Man sollte nicht unterschätzen, welche psychologische Kraft im negativen, hier abschreckenden Sinne entfaltet wird seitens der besonderen Schutzregeln für diese Menschen, die nur für sie auf dem Arbeitsmarkt mit sicher absolut redlichen Motiven installiert worden sind. Damit sind nicht nur die spezifischen Kündigungsschutzregeln gemeint, auch die besondere Berücksichtigung bei Bewerbungsverfahren verursachen unter vielen, selbst wohlwollenden Arbeitgebern Abwehrreflexe. Vielleicht sollte man Inklusion "einseitig positiv" definieren. Also eine gezielte Förderung und Unterstützung im Sinne eines Nachteilsausgleichs, wenn das dazu beiträgt, die behinderten Menschen auf "gleiche Augenhöhe" oder in die Nähe davon zu bringen. Aber ansonsten eine Gleichbehandlung mit den anderen Arbeitnehmern. Beispielsweise im Kündigungsschutzrecht. Das allerdings würde konsequent zu Ende gedacht zahlreiche, teilweise nur historisch zu verstehende Sonderregelungen hinfällig machen. Eine Diskussion wäre das auf alle Fälle wert.