tag:blogger.com,1999:blog-68909058349096956212024-02-07T17:46:36.933+01:00Aktuelle SozialpolitikInformationen, Analysen und Kommentare aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik Unknownnoreply@blogger.comBlogger1280125tag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-26903982235107013282018-06-13T10:35:00.000+02:002018-06-13T10:35:04.787+02:00Wichtiger Hinweis:<div>
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Die Umstellung hat auch den Grund, dass ich jetzt ein Design verwenden kann, das auf Tablets und Smartphones eine leserfreundliche Darstellung ermöglicht.</div>
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Alle Beiträge hier im Blog sind weiter erreichbar. Der Blog wird nicht gelöscht.</div>
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Bitte bleiben Sie meinem Blog und damit mir weiter gewogen. Wie immer gibt es Informationen, Analysen und Kommentare zu den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik kompakt und nicht selten auch bewusst textlastig unter <a href="http://www.aktuelle-sozialpolitik.de/">www.aktuelle-sozialpolitik.de</a>. </div>
Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-56852037507729969822018-06-10T12:56:00.001+02:002018-06-10T13:13:48.273+02:00Bildungsforschung: Auf dem Gymnasium abstürzende Einser-Schüler durch einen "falschen Familienhintergrund" und der potenzielle Segen kleinerer Klassen in der Grundschule<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgojFd_ZEZ52CHzMDsfvZ_t2QktRX1nHcnuHiT7h1qyTJU3gH0LbrkN5HBrz4N06wnhDPVCYEBulLGB73_hSxlMxH7_TEQCDD8XVQG0pR733XzKPr6mRbiWSGE3VfwUkoR2fD8xrKgWZM4t/s1600/DIW-Studie+Gymnasiasten.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="426" data-original-width="850" height="200" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgojFd_ZEZ52CHzMDsfvZ_t2QktRX1nHcnuHiT7h1qyTJU3gH0LbrkN5HBrz4N06wnhDPVCYEBulLGB73_hSxlMxH7_TEQCDD8XVQG0pR733XzKPr6mRbiWSGE3VfwUkoR2fD8xrKgWZM4t/s400/DIW-Studie+Gymnasiasten.jpg" width="400" /></a></div>
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Immer wieder ist das ein Thema: die ausgeprägte soziale Selektivität des deutschen Schulsystems (wobei die Verwendung des Begriffs System und dann noch angesichts des föderalen Flickenteppichs des Singulars ein doppelter Euphemismus ist). Anders ausgedrückt: Gerade in Deutschland hat der familiale Hintergrund der Kinder und Jugendlichen einen sehr großen Stellenwert. Zugespitzt formuliert behaupten einige: Auf das Elternhaus kommt es an - und damit auch: Die Bildungsinstitutionen schaffen es nicht, die unterschiedlichen Startbedingungen auch nur annähernd auszugleichen. Nicht wenige würden sicher so weit gehen zu sagen, dass manche Bildungsinstitutionen sogar die Scherenentwicklung zwischen unten und oben aktiv mit vorantreiben (vgl. dazu auch mit Blick auf das Hochschulsystem den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2018/05/soziale-selektivitaet-der-hochschulen.html" target="_blank">Soziale Selektivität der Hochschulen: Beim "Bildungstrichter" kommen von denen, die oben reinkommen, unten teilweise nur ganz wenige raus. Und man muss sich hier unten als oben denken</a> vom 13. Mai 2018).<br />
<br />
Aber selbst, wenn die Kinder auf einem gemessenen gleich hohen Level starten, kann man im weiteren Verlauf eine Scherenentwicklung erkennen zuungunsten der Schüler, die aus Familien kommen, bei denen ein niedriges (formales) Bildungsniveau festgestellt wurde. Das behauptet diese neue Studie aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW):<br />
<br />
Sophie Horneber und Felix Weinhardt (2018): <a href="http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.591249.de/18-23-1.pdf" target="_blank">GymnasiastInnen aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau verlieren im Laufe der Schulzeit deutlich an Boden</a>, in: DIW Wochenbericht, Nr. 23/2018<br />
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In der medialen Aufarbeitung der Studie kann man dann - nun ja - ambivalente Zusammenfassungen lesen, so beispielsweise »Bildungsforscher warnen: Wer den falschen Familienhintergrund hat, verliert schnell den Anschluss«. So Armin Himmelrath in seinem Artikel <a href="http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/schulstudie-bildungsferne-einser-gymnasiasten-droht-absturz-a-1211278.html" target="_blank">Welchen Einser-Gymnasiasten der Absturz droht</a>, in dem er über die neue Studie berichtet. »Gymnasiasten, deren Eltern ein niedriges Bildungsniveau haben, fallen im Laufe ihrer Schulzeit immer weiter zurück. Besonders groß ist die Gefahr, wenn sie in der fünften Klasse in Mathematik und Deutsch noch Einsen auf dem Zeugnis stehen hatten«, so Himmelrath eines der auf den ersten Blick überraschenden Befunde der neuen Studie zitierend. Eine weitere Auffälligkeit: "Gerade die besonders guten Kinder ohne den entsprechenden Bildungs-Background verlieren am Gymnasium massiv an Boden", zitiert er Felix Weinhardt, einer der Autoren der Studie. Bei Schülern auf der Realschule, deren Leistungen ebenfalls untersucht wurden, sei der Effekt dagegen nicht zu beobachten gewesen: "Hier geht die Schere im Schulverlauf nicht weiter auseinander."<br />
<br />
<br />
Diese Befunde muss man auch vor diesem aus vielen anderen Studien bekannte Problematik sehen und bewerten: Bereits die Übergangsquoten von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen zeigt eine erhebliche Selektivität nach dem Familienhintergrund: Kinder aus einem Elternhaus mit hohem Bildungsniveau gehen zu 61 Prozent aufs Gymnasium und nur zu drei Prozent auf die Hauptschule. Ist das formelle Bildungsniveau des Elternhauses niedrig, schaffen es nur 22 Prozent der Kinder auf ein Gymnasium, 21 Prozent dagegen besuchen eine Hauptschule.<br />
<br />
Die Dramatik der neuen Befunde kann man sich vor Augen führen mit dieser Argumentation: Wenn schon nur deutlich weniger Kinder aus Familien, in denen die Eltern einen niedrigen Bildungsstand haben, überhaupt an ein Gymnasium kommen und wenn man dann noch die betrachtet, die mit exzellenten Noten den Sprung in diese Zitadelle des Bildungsbürgertums geschafft haben, dann kann man doch davon ausgehen, dass die es geschafft haben und erfolgreich ihren Weg machen.<br />
Tatsächlich aber, so die Studie, ist bei ihnen die Gefahr eines regelrechten Absturzes im Laufe der nächsten Jahre groß.<br />
<br />
Aus der Zusammenfassung der <a href="http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.591249.de/18-23-1.pdf" target="_blank">Studie</a> kann man die folgenden Punkte entnehmen (vgl. Horneber/Weinhardt 2018: 478):<br />
<br />
Kinder, die auf ein Gymnasium gehen und Eltern mit einem niedrigen Bildungsniveau haben, fallen im Laufe ihrer Schulzeit leistungsmäßig immer weiter zurück. Das gilt insbesondere dann, wenn sie in der fünften Klasse in den Fächern Mathematik und Deutsch noch Einserschüler waren. Diese Studie, die auf Basis des <a href="https://www.neps-data.de/de-de/startseite.aspx" target="_blank">Nationalen Bildungspanels (NEPS)</a> als eine der ersten den Schulerfolg von Kindern während der gesamten Pflichtschulzeit von der ersten bis zur neunten Klasse unter die Lupe nimmt, zeigt, wie wichtig der elterliche Bildungshintergrund für die Schulnoten der Kinder ist. Schon in der Grundschule gibt es deutliche Unterschiede in den sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten nach dem Elternhaus. Dies spiegelt sich später auch in der Aufteilung<br />
auf die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe wider. Während die Noten in der Realschule über die Zeit relativ konstant bleiben, schneiden an Gymnasien die ohnehin schon wenigen Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau über die Zeit deutlich schlechter ab. Neben einer gezielteren Förderung im frühkindlichen Alter sollten diese Kinder vor allem in der Schule stärker unterstützt werden.<br />
<br />
Warum die betroffenen Kinder bei den Noten so stark absinken, beantwortet die Untersuchung nicht. Dazu schreiben die beiden Wissenschaftler, »dass möglicherweise eine Vielzahl von Drittfaktoren die hier aufgezeigten Zusammenhänge anstelle der elterlichen Bildung hervorruft. Zukünftig sollte untersucht werden, ob sich das relativ schlechtere Abschneiden von Kindern aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau beispielsweise dadurch erklären lässt, dass es Unterschiede in der Nutzung von Nachhilfe, beim Familienklima oder hinsichtlich des Umgangs mit Problemen während der Pubertät gibt.« (Horneber/Weinhardt 2018: 482). Möglicherweise - möchte man hier explizit ergänzen - ist es aber auch die "Kultur" vieler Gymnasien, die zu solchen Ergebnissen beitragen. Dass das eine Rolle spielen wird, kann man ja auch aus dem Befund in der Studie ableiten, dass es bei den Realschulen keine Evidenz dafür gibt, dass die Schere im Schulverlauf auseinandergeht. Also könnte das Problem ja durchaus was mit den oder vielen Gymnasien an sich zu tun haben.<br />
<br />
Die beiden Autoren geben trotz der fehlenden Ursachenanalyse Handlungsempfehlungen:<br />
Wichtig sei es jetzt, auf die besonders guten Fünftklässler mit wenig bildungsstarkem Elternhaus "ein besonderes Augenmerk der Schul- und Bildungspolitik" zu legen. Felix Weinhardt: "Gymnasiasten aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungshintergrund sollten gezielter gefördert werden." Dazu das <a href="http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.591251.de/18-23-2.pdf" target="_blank">Interview</a> mit Felix Weinhardt: „GymnasiastInnen aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungshintergrund sollten gezielter gefördert werden“.<br />
<br />
Nun ist das hier angerissene Problem keines, das nur in den Gymnasien eine Rolle spielt - gerade Horneber und Weinhardt haben in ihrer Studie darauf hingewiesen, dass es bereits zu Beginn der Grundschule große Unterschiede nach dem Bildungsniveau im Elternhaus gibt, was die von den Lehrern eingeschätzten Fähigkeiten der Kinder angeht. Diese Unterschiede bleiben in der Grundschule relativ konstant, um sich aber später auf der weiterführenden Schule zu verstärken.<br />
<br />
Wie sieht es also mit den Grundschulen aus? Auch hier werden wir mit neuen Forschungsbefunden konfrontiert, die auch deshalb interessant und beachtenswert sind, weil sie eine immer wieder gerne und auf angeblich gesicherten Erkenntnissen basierende Aussage in Frage stellt: Kleinere Klassen in den Schulen bringen nichts.<br />
<br />
Dazu diese neue Studie, ebenfalls aus dem DIW:<br />
<br />
Maximilian Bach und Stephan Sievert (2018): <a href="http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.591251.de/18-23-2.pdf" target="_blank">Kleinere Grundschulklassen können zu besseren Leistungen von SchülerInnen führen</a>, in: DIW Wochenbericht, Nr. 22/2018<br />
<br />
Diese Untersuchung wurde dann beispielsweise unter solchen Überschriften aufgegriffen: <a href="https://www.news4teachers.de/2018/06/forscher-bestaetigen-was-lehrer-schon-immer-sagen-kleinere-klassen-fuehren-zu-besseren-schuelerleistungen/" target="_blank">Forscher bestätigen, was Lehrer schon immer sagen: Kleinere Klassen führen zu besseren Schülerleistungen</a>: »Jetzt also doch: Kleinere Klassen in Grundschulen führen zu besseren Leistungen der Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik. Außerdem senken sie die Wahrscheinlichkeit, dass Schüler eine Klasse wiederholen müssen. Das sind die zentralen Ergebnisse einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).«<br />
<br />
Auch hier lohnt der Blick auf die Zusammenfassung, denn die Ergebnisse die Klassengrößenfrage betreffend müssen differenziert betrachtet werden, folgt man den Wissenschaftlern, die die Studie erstellt haben (vgl. Bach/Sievert 2018: 466):<br />
<br />
»Kleinere Klassen in der Grundschule führen zu besseren Leistungen in den Fächern Deutsch und Mathematik. Außer dem senken sie die Wahrscheinlichkeit, eine Klasse wieder holen zu müssen. Dies zeigt die vorliegende Analyse der Testresultate von mehr als 38.000 SchülerInnen, die Daten der landesweiten Orientierungsarbeiten im Saarland auswertet. Das Ergebnis widerspricht auf den ersten Blick bisherigen Studien für Deutschland, die mehrheitlich keine signifikanten Klassengrößeneffekte finden konnten. In der vorliegenden Studie wird jedoch ein weiterentwickeltes Untersuchungsdesign verwendet. Die Analyse zeigt, dass ein Reduzieren der Klassengröße vor allem in größeren Klassen mit mindestens etwa 20 SchülerInnen effektiv ist. Insofern könnte es sinnvoll sein, die Bildung kleinerer Klassenverbünde zu fördern, um das Leistungsniveau von GrundschülerInnen anzuheben. Dies trifft nicht auf kleinere Klassen zu: Bis zu einer Grenze von etwa 20 SchülerInnen können Klassen sogar vergrößert werden, ohne dass es zu Leistungseinbußen in den Fächern Deutsch und Mathematik kommt.«<br />
<br />
Bach und Sievert heben für ihren Ansatz eine besondere methodische Innovation hervor (S. 471):<br />
<br />
»Die vorliegende Studie füllt eine Lücke in der evidenzbasierten deutschen Beratung der Bildungspolitik. Bislang lagen keine Schätzungen vor, die kausal zeigen konnten, ob kleinere Klassen (also ein besserer LehrerSchülerSchlüssel) tatsächlich zu besseren Leistungen bei SchülerInnen führen. Dass dies zumindest in den ersten drei Schuljahren so ist, wird in dieser Studie anhand eines Datensatzes nachgewiesen, der über vier Jahre Informationen zu allen saarländischen Grundschulen liefert. Auch die Wahrscheinlichkeit, eine Jahrgangsstufe zu wiederholen, ist umso höher, je mehr SchülerInnen in einer Klasse sind. Die Studie zeigt außerdem, dass eine Reduktion der Klassengröße vor allem in großen Klassenverbünden erhebliche Lernzuwächse verspräche. Vorherige Studien haben diese Zusammenhänge nicht nachweisen können. Sie konnten zumeist nicht ausreichend die Verzerrungen herausrechnen, die sich dadurch ergeben, dass schwächere SchülerInnen systematisch kleineren Klassen zugeteilt werden.« Genau das aber sei in der neuen Studie gemacht worden.<br />
<br />
Dass ein Reduzieren der Klassengröße zwar teuer, aber generell wenig wirksam sei, wie es in der Debatte um größere oder kleinere Klassen aus der Wissenschaft immer wieder zu hören ist, erscheint vor dem Hintergrund der vorliegenden Analysen für das Saarland nicht zutreffend, betonen die Wissenschaftler. Und wenn man einige rechnerische Ableitungen liest, könnte man auf die Idee kommen, dass es sich auch rechnen würde, diesen Schritt zu gehen. Dazu aus dem bereits zitierten Artikel <a href="https://www.news4teachers.de/2018/06/forscher-bestaetigen-was-lehrer-schon-immer-sagen-kleinere-klassen-fuehren-zu-besseren-schuelerleistungen/" target="_blank">Forscher bestätigen, was Lehrer schon immer sagen: Kleinere Klassen führen zu besseren Schülerleistungen</a>:<br />
<br />
»Vor allem in großen Klassen, in denen mindestens 20 Schüler unterrichtet werden, zeigt sich ein Effekt, wenn die Schülerzahl reduziert wird. Jedes Kind weniger führt in solchen Klassen in der dritten Jahrgangsstufe im Fach Deutsch zu Leistungszuwächsen, die – bezogen auf ein Schuljahr – denen von zweieinhalb Unterrichtswochen entsprechen. Das bedeutet: Derselbe Unterrichtsstoff kann ohne Leistungseinbußen in mehr als zwei Wochen weniger vermittelt werden. Die Auswirkungen einer durchaus realistischen Reduzierung einer großen Klasse um fünf Schüler entsprächen den Leistungszuwächsen von knapp drei Monaten. Im Fach Mathematik sind in kleineren Klassen vor allem bei Mädchen bessere Testresultate zu erwarten, Jungen profitieren hingegen eher wenig.<br />
<br />
Auch die Wahrscheinlichkeit, eine Jahrgangsstufe wiederholen zu müssen, sinkt in kleineren Klassen: In der ersten Klasse führt jedes Kind weniger im Klassenverbund zu einem um 0,1 Prozentpunkte niedrigeren Anteil an Sitzenbleibern, wie Studienautor Stephan Sievert erklärt. „Das klingt im ersten Moment nicht nach einem großen Effekt – da aber der Anteil der Klassenwiederholungen im ersten Schuljahr insgesamt bei nur 2,3 Prozent liegt, führt jedes Kind weniger zu einer Reduzierung der Wiederholerquote um knapp fünf Prozent.“«<br />
<br />
Aber die beiden Wissenschaftler merken zu der eigentlich naheliegenden Schlussfolgerung, die Klassen zu verkleinern, relativierend an:<br />
<br />
»Dies bedeutet jedoch nicht, dass kleinere Klassen aus fiskalischer Sicht notwendigerweise sinnvoll sind. Während sich die Kosten einer Klassengrößenreform recht präzise berechnen ließen, bleibt die Frage nach den konkreten Erträgen beziehungsweise dem monetarisierten Nutzen offen. Um diese Frage zu beantworten, bräuchte es jenseits der hier gezeigten Auswirkungen auf schulische Leistungen Informationen darüber, in welchem Ausmaß sich die Leistungszugewinne zum Beispiel im späteren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt widerspiegeln – also in der Wahrscheinlichkeit, eine Beschäftigung zu finden und in der Höhe der Löhne.« (Bach/Sievert 2018: 472).<br />
<br />
Das nun ist nicht nur methodisch eine große Herausforderung, die absehbar nicht gestemmt werden kann. Davon abgesehen wird der in vielen Bundesländern mittlerweile manifeste Lehrermangel dazu führen, dass die Aufmerksamkeit der Bildungspolitik auf eine Stabilisierung des Status quo gerichtet sein wird. Da ist für teure, personalintensive Ausflüge keine Zeit und kein Geld.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-73186346757444687792018-06-08T23:51:00.000+02:002018-06-09T13:25:51.832+02:00Wenn die Polizei osteuropäische Lkw-Fahrer mit Flugblättern von der Gewerkschaft versorgt, dann muss es schlimm bestellt sein. Aber es geht noch schlimmer bei der Beschaffung von ArbeitskräftematerialÜber die teilweise nur noch als skandalös und menschenunwürdig zu bezeichnenden Zustände, unter denen viele Lkw-Fahrer vor allem aus Osteuropa auf den Straßen ihr Dasein fristen müssen, wird immer wieder in den Medien berichtet. Auch in diesem Blog, so beispielsweise am 30. Juli 2017 unter der Überschrift <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2017/07/von-wegen-trucker-mythos.html" target="_blank">Von wegen Trucker-Mythos. Die Lkw-Fahrer als letztes Glied einer hoch problematischen Verwertungskette</a>. Und es sind nicht nur die großen Brummis - viele Bürger bekommen tagtäglich unmittelbar Kontakt mit den angeheuerten Hilfstruppen aus osteuropäischen Ländern, mit denen die Paketdienste versuchen, die stetig wachsenden auszuliefernden Mengen zu bewältigen.<br />
Das passiert natürlich deshalb, weil die billigen Arbeitskräfte ein wesentlicher Kostenfaktor in den Geschäftsmodellen der Speditionen und Paketdienste darstellen. Aber halt, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden: Es gibt doch seit 2015 den gesetzlichen Mindestlohn und der sollte doch nun wirklich die schlimmsten Lohndumping-Exzesse verhindern. Und wurde nicht erst vor kurzem die frühe Botschaft vermittelt, dass die EU mit einer neuen Entsenderichtlinie der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Einhalt gebieten will? Dazu der Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2018/03/sozialpolitische-ambitionen-der-eu-kommission.html" target="_blank">Umrisse eines Europas, das schützt und den Arbeitnehmern nicht die kalte Schulter zeigt? Ein Blick auf die sozialpolitischen Ambitionen der EU-Kommission für die europäische Ebene</a> vom 16. März 2018. Aber der eine oder andere wird sich auch daran erinnern: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2017/10/die-bewusst-vergessenen-lkw-fahrer.html" target="_blank">Die bewusst Vergessenen: Die Lkw-Fahrer bleiben bei der Reform des EU-Entsenderechts auf der Strecke</a> vom 26. Oktober 2017.<br />
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Werfen wir einen Blick auf die Straße und deren Realität:<br />
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»Auf einer deutschen Autobahn hielten Polizisten den tschechischen Lastwagenfahrer Jiri Gabrhel an - und fragten ihn bei der Gelegenheit, wie hoch sein Stundenlohn sei. Zu niedrig, wie er jetzt weiß ... "Die Polizisten drückten mir ein Flugblatt in die Hand, auf dem stand, dass ich Anspruch auf den deutschen Mindestlohn habe. Da standen auch die Telefonnummern von deutschen Gewerkschaftern dabei", berichtete Gabrhel.«<br />
<br />
Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Der Mann klagte gegen den Profiteur seiner Arbeit vor dem Bonner Arbeitsgericht (und der Sitz des Arbeitsgerichts wird dem einen oder anderen bereits einen Hinweis darauf geben, um welches Unternehmen es sich handeln könnte) - und das bot ihm einen außergerichtlichen Vergleich an, der dem Betroffenen nachträglich mehr als 10.000 Euro als Entschädigung für entgangenen Lohn eingebracht hat. Offensichtlich wollte man ein Urteil vermeiden, aber der Erfolg des klagenden Lkw-Fahrers hatte den Effekt, den man eigentlich vermeiden wollte: Auch andere betroffenen Fahrer aus der Tschechei haben verstanden, dass man auf diesem Weg vorenthaltenes Geld eintreiben kann. So Kilian Kirchgeßner in seinem Artikel <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1089755.tschechische-fernfahrer-klagen-deutschen-mindestlohn-ein.html" target="_blank">Tschechische Fernfahrer klagen deutschen Mindestlohn ein</a>.<br />
<br />
Über den Fall und die Hintergründe wurde bereits im November 2017 in diesem Artikel von Kristiana Ludwig berichtet: <a href="http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutsche-post-fahrer-klagt-gegen-die-niedrigloehne-der-deutschen-post-1.3743689" target="_blank">Fahrer klagt gegen die Niedriglöhne der Post</a>. Darin auch der Fall des tschechischen Fahrers, damals noch mit einem Pseudonym:<br />
<br />
»In einem waldgrünen Kleinbus mit polnischem Kennzeichen schläft Tomasz Mazur auf der Beifahrerbank. Er liegt auf der Seite, mit dem Kopf drückt er zwei Kissen an das Fenster. Auf dem Armaturenbrett liegt ein Tablet, damit schaut er abends fern. Auf einem Gaskocher bereitet er Essen zu. Das hier ist sein Leben und zugleich sein Arbeitsplatz. Drei Wochen von jedem Monat verbringt er hier. Draußen leuchten die Lampen eines Berliner Möbelhauses, auf dessen Parkplatz er steht. Und die der Deutschen Post AG - in deren Auftrag er arbeitet.<br />
Mazur sorgt dafür, dass Briefe aus Berlin innerhalb eines Tages ihren Empfänger in einem anderen Teil Deutschlands erreichen. Er verdient damit umgerechnet 850 Euro im Monat. Das ist nicht einmal die Hälfte von dem, was ein angestellter Post-Fahrer verdient. Außerdem ist es weniger als der gesetzliche Mindestlohn.<br />
Etwa die Hälfte aller Fahrer, die für die Deutsche Post Briefe und Pakete befördern, das schätzt die Gewerkschaft Verdi, seien keine direkten Angestellten des Konzerns. Rund 3000 von ihnen arbeiteten demnach für "Servicepartner", wie sie die Post nennt. Für unterschiedliche Spediteure mit Sitz in ganz Deutschland und Osteuropa. Tomasz Mazur ist einer von ihnen, er ist hinter der polnischen Grenze zu Hause, sein Chef ist Pole. Auch der Tscheche Jiri Novák, der bis vor Kurzem noch Briefe mit einem Lastwagen von Frankfurt und Salzburg fuhr, arbeitet für einen Servicepartner der Post. Novák bekommt einen Grundlohn von rund 550 Euro im Monat. Die Namen beider Fahrer sind Pseudonyme.«<br />
<br />
Und was sagte die Post, die ja von dieser Ausbeutung unmittelbar profitiert? Jeder, der Subunternehmerketten kennt, ahnt die Antwort:<br />
<br />
»Man verpflichte die Firmen "bereits bei der Ausschreibung zur Einhaltung aller gesetzlichen Regelungen, wie der geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen sowie explizit auch der Beachtung des Mindestlohngesetzes" ... "Dies lassen wir uns bei Vertragsabschluss durch den jeweiligen Auftragnehmer schriftlich bestätigen",« wird eine Post-Sprecherin in dem Artikel zitiert.<br />
<br />
Aber der tschechische Fahrer unter dem Pseudonym Jiri Novák, so konnte man es damals lesen, »verklagt nicht seine tschechische Firma. Vor dem Arbeitsgericht Bonn wendet er sich jetzt gegen die Deutsche Post AG. Novák will den Konzern verpflichten, ihm die Differenz zum deutschen Mindestlohn nachträglich auszuzahlen. Für seine Arbeit auf deutschen Straßen zwischen Oktober 2015 und August 2016 seien das genau 8302,50 Euro, heißt es in der Klageschrift.« Den Ausgang haben wir hier bereits präsentiert. Es sind ein paar Euro mehr geworden.<br />
<br />
Kirchgeßner weist in seinem <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1089755.tschechische-fernfahrer-klagen-deutschen-mindestlohn-ein.html" target="_blank">Artikel</a> darauf hin, dass der Fall des Jiri Gabrhel Kreise zieht:<br />
<br />
»Für Stanislava Rupp war das ein Durchbruch. »Seitdem melden sich bei mir immer neue Fahrer, um ihren Fall zu schildern«, sagt sie. Rupp arbeitet <a href="http://www.faire-mobilitaet.de/beratungsstellen/++co++c5ecaf76-6bcd-11e2-898c-00188b4dc422" target="_blank">in Stuttgart beim Projekt »Faire Mobilität«</a>, das der DGB ins Leben gerufen hat. Mit ihren Kollegen unterstützte sie die Klage von Gabrhel: »Wir bieten Rechtsberatung im Arbeits- und Sozialrecht an.« Sie und ihre Kollegen sprechen die Sprachen der mittel- und osteuropäischen Länder, aus denen viele der Fernfahrer kommen. Die Gewerkschaften kündigen an, nach dem Urteil im Fall Gabrhel vom Frühjahr jetzt rasch die nächsten Klagen folgen zu lassen.«<br />
<br />
Nur eine Anmerkung zu dem Menschen, der diese Entwicklung mit seiner Klage ins Rollen gebracht hat: »Die Klage gegen die Deutsche Post hat sein Leben grundlegend verändert. Sein tschechischer Chef hat ihn im November vor einem Jahr von der Arbeit freigestellt. Fahren darf er seitdem nicht mehr. Er bleibt jetzt zu Hause und lebt von seinem kleinen Grundlohn, ohne Zuschläge oder Spesen. Auch das ist ein Signal.«<br />
<br />
Man muss sich die weiteren Auswirkungen dieser Entwicklung vor Augen führen, denn es handelt sich um einen Präzedenzfall für viele ausländische Fahrer im Auftrag deutscher Unternehmen:<br />
<br />
»Das bringt ein Geschäftsmodell unter Druck, das sich in der Logistikbranche längst eingebürgert hat: Deutsche Firmen beauftragen Speditionen aus dem Ausland, die Fahrer zu niedrigen Lohnkosten einstellen. Manche von ihnen touren wochenlang mit wechselnder Fracht durch Westeuropa, bevor sie für kurze Zeit zu ihren Familien in Mittel- oder Osteuropa zurückkommen«, so Kirchgeßner.<br />
<br />
Auch Kristiana Ludwig hatte bereits im November darauf hingewiesen, dass »nicht nur die Post, sondern auch viele andere Briefdienste und Speditionen ... Hunderte ausländische Fremdfirmen zu Tiefstpreisen (beschäftigen). Die Löhne der Fahrer aus Osteuropa bewegten sich meist zwischen 400 und 600 Euro im Monat ... Polnische Firmen zahlten etwas mehr, bulgarische etwas weniger. An den deutschen Mindestlohn hielten sich die wenigsten.<br />
<br />
Ganz offensichtlich geht es hier um die Ausnutzung des erheblichen Lohngefälles in der EU. Um das konkret zu machen, zitiert Kirchgeßner Lubos Pomajbik, den Vorsitzenden der tschechischen Transportgewerkschaft:<br />
<br />
»Bei uns gilt ein Mindestlohn von rund 73 Kronen pro Stunde, das sind etwa drei Euro.« Oft kommen noch Spesen oder Bonuszahlungen dazu, die allerdings bei Krankheit nicht bezahlt und nicht für die Rente angerechnet werden. Natürlich sei das zu wenig, stellt Pomajbik fest. Er sieht die Schuld allerdings weniger bei den Speditionen als bei den westeuropäischen Kunden: »Was da läuft, finde ich unehrenhaft. Sie verlangen von den tschechischen Spediteuren eine schriftliche Bestätigung, dass sie ihren Fahrern den deutschen Mindestlohn auszahlen und drücken zugleich so auf den Preis, dass die Speditionen das Geld für den Mindestlohn gar nicht haben.«<br />
<br />
Und nicht überraschend ist die Tatsache, dass die Mindestlohnklagen in Tschechien von einigen kritisch gesehen werden, so Kirchgeßner: Der Prager Verkehrsminister Dan Tok etwa merkte nach dem Urteil im Fall Gabrhel an: »Die deutschen Gewerkschaften haben das sehr geschickt gemacht: Dieser Präzedenzfall führt dazu, dass in Deutschland niemand mehr eine tschechische Speditionsfirma beauftragt.«<br />
<br />
Aber selbst der Gewerkschaftschef Pomajbik - der sich doch eigentlich freuen müsste - befürchtet Nachteile:<br />
»Bei den Kunden aus Deutschland, Frankreich und den anderen Ländern ist die Nachfrage nach dem günstigsten Transport gewaltig. Wenn die tschechischen Spediteure den deutschen Mindestlohn zahlen, versuchen die Rumänen und Bulgaren, in die Lücke vorzustoßen, was uns natürlich nicht gefällt.«<br />
<br />
Es wurde schon angesprochen - hinter diesen Vorgängen stecken Geschäftsmodelle, die letztendlich alle dem Ziel dienen, menschliche Arbeitskraft so billig wie möglich zu besorgen, um im brutalen Preiskampf wettbewerbsfähig zu bleiben oder zu werden. Und in solchen Konstellationen gibt es dann auch immer große Anreize, in den halb- oder illegalen Bereich auszuweichen. Davon berichtet ein aktueller Fall aus Norddeutschland, der zugleich wieder die Paketdienste ins Visier nimmt.<br />
<br />
Ermittler haben »elf Wohnungen und Geschäftsräume eines Transportunternehmens durchsucht, das als Servicepartner für Hermes tätig ist. Schwerpunkt der Razzia war Schleswig-Holstein. Laut Bundespolizei wird nun gegen fünf Hauptbeschuldigte ermittelt - wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern sowie Urkundenfälschung und Verschaffens von amtlichen Ausweisen.« Das kann man dieser Meldung entnehmen: <a href="https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Razzia-der-Bundespolizei-bei-Logistik-Unternehmen,einsatz142.html" target="_blank">Razzia der Bundespolizei bei Logistik-Unternehmen</a>. In diesem Fall geht es also nicht darum, statt deutsche Fahrer Personal aus Tschechien, Rumänien oder Bulgarien einzusetzen, sondern noch eine Etage tiefer: Menschen, die noch billiger zu haben sind, aber aus einem Land außerhalb der EU kommen, werden in betrügerischer Absicht zu EU-Bürgern deklariert. Dazu kann man der Meldung entnehmen:<br />
<br />
"Osteuropäische Staatsangehörige, die nicht EU-Staatsangehörige sind, wurden mit falschen Dokumenten eingeschleust", sagte der Pressesprecher der Bundespolizei, Matthias Menge. Unter anderem aus Russland seien diese Menschen gekommen - und mit gefälschten Papieren aus Rumänien ausgestattet worden. So sollen sie dann für das Unternehmen als Fahrer gearbeitet haben.<br />
<br />
Selbst die Bundespolizei zeigt sich überrascht von dieser neuen Ausformung der illegalen Beschäftigung: "Es ist für uns ein neues Phänomen, dass ein Unternehmen Fahrer im Ausland rekrutiert und dann hier einschleust", so wird der Sprecher der Bundespolizei zitiert.<br />
<br />
Und was sagt der Paketzusteller Hermes, für den der "Servicepartner" ja gefahren ist? Man ahnt schon, dass auch Hermes über einen bekannten Textbaustein verfügt:<br />
<br />
»Hermes erwarte von den Servicepartnern, dass sie sich an gesetzliche Vorgaben halten. Sollten im konkreten Fall gesetzliche Vorgaben umgangen worden sein, werde der Dienstleister umgehend Konsequenzen ergreifen.«Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-31788182040465828632018-06-07T23:44:00.000+02:002018-06-08T09:03:52.095+02:00Von neoliberaler Kritik am "Rentensozialismus" bis hin zu einem "völkischen" Rentenkonzept des national-sozialen Flügels: Anmerkungen zum rentenpolitischen Nebel in der AfD»Sozialpolitik wird das große Zukunftsthema sein, wahlentscheidend bei uns im Osten.«<br />
(Björn Höcke, zitiert nach Sabine am Orde, <a href="http://www.taz.de/Hoecke-die-AfD-und-ihre-Sozialpolitik/!5478015/" target="_blank">Rente von ganz rechts</a>)<br />
<br />
»Sollte sich Höckes Position durchsetzen – und der Erfolg der Partei im Osten der Republik wird ein starkes Argument sein – könnte das der AfD den Aufstieg zur Volkspartei endgültig ebnen.«<br />
(Leander F. Badura, <a href="https://www.freitag.de/autoren/lfb/hayek-oder-hitler" target="_blank">Hayek oder Hitler</a>)<br />
<br />
Diese beiden Zitate stammen aus dem Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2018/02/konturen-einer-rechtspopulistischen-sozialpolitik.html" target="_blank">Konturen einer rechtspopulistischen Sozialpolitik? "Soldarischer Patriotismus" als umstrittenes Angebot innerhalb der AfD und was das mit der Rente und Betriebsräten zu tun hat</a>, der hier am 1. Februar 2018 veröffentlicht wurde. Darin findet man dieses Zitat des Frontmanns des radikal-rechten Flügels der AfD, Björn Höcke: »Die neoliberale Ideologie, die von allen Altparteien getragen wird und Staaten zu Wurmfortsätzen global agierender Konzerne gemacht hat, entzieht den Volkswirtschaften dringend benötigtes Investitionskapital und senkt in den westlichen Industrienationen die Löhne zugunsten der Kapitalrendite. Die Folgen für den Sozialstaat und die Renten sind verheerend.« Und er führt weiter aus: Die gesetzliche Rentenversicherung sei zugunsten von privaten Versicherungen und Banken ausgehöhlt worden. CDU und SPD haben mit der Ausweitung der Leiharbeit Niedriglöhne auf breiter Front etabliert und das Lohngefüge zugunsten der Kapitalrendite gedrückt. Und die private Vorsorge war ein Irrweg.<br />
<br />
Auch wenn es den einen oder anderen irritieren wird - das sind Zitate nicht aus dem linken politischen Lager in diesem Land. Die Stoßrichtung von Höcke ist offensichtlich: Er will die AfD als Partei der sogenannten kleinen Leute aufstellen und ihr das Profil des „solidarischen Patriotismus“ verpassen - um darüber weitere Wähler zu gewinnen, die bislang eher für SPD und Linkspartei gestimmt haben, wenn sie denn überhaupt noch gewählt haben. <br />
<a name='more'></a><br />
Höcke wettert gegen Neoliberalismus und Großkonzerne, fordert mehr Solidarität und staatliche Sozialleistungen - aber nur für deutsche Staatsbürger. Er setzt auf einen "Sozialpopulismus nationalistischer bis völkischer Prägung."<br />
<br />
Und dabei wurde schon in dem Beitrag aus dem Februar 2018 darauf hingewiesen, dass dieser Teil der AfD, für den Höcke steht, durchaus geschickt Punkte aufgreift, die man bislang eher aus der linken Ecke des politischen Spektrums kannte - um sie sogleich mit der völkischen Denke zu infizieren:<br />
<br />
»Höcke schlägt eine „Staatsbürgerrente“ vor: Auch Selbstständige, Freiberufler und Beamte sollen in die Rentenkasse einzahlen; am besten soll der Staat diese zu einem Drittel finanzieren ... Höckes Rente soll nur für Deutsche gelten. Wenn er von „Solidargemeinschaft“ redet, meint er das „deutsche Volk“. „Eine Solidargemeinschaft braucht Grenzen und einen Nationalstaat, der dieses Solidarsystem begrenzt und verwaltet“«, so wird er in dem Artikel <a href="http://www.taz.de/Hoecke-die-AfD-und-ihre-Sozialpolitik/!5478015/" target="_blank">Rente von ganz rechts</a> von Sabine am Orde zitiert.<br />
<br />
Nun ist Höcke wahrlich nicht "die" AfD und rentenpolitisch eher ein Außenseiter, wenn man sich die gegenwärtigen Führungsfiguren wie Jörg Meuthen, Alice Weidel und auch Beatrix von Storch anschaut, denn die stehen doch eher für eine neoliberale Ausrichtung der AfD. Was Höcke heute als „Staatsbürgerrente“ fordert, hat Meuthen vor nicht allzu langer Zeit als „Rentensozialismus“ scharf kritisiert, so die Anmerkung von Sabine am Orde.<br />
<br />
Und ganz offensichtlich bricht die aufgestaute Grundsatzdebatte in der Rentenpolitik innerhalb der AfD gerade an die Oberfläche, wenn man der Berichterstattung folgt (vgl. dazu beispielsweise <a href="http://www.fr.de/politik/afd-richtungsstreit-verschaerft-sich-a-1518219,0#artpager-1518219-1" target="_blank">Richtungsstreit verschärft sich</a> von Tobias Peter: »Das Konzept des Mannes vom äußersten rechten Parteiflügel ist geeignet, der Linkspartei in Sachen Geldausgeben und Großzügigkeit Konkurrenz zu machen – ergänzt allerdings um den völkischen Charakter, dass sich mancherlei Leistung nur an Deutsche richten soll.«).<br />
<br />
Schon auf dem Bundesparteitag der AfD im Dezember 2017 hatte der radikal-rechte Flügel um Höcke den Vorstand verpflichten wollen, für die Erarbeitung einer „klaren sozialpolitischen Programmatik“ im Laufe des Jahres 2018 zu sorgen. Besonders intensiv sollten Rente und Krankenversicherung debattiert werden. Das wurde damals noch verschoben, aber nunmehr geht es in die nächste Runde.<br />
<br />
Das muss man auch <a href="http://www.westfalen-blatt.de/Ueberregional/Nachrichten/Hintergrund/3330789-Mehr-als-Provokation-Gauland-schiebt-die-AfD-immer-weiter-nach-rechts" target="_blank">vor diesem Hintergrund</a> sehen: Die »Alternative für Deutschland (hat) seit ihrer Gründung 2013 mehrere Stufen der Radikalisierung hinter sich. Von der eurokritischen Partei unter Bernd Lucke zur rechtskonservativen AfD von Frauke Petry bis zur stramm nationalistischen Kraft mit kräftigen völkischen Akzenten. Dabei war der AfD in allen Phasen ihrer Entwicklung das Bemühen gemeinsam, die rechte Flanke offen zu halten.«<br />
Die AfD lenkt die durchaus weit verbreitete Ablehnung von sozialer Ungleichheit und Unsicherheit auf eine rechtsradikal-rassistische Position. Dabei profitiert sie von einer "Doppel-Entäuschung": Denn zu den sozialen und ökonomischen Umbrüchen kam die Flüchtlingsbewegung hinzu.<br />
<br />
Werner Kolhoff hat das in seinem Kommentar <a href="http://www.westfalen-blatt.de/Ueberregional/Meinung/3331029-Kommentar-zum-Rentenkonzept-der-AfD-National-und-sozialistisch" target="_blank">National und sozialistisch</a> so formuliert: »Auch der AfD ist klar, dass sie sich breiter aufstellen muss, um ihr Zustimmungsniveau zu halten oder gar zu steigern. Sie muss etwas sagen zu Löhnen, Renten, Bildung, Gesundheit, Pflege, Mieten und den anderen zentralen Fragen des Lebens. Dass so viele Leute unzufrieden sind, hat mit sozialen Verwerfungen zu tun, die es vor den Flüchtlingen gab, und die alle auch dann noch wirksam wären, wenn kein einziger Flüchtling mehr käme. Ganz besonders im Osten.«<br />
<br />
Und hier betritt er wieder die Bühne: »Der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke und der Sprecher der ostdeutschen AfD-Bundestagsabgeordneten Jürgen Pohl haben in Berlin ihr Rentenkonzept vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen ein finanzieller Aufschlag für deutsche Staatsbürger und Zuschläge für Familien mit Kindern. Außerdem sollen in Zukunft auch Beamte und Politiker in die Rentenkasse mit einzahlen.« Das berichtet Simon Köppl in seinem Artikel <a href="https://www.mdr.de/nachrichten/politik/regional/thueringer-afd-stellt-rentenkonzept-vor-100.html" target="_blank">Thüringer AfD-Fraktion stellt Rentenkonzept vor</a>.<br />
<br />
Und was sind die Kernelemente dieses Konzepts?<br />
<br />
»So wollen sie das Rentenniveau generell auf 50 Prozent über das Jahr 2045 hinaus festschreiben. Darüber hinaus erhalten deutsche Staatsbürger einen steuerfinanzierten Aufschlag, wenn sie weniger als 1.500 Euro Rente erhalten und mindestens 35 Jahre in die Beitragskasse eingezahlt haben. Diesen Aufschlag sollen sie ohne Prüfung durch das Sozialamt erhalten. Ausländer haben keinen Anspruch, auch wenn sie in die Beitragskasse eingezahlt haben.<br />
Außerdem sollen in Zukunft von Unternehmen und abhängig Beschäftigten paritätisch drei zusätzliche Prozentpunkte eingezahlt werden. Wer Kinder hat, bei dem fällt jeweils ein Punkt pro Kind weg. Außerdem erhalten Eltern eine zusätzliche Zahlung pro Kind zur Rente. Für das erste Kind gibt es 95 Euro mehr, für das zweite Kind erhalten sie 100 Euro und 125 Euro für das dritte Kind.«<br />
<br />
Das Papier der Thüringer AfD soll beim Bundesparteitag in Augsburg am 30. Juni und 1. Juli 2018 diskutiert werden. Dort will Meuthen eine sozialpolitische Rede halten und Positionen vertreten, die mit dem Höcke-Lager nun wirklich nichts zu tun haben: AfD-Parteichef Jörg Meuthen lehnt den "Staatsbürgerzuschlag" ab. "Deutsche gegen ausländische Beitragszahler auszuspielen, das widerspricht meinem Gerechtigkeitsempfinden", so wird er zitiert. Aber ob er damit (noch) mehrheitsfähig ist innerhalb der AfD?<br />
<br />
Aber das ist noch nicht der Komplexität genug: »In der AfD wird der Streit über die Rentenpolitik noch komplizierter: Der Arbeitnehmerflügel legt nun ein eigenes Konzept vor. Das geht längst nicht so weit wie das, was zwei andere Lager vorhaben«, berichtet Matthias Kamann unter der Überschrift <a href="https://www.welt.de/politik/deutschland/article176759304/AfD-Arbeitnehmerfluegel-um-Uwe-Witt-legt-Rentenkonzept-vor.html" target="_blank">Mal viel Staat, mal wenig, mal mit Deutschen-Bonus</a>. »Wirtschaftsliberale stehen Verfechtern eines starken Staates gegenüber. Nun meldet sich noch eine dritte Gruppe, die parteiinterne Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer (AVA), mit einem „Alterssicherungskonzept“.«<br />
<br />
Weiter kann man zu diesem Konzept dem Artikel entnehmen:<br />
<br />
»Der AfD-Arbeitnehmerflügel will an der Umlagefinanzierung festhalten, die aber à la Bürgerversicherung „auf Beamte und Selbstständige ausgeweitet“ werden soll, wie es in dem Text heißt ... Das Konzept, unterzeichnet vom Bundestagsabgeordneten und AVA-Vorsitzenden Uwe Witt, sieht kein festes Renteneintrittsalter vor. Stattdessen soll der abschlagsfreie Betrag, der bei allen Versicherten für „ein auskömmliches Leben spürbar über dem Hartz-IV-Satz“ reichen soll, nach 45 Jahren Berufstätigkeit gezahlt werden. Manche könnten also schon mit 60 abschlagsfrei in Rente gehen, andere erst mit 70. In jenen 45 Jahren sollen Zeiten für Kindererziehung oder ein Studium berücksichtigt werden.<br />
Arbeitnehmern, „die nach dem 55. Lebensjahr unverschuldet ihren Arbeitsplatz verlieren und Hartz IV beziehen müssen“, sollen keine Nachteile entstehen. Bei Niedriglöhnern soll der Staat bis zu 40 Prozent ihrer Beitragszahlungen obendrauf legen. Eine zusätzliche Absicherung durch private und betriebliche Vorsorge soll „staatlich unterstützt werden“.«<br />
<br />
Zur Person des Uwe Witt muss man wissen: Er kommt aus Nordrhein-Westfalen und ist Vorsitzender sowohl des Bundesfachausschusses als auch des fraktionsinternen Arbeitskreises. Er leitet auch die <a href="http://www.ava-bund.de/" target="_blank">Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer</a> (AVA). Gleichsam ein Gegenstück zum Höcke-Flügel und vor allem zum <a href="https://www.facebook.com/wirschlagenALARM/" target="_blank">„Alternative Arbeitnehmerverband Mitteldeutschland“ (Alarm!)</a>, der angeführt wird von Jürgen Pohl, (natürlich nicht) zufälligerweise Höckes ehemaliger Büroleiter und seit September 2017 Bundestagsabgeordneter. Im Bundestag ist Pohl nun stellvertretender Vorsitzender des AfD-internen Arbeitskreises „Arbeit und Soziales“ und auch Mitglied des offiziellen gleichnamigen Ausschusses des deutschen Parlaments.<br />
<br />
Zu Pohl & Co. schreibt Kamann: »So wollen vor allem ostdeutsche AfD-Rechte um den Thüringer Bundestagsabgeordneten Jürgen Pohl eine Bürgerversicherung für alle schaffen, die durch eine starke Steigerung der Staatszuschüsse eine abschlagsfreie „Garantierente“ bereits nach 35 Jahren Berufstätigkeit ermöglichen soll. Vorgesehen sind Bonuszahlungen für Kinder.«<br />
<br />
Und dann ist da noch das Aufbäumen des anderen Flügels in der AfD: »Den Gegenpol zu diesem staatsnahen Plan besetzt der Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier, der sich zu den Wirtschaftsliberalen in der AfD zählt. Die „Grundideen für eine Volksrente“, die er kürzlich veröffentlichte, sehen drei Säulen vor und unterscheiden zwischen deutschen Staatsbürgern und Ausländern.« Was er sich dazu vorstellt, kann man hier auf seiner Seite nachlesen: <a href="http://www.markusfrohnmaier.de/2018/05/16/grundideen-fuer-eine-volksrente/" target="_blank">Impulspapier – Leistung und Eigenverantwortung</a>.<br />
<br />
Das Thema Rente ist bei der AfD bislang eine Leerstelle. »Höcke stößt in das programmatische Vakuum jetzt mit dem Vorschlag, das Rentenniveau über das Jahr 2045 auf 50 Prozent festzuschreiben. Die große Koalition aus Union und SPD will 48 Prozent bis 2025 festschreiben – und hat eine Rentenkommission eingesetzt, um über die danach dringend notwendigen Reformen zu beraten. Höcke stellt unter anderem einen steuerfinanzierten Aufschlag für diejenigen in Aussicht, die nach mindestens 35 Beitragsjahren eine sehr niedrige Rente haben. Gilt das für alle? Nein, den Aufschlag soll es nur an deutsche Staatsbürger geben. Werden so nicht Ausländer diskriminiert, die genauso wie Deutsche ein Leben lang Beiträge und Steuern in Deutschland gezahlt haben? Höcke nennt das Modell – das laut Deutscher Rentenversicherung rechtlich nicht haltbar wäre – einen Anreiz zur Integration. Diese Menschen könnten ja Deutsche werden, sagt er«, so Tobias Peter in seinem Artikel <a href="http://www.fr.de/politik/afd-richtungsstreit-verschaerft-sich-a-1518219,0#artpager-1518219-1" target="_blank">Richtungsstreit verschärft sich</a>.<br />
<br />
Das hier thematisierte 52-seitige "Rentenkonzept" des Höcke-Flügels in der AfD im Original:<br />
<br />
AfD Fraktion im Thüringer Landtag (2018): <a href="https://afd-thl.de/wp-content/uploads/sites/20/2018/06/Rentenpapier.pdf" target="_blank">Es geht um Wertschätzung. Produktivitätsrente - Ein Konzept der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag</a>, Erfurt, Juni 2018<br />
<br />
Robert D. Meyer hat seinen Artikel dazu so überschrieben: <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1090270.sozialpolitik-der-afd-nur-deutsche-rentner-sollen-sicher-sein.html" target="_blank">Nur deutsche Rentner sollen sicher sein</a>: »Wann es zu einer Entscheidung kommt, ist bisher noch nicht absehbar. Höcke indes scheint eine Entscheidung herbeiführen zu wollen. Der äußerste Rechtsaußen will auf dem Bundesparteitag Ende Juni in Augburg den Antrag stellen, die AfD müsse über die Grundzüge ihrer Sozialpolitik bis zum Parteitag 2019 entscheiden. Der Termin ist kein Zufall: Im gleichen Jahr stehen Europawahlen an, auch in Thüringen wird ein neuer Landtag gewählt. Höcke hofft, sein sozialer Populismus ist in der AfD dann Programm. Im Osten könnte er damit Punkte sammeln.«Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-2592963889947083202018-06-06T16:01:00.000+02:002018-06-07T00:04:08.800+02:00Die Rentenkommission setzt sich in Bewegung. Was rauskommen wird? Mit hoher Wahrscheinlichkeit eine höchst problematische weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
</div>
Hinsichtlich der großen Baustelle Rentenpolitik ist der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD ein Monument des Kompromisses. So haben die Sozialdemokraten einige gesichtswahrende Punkte in dem Dokument verankern können, aber die die wahre Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung des Alterssicherungssystems hat man a) inhaltlich vertagt und b) in die ganz eigene Welt einer Kommission outgesourct, die nun erst einmal nachdenken soll und muss, was wiederum a) auf der Zeitschiene bis zum Ende der Legislatur ermöglicht.<br />
<br />
Die Sozialdemokraten heben als besondere erfolgt diese Vereinbarung im <a href="https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag.pdf;jsessionid=9D9917FD059B565D2FB45BDBADADCEE1.s6t2?__blob=publicationFile&v=5" target="_blank">Koalitionsvertrag</a> hervor:<br />
»... werden wir die gesetzliche Rente auf heutigem Niveau von 48 Prozent bis zum Jahr 2025 absichern und bei Bedarf durch Steuermittel sicherstellen, dass der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen wird. Für die Sicherung des Niveaus bei 48 Prozent werden wir in 2018 die Rentenformel ändern.« (S. 90)<br />
<br />
Das nun hört sich nach einer richtigen Schubumkehr hinsichtlich der bisherigen Fahrtrichtung des Rentenniveaus nach unten an. Endlich, möchte man meinen. Allerdings wurde schon Anfang des Jahres, als im Ergebnispapier der damaligen Sondierungsgespräche dieser Punkt auftauchte, etwas spöttisch <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2018/01/umrisse-einer-groko-neu-teil-2-die-rente.html" target="_blank">angemerkt</a>, dass sich dieser scheinbare sozialpolitische Hengst als reichlich müder Gaul entpuppt, wenn man genauer hinschaut.<br />
<a name='more'></a><br />
Man könnte auch von einer Rosstäuscherei sprechen, denn dem <a href="http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Pressemitteilungen/2017/rentenversicherungsbericht-2017.pdf;jsessionid=E01D90E7B441AB2D4E55C7FD9CACE77E?__blob=publicationFile&v=2" target="_blank">Rentenversicherungsbericht 2017</a> der Bundesregierung kann man den folgenden Hinweis entnehmen:<br />
<br />
»Das Sicherungsniveau vor Steuern beträgt derzeit 48,2 % und bleibt in den kommenden Jahren dank einer guten wirtschaftlichen Entwicklung mit stabilem Beitragssatz auf diesem Niveau. Nach dem Jahr 2024 sinkt das Sicherungsniveau vor Steuern unter 48 %.« (S. 39)<br />
<br />
Wie praktisch, man kann als ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen eine "Haltelinie" beim Sicherungsniveau verkaufen, das sowieso schon mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Danke für nichts, wird der eine oder andere an diese Stelle denken. Der einzige hier relevante Punkt ist dann die in Aussicht gestellte gesetzliche Festschreibung dieser wahrscheinlichen Entwicklung.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh19oq5SOff9WqplXPyeSCi50E6lgfNwn3KMO_7gn9cLiF0R3MvCVJc8yend02k6EhQYRzBkv0YU9gnKAR4uvtKeU_CNS8CRP2XTJMm5-1hFso6qJtiNLiJMudYwtbn5DzQEp7sEUAxup1Y/s1600/Sicherungsniveau+GRV+und+Sindierungsergebnis.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="646" data-original-width="765" height="270" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh19oq5SOff9WqplXPyeSCi50E6lgfNwn3KMO_7gn9cLiF0R3MvCVJc8yend02k6EhQYRzBkv0YU9gnKAR4uvtKeU_CNS8CRP2XTJMm5-1hFso6qJtiNLiJMudYwtbn5DzQEp7sEUAxup1Y/s320/Sicherungsniveau+GRV+und+Sindierungsergebnis.jpg" width="320" /></a></div>
<br />
Die eigentlichen Probleme (nicht nur) beim Rentenniveau beginnen ab dem Jahr 2025, folgt man der Vorausberechnung der Bundesregierung. Aber dafür bekommen wir ja eine Kommission. Im Koalitionsvertrag (S. 90) finden wir dazu und vor allem zu dem Auftrag an die Kommission:<br />
<br />
Es soll eine <b>Rentenkommission 'Verlässlicher Generationenvertrag' </b>eingerichtet werden, »die sich mit den Herausforderungen der nachhaltigen Sicherung und Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung und der beiden weiteren Rentensäulen ab dem Jahr 2025 befassen wird. Sie soll eine Empfehlung für einen verlässlichen Generationenvertrag vorlegen. Dabei streben wir eine doppelte Haltelinie an, die Beiträge und Niveau langfristig absichert. Die Rentenkommission soll ihren Bericht bis März 2020 vorlegen. Ihr sollen Vertreter der Sozialpartner, der Politik und der Wissenschaft angehören. Die Rentenkommission soll die Stellschrauben der Rentenversicherung in ein langfristiges Gleichgewicht bringen sowie einen Vorschlag unterbreiten, welche Mindestrücklage erforderlich ist, um die ganzjährige Liquidität der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern.«<br />
<br />
Wenn man sich diesen Passus durchliest, dann könnte man durchaus den Eindruck bekommen, dass hier zwei ganz unterschiedliche Zielsetzungen vorgegeben werden, also eine irgendwie grundsätzliche Dimension auf der einen ("verlässlicher Generationenvertrag", langfristiges Gleichgewicht der Stellschrauben) und ein sehr konkreter Handlungsauftrag auf der anderen Seite ("doppelte Haltelinie", Liquiditätsreserve).<br />
<br />
Aus der Perspektive der Großen Koalition und ihrer inneren Mechanik ist die folgende Bestimmung des Fahrplans von Bedeutung: "Die Rentenkommission soll ihren Bericht bis März 2020 vorlegen." Damit würden die Ergebnisse "rechtzeitig" spät in der laufenden Legislaturperiode veröffentlicht, so dass die in den dann beginnenden Wahlkampf für die nächste Bundestagswahl hineinreichen werden, so dass man eine eventuelle Umsetzung für die nächste Regierung in Aussicht stellen kann, das aber nicht mehr selbst auf den gesetzgeberischen Weg bringen muss. Man kennt dieses Vorgehen aus anderen Politikfeldern, erwähnt sei hier der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, dessen Erarbeitung über Kommissionen und mehrere Legislaturperioden nach dem beschriebenen Muster gestreckt werden konnte.<br />
<br />
Zur Zusammensetzung sagt der Koalitionsvertrag nur: Der Rentenkommission »sollen Vertreter der Sozialpartner, der Politik und der Wissenschaft angehören.« An dieser Stelle weiß jeder, der sich im politischen Geschäft auskennt: auf die konkrete Ausgestaltung der Kommission kommt es an. Über Personen kann man die Arbeit steuern (oder die Gefahr riskieren, dass es zu "unkontrollierbaren" Entwicklungen und Vorschlägen kommt).<br />
<br />
Mittlerweile wissen wir, wer in die Rentenkommission berufen wurde und wer sie leiten wird:<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj_LGnAhZiYVfYiYDiydq1E7D-QVxAoOZK3yExk2wUI62pOAtlN90VIb7Ib28WKVCZA6_ycdP29W672EnGR8pAsuuIGLrOWqA-_5381pikXCOVOAqOYc8fXbuH0S1-pdAZWUhTFzL7b3ngC/s1600/Rentenkommission+Mitglieder.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="656" data-original-width="609" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj_LGnAhZiYVfYiYDiydq1E7D-QVxAoOZK3yExk2wUI62pOAtlN90VIb7Ib28WKVCZA6_ycdP29W672EnGR8pAsuuIGLrOWqA-_5381pikXCOVOAqOYc8fXbuH0S1-pdAZWUhTFzL7b3ngC/s320/Rentenkommission+Mitglieder.jpg" width="298" /></a></div>
<br />
Ein erster Blick auf die Zusammensetzung der Kommission zeigt schon, dass es ein klares parteipolitisches Übergewicht gibt (und das dann auch noch ausschließlich auf die regierenden Parteien begrenzt). Die "Sozialpartner" sind wie üblich über ihre Spitzenverbände DGB und BDA vertreten, mit je einem Funktionär.<br />
<br />
Interessant ist die personelle Ausrichtung auf der Wissenschaftsbank. Drei Wissenschaftler sind berufen worden - und hier hatte das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales und damit der neue Minister Heil (SPD) sicherlich die größten Gestaltungsspielräume, wen er hier konkret beruft. Denn natürlich stehen auch Wissenschaftler für bestimmte Positionen.<br />
<br />
Und eines kann man dem Ergebnis sicher entnehmen: Bloß keine radikalen Denker in der Kommission. Keinen, der die Systemfrage stellt hinsichtlich der Weiterentwicklung des Alterssicherungssystems. Nun kann man das ja auch vielleicht nicht wirklich verlangen von einer Regierungskommission, die sich im bestehenden System bewegen soll und muss und die zumindest auch die Funktion hat, eine grundlegende Diskussion (mit der immer die Gefahr verbunden ist, dass sie "aus dem Ruder" zu laufen droht) nicht nur zu kanalisieren, sondern auch auf der Zeitschiene zu strecken, um den tagespolitischen Ablauf der GroKo nicht zu früh zu stören.<br />
<br />
Aber die konkrete Auswahl im Bereich der Wissenschaft sendet zwei weitere und für einige sicher irritierende Signale:<br />
<ul>
<li>Zum einen die Berufung von Axel Börsch-Supan, der sich zum einen als massiver Kritiker der Teile der bisherigen Rentenpolitik, die aus der Sozialdemokratie vorangetrieben wurden wie der abschlagsfreien "Rente mit 63" oder der Stabilisierung des auf dem Sinkflug befindlichen Rentenniveaus, die er als "unbezahlbar" etikettiert und zugleich plädiert er heftig für private Altersvorsorge. Zumindest muss man festhalten, dass kein relevanter Wissenschaftler in die Kommission berufen wurde, der oder die dieser Position etwas entgegenhalten kann.</li>
<li>Zum anderen ergibt ein Blick auf alle drei Wissenschaftler, also neben Axel Bursch-Supan noch Gert G. Wagner als Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung sowie Simone Scherger, die an der Uni Bremen lehrt, dass alle drei passungsfähig sind zu der - so meine These - "hidden agenda"der Kommission, die daraus besteht, einer weiteren Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters den Boden zu bereiten. So hat Simone Scherger von 2010 bis 2017 eine Nachwuchsforschungsgruppe "Erwerbsarbeit jenseits der Rentengrenze in Deutschland und Großbritannien" am SOCIUM Bremen geleitet. Um nur ein Beispiel zu nennen, wo es Andockstellen der drei Wissenschaftler gibt.</li>
</ul>
Indizien, dass die Flurbereinigung für eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters eine zentrale Aufgabe der Kommission sein wird, kann man diese Tage wie in einem Lehrbuch studieren anhand der massiven publizistischen Platzierung der Botschaft, dass es ohne eine weitere Anhebung unausweichlich zu einem Bankrott der Rentenversicherung kommen müsse durch interessierte Kreise:<br />
<ul>
<li>So meldet sich die Bertelsmann-Stiftung zu Wort mit dem beliebten Hinweis aus die "unausweichlichen" Folgen "der" demografischen Entwicklung: <a href="http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/demographischer-wandel-auf-dem-pruefstand/projektnachrichten/soziale-sicherung-und-oeffentliche-finanzen-langfristig-nicht-tragfaehig/" target="_blank">Soziale Sicherung und öffentliche Finanzen langfristig nicht tragfähig</a>. Dafür hat man von Martin Werding, Ökonom an der Ruhr-Universität Bochum, eine Expertise in Auftrag gegeben und veröffentlicht: <a href="http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/demographischer-wandel-soziale-sicherung-und-oeffentliche-finanzen/" target="_blank">Demographischer Wandel, soziale Sicherung und öffentliche Finanzen</a>. Zur Rentenpolitik schreibt die Bertelsmann-Stiftung: »Die aktuellen Vorschläge zur Fixierung der Renten auf heutigem oder sogar höherem Niveau hätten einen erheblichen Anstieg der Beitragssätze auf über 30 Prozent bis spätestens 2062 zur Folge. Eine "doppelte Haltelinie", die wie im Koalitionsvertrag geplant auf Dauer nicht nur das Rentenniveau, sondern auch den Beitragssatz festsetzt, müsste durch deutlich steigende Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt finanziert werden und würde die zukünftige Lage der öffentlichen Finanzen weiter verschärfen.« Vor so einem Hintergrund ist es dann nur ein kleiner "logischer" Schritt zur Forderung nach "länger arbeiten", um Entlastung zu schaffen. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass das zufällig gerade jetzt vom Himmel gefallen ist. Das Handelsblatt (das in diesen Tagen aus allen Rohren in Richtung Rentenkommission feuert und selbst den mehr als umstrittenen, weil mit der privaten Versicherungswirtschaft verbandelten "Rentenexperten" Bernd Raffelhüschen in einem Interview als Kronzeugen für die wieder einmal unausweichliche Anhebung des Renteneintrittsalters zu Wort kommen lässt, vgl. dazu <a href="http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/finanzwissenschaftler-bernd-raffelhueschen-die-rentenkommission-ist-nur-ein-feigenblatt-fuer-die-fehler-der-vergangenheit/22644150.html?ticket=ST-544668-CwajimTDOXuukfpjrFeI-ap1" target="_blank">„Die Rentenkommission ist nur ein Feigenblatt für die Fehler der Vergangenheit“</a>) bringt es gleich auf den Punkt, wer der eigentliche Adressat solcher Auftragsstudien ist: <a href="http://amp.handelsblatt.com/politik/deutschland/demografie-studie-alternde-bevoelkerung-laesst-staatsschulden-und-sozialbeitraege-explodieren/22624944.html?nlayer=Newsticker_1985586&__twitter_impression=true" target="_blank">Alternde Bevölkerung lässt Staatsschulden und Sozialbeiträge explodieren</a>, so ist der Artikel zur Bertelsmann-Studie überschrieben: »Vor dem Start der Rentenkommission zeigt eine Demografie-Studie: Ohne Reformen könnte Deutschland einst mehr Schulden haben als Griechenland heute.« Oh Gott, schlimmer als Griechenland heute. Wer will da noch Widerstand leisten gegen unausweichliche "Reform"maßnahmen.</li>
<li>Und dann - Überraschung - klinken sich auch die privaten Versicherer in die Debatte ein, ihre Argumentation ebenfalls garnierend mit wissenschaftlich daherkommender Expertise. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) meldet sich termingerecht zum Arbeitsstart der Rentenkommission mit dieser unmissverständlichen Botschaft zu Wort: <a href="https://www.gdv.de/de/medien/aktuell/-rente-mit-69-darf-kein-tabu-sein----gdv-und-prognos-stellen-online-rechentool-vor-33138" target="_blank">“Rente mit 69 darf kein Tabu sein“</a>. Für die Kampagne hat man Prognos engagiert und die haben dann auch noch zielgruppengerecht eine kleine Handreichung für die Mitglieder der Kommission geschrieben: <a href="https://www.gdv.de/resource/blob/33152/aded6fc02057eed20fde4871ea278e3f/prognos---das-wichtigste-in-kuerze-data.pdf" target="_blank">Kurshalten oder Korrigieren? – Zentrale Handlungsmöglichkeiten der Rentenkommission</a>, so ist die überschrieben. Also direkter kann Hilfestellung nicht gehen. Darin der nun wirklich nicht überraschende Satz: »Eine (weitere) Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf perspektivisch 69 Jahre hätte positive Auswirkungen auf die Finanzierung der GRV.« Und noch positiver wäre das, wenn die Leute auch nach 70 noch arbeiten und viele vielleicht gar nicht erst das Rentenalter erreichen. Dann hat man auch kein Finanzierungsproblem. Aber die Botschaft der Auftragsarbeit wird von manchen Medien nicht nur distanzlos, sondern auch noch verstärkend im Sinne einer Werbeberichterstattung übernommen, so beispielsweise von Dorothea Siems, die schon mit der Überschrift ihres Artikels klar zu machen versucht, das Widerstand zwecklos ist: <a href="https://www.welt.de/wirtschaft/article177040354/Lebensarbeitszeit-An-der-Rente-mit-69-fuehrt-kein-Weg-vorbei.html" target="_blank">An der Rente mit 69 führt kein Weg vorbei</a>. </li>
</ul>
Es ließen sich zahlreiche weitere Belegstellen aus der aktuellen Berichterstattung zitieren, die alle eine angeblich unausweichliche Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zu verkaufen versuchen. Darüber wird in den kommenden Monaten mit Sicherheit noch öfter gesprochen und gestritten werden, denn (noch) ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht richtig weichgekocht, um die Botschaft zu akzeptieren. Un dass die Menschen gute Gründe für ihre Ablehnung haben, wurde hier schon in dem Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2016/07/169.html" target="_blank">Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters</a> vom 28. Juli 2016 dargestellt.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-17212967825659302762018-06-04T23:48:00.000+02:002018-06-09T11:02:59.986+02:00Pflege-Welten in den Medien: Von der "Qualität der Pflege" in Zahlen, der Deformation von Pflegeheimen zu Wartesälen auf den Tod durch das renditesuchende Kapital und eine Lebenslüge der deutschen Pflegepolitik Es fängt schon damit an, dass bei der Diskussion über "die" Pflege immer wieder munter alles miteinander vermengt wird, was aber teilweise ganz unterschiedlichen Systemen folgt. So die Vermischung von Kranken- und Altenpflege beispielsweise.<br />
<br />
Aber man muss es ja auch zugeben: Die Welten der Pflege sind sehr unübersichtlich. Und man kann bei einem Blick auf die mediale Berichterstattung schnell das Gefühl bekommen, dass es überall irgendwie brennt, aber zugleich fällt es schwer, das alles in einen Rahmen zu bringen, der bei der Einordnung helfen kann.<br />
<br />
Und wenn auch große Unterschiede bestehen zwischen Krankenhaus- und Altenpflege, im Leben der Betroffenen und derjenigen, die sich um sie kümmern, gibt es immer wieder Situationen, die sich nicht an die versäulten Systeme halten und in ihnen bleiben. Darüber berichtet der neue "Pflege-Report 2018"<b> </b>mit dem Schwerpunkt „Qualität in der Pflege“, der gerade veröffentlicht wurde: <a href="http://aok-bv.de/presse/pressemitteilungen/2018/index_20548.html" target="_blank">Pflege-Report 2018: Zu viele Antipsychotika-Verschreibungen, Dekubitus-Fälle und Krankenhauseinweisungen in deutschen Pflegeheimen</a>, so ist die Meldung des herausgebenden AOK-Bundesverbandes dazu überschrieben.<br />
<a name='more'></a><br />
Zwischen deutschen Pflegeheimen bestehen deutliche Qualitätsunterschiede bei der Gesundheitsversorgung. Das zeigt eine aktuelle Analyse, die das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) im Rahmen des Pflege-Reports 2018 durchgeführt hat.<br />
<br />
»Danach ist die Zahl der Antipsychotika-Verordnungen, Dekubitus-Fälle und Krankenhaus-Einweisungen in vielen Pflegeheimen zu hoch. Die Ergebnisse machen die zum Teil gravierenden Qualitätsunterschiede zwischen den Pflegeheimen deutlich. Das WIdO hat erstmals auch Versorgungsbereiche ausgewertet, die bislang nicht Bestandteil der gesetzlich vorgesehenen Qualitätssicherung sind, da sie über das Sozialgesetzbuch XI hinausgehen.«<br />
<br />
Damit wird hier ein Bereich angesprochen, der sich ebenfalls durch eine große Unübersichtlichkeit auszeichnen und der uns gleich noch an anderer Stelle begegnen wird: Wer kontrolliert eigentlich wie die Pflegeheime? Diese Frage hört sich einfacher an als das, was man dann zur Kenntnis nehmen muss.<br />
<br />
Was haben die Wissenschaftler vom WIdO nun eigentlich gemacht? »Neben den Antipsychotika-Verordnungen, den Dekubitus-Raten sowie vermeidbaren Krankenhauseinweisungen wurden außerdem noch der ärztliche Versorgungsgrad sowie Harnwegsinfekte in Pflegeheimen gemessen. Grundlage waren Abrechnungsdaten von AOK-versicherten Pflegebedürftigen aus rund 5.600 Pflegeheimen.«<br />
<br />
»Ein wesentlicher Befund: Je 100 Heimbewohner treten jährlich im Durchschnitt 8,5 neue Dekubitus-Fälle auf. Das auffälligste Viertel der Heime mit 12 oder mehr Fällen hat dreimal so viele Fälle wie das Viertel der Heime mit den niedrigsten Raten ... Ein weiteres Ergebnis ist auffällig: 41 Prozent der Demenzkranken im Pflegeheim erhalten mindestens einmal pro Quartal ein Antipsychotikum. Dabei verstößt die dauerhafte Gabe von Antipsychotika an Demenzkranke gegen medizinische Leitlinien. Genauso wie die Häufigkeit von Dekubitus-Fällen ist auch die Zahl der Antipsychotika-Verordnungen ein wichtiger Indikator, um die Qualität der Versorgung in einem Heim zu bewerten. Im auffälligsten Viertel der Pflegeheime sind es so viele, dass statistisch gesehen jeder Bewohner mit Demenz in zwei Quartalen eine Antipsychotikaverordnung erhält. Damit liegt diese Rate um das 1,5-fache höher als beim Viertel der Heime mit den niedrigsten Werten ...<br />
Problematisch erscheinen auch Kennzahlen, die die Schnittstelle zwischen Pflegeheim und Krankenhaus beleuchten. Krankenhausaufenthalte können für die in der Regel hochbetagten, kognitiv eingeschränkten Menschen im Pflegeheim selbst zu einem Gesundheitsrisiko werden. Die Auswertungen des WIdO zeigen nun, dass jeder fünfte Pflegeheimbewohner innerhalb eines Quartals ins Krankenhaus eingewiesen wird. Gleichzeitig gelten aber 40 Prozent dieser Einweisungen in Fachkreisen als potenziell vermeidbar. Bei einer besseren ambulant-ärztlichen Versorgung wären sie zum Teil gar nicht notwendig ... Pro Jahr summieren sich die so genannten ambulant-sensitiven Krankenhausfälle durchschnittlich auf 32 Fälle pro 100 Bewohner. Die fünf Prozent der Heime, die am auffälligsten sind, haben doppelt so hohe Raten wie der Durchschnitt. Das heißt, dort sind es 63 Fälle pro 100 Bewohner.«<br />
<br />
Die im Pflege-Report 2018 präsentierten und hier nur auszugsweise zitierten Befunde sind natürlich aus der Vogel-Perspektive über alle Heime erstellt worden. Darunter lieget die Ebene des einzelnen Heims und der dort lebenden Menschen. Aus dieser Welt stellvertretend dieser Bericht von Sascha Adamek und Tina Friedrich: <a href="https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2018/06/berliner-heimaufsicht-prueft-vorwuerfe-gegen-vitanas-pflegeheim-.html" target="_blank">Berliner Heimaufsicht prüft Vorwürfe gegen Vitanas-Pflegeheime</a>: »Seit knapp einem Jahr gehört die Vitanas-Pflegekette einem amerikanischen Investor. Seitdem soll sich die Personalsituation laut Betriebsrat deutlich verschlechtert haben: Überlastungsanzeigen der Beschäftigten häuften sich, außerdem gebe es massive Beschwerden von Angehörigen.«<br />
<br />
Es geht um das Pflegeheim Rosengarten der Vitanas-Kette in Berlin Lankwitz. "Das Pflegeheim wird zum Wartesaal auf den Tod", so wird Henry Winz zitiert, dessen Schwiegervater seit zwei Jahren in dem Heim untergebracht ist. Er zählt »eine Reihe von Indizien auf, die auf Zeit- und Personalmangel hindeuten. Wochenlang sei der Fahrstuhl außer Betrieb gewesen, in den auch ein Rollstuhl passt - und damit seinem Schwiegervater "der einzige Weg an die frische Luft" versperrt.«<br />
<br />
Er gehört zu »drei Dutzend Unterzeichnern eines Offenen Briefes an die Vitanas-Führung ... Darin werfen Angehörige und Betreuer dem US-Finanzinvestor "Oaktree" - der die Vitanas-Kette vor einem Jahr übernommen hatte - vor, das Heim verwahrlosen zu lassen. "Schmutzige Flure und Zimmer, verdreckte Balkone, Reparaturen, die nicht mehr erledigt werden", darüber hinaus "immer weniger Betreuungspersonal, unwissendes, täglich wechselndes Leasingpersonal" - daraus resultierend die Sorge vor Pflegefehlern ... Diese Sorge teilt auch Harald Hahne, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats von Vitanas. Die Überlastung erlebten die Pflegerinnen und Pfleger jeden Tag: "Tätigkeiten, die sonst von fünf Pflegekräften durchgeführt werden, werden plötzlich nur noch durch drei Pflegekräfte erledigt". Die gleiche Arbeit und Qualität zu erbringen, funktioniere schon "rein rechnerisch nicht".«<br />
<br />
An dieser Stelle, vor allem hinsichtlich der Nennung des Finanzinvestors <a href="https://www.oaktreecapital.com/" target="_blank">Oaktree</a>, wird sich der eine oder andere Leser dieses Blogs erinnern - da war doch was? Genau, am 15. Dezember 2017 wurde hier dieser Beitrag publiziert: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2017/12/pflege-business-mit-neuen-rekordmeldungen.html" target="_blank">Pflege-Business mit neuen Rekordmeldungen: Mit 1,1 Milliarden Euro kauft ein Private Equity-Investor einen Pflegeheimbetreiber</a>. Darin findet man diese Hinweise:<br />
<br />
»So hat eine amerikanische Gesellschaft den sechstgrößten deutschen Heimbetreiber aufgekauft. 13 Pflegeheime gehen in den Besitz eines US-Investors, einer vermeintlichen „Heuschrecke“. Hamburgs größter privater Pflege-Anbieter, Pflegen & Wohnen, ist in die Hände der US-amerikanischen Heuschrecke Oaktree gefallen. Oaktree verwaltet 100 Milliarden US-Dollar, etwa 40 Prozent davon haben die Manager aus Kalifornien weltweit in Unternehmen investiert. Und die haben außerdem die Vitanas Holding erworben, die mit gut 7.700 Pflegeplätzen sechstgrößte Einrichtung dieser Art ... Mit der Vitanas Holding sowie der Hamburger Pflege & Wohnen (insgesamt mehr als 8.300 Pflegeplätze) kann Oaktree auf dem Pflegeheimmarkt den sechsten Rang unter den deutschen Anbietern einnehmen, knapp hinter dem Berliner Unternehmen Kursana mit seinen gut 9.000 Residenzplätzen. Kursana gehört zur Berliner Dussmann Gruppe. Die marktführenden Ketten Curanum und Casa Reha mit knapp 25.000 Pflegeplätzen in 221 Heimen gehören der börsennotierten französischen Korian. Der nächstgrößere Rivale, Alloheim Senioren-Residenzen mit Sitz in Düsseldorf, 143 Heimen und gut 14.000 Plätzen, gehört dem Finanzinvestor Carlyle, der aber schon wieder einen neuen Eigentümer sucht.«<br />
<br />
Die hier konkret werdende Entwicklung wird auch von anderen Medien aufgegriffen, so von Spiegel Online unter der Überschrift <a href="http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/finanzinvestoren-stecken-milliarden-in-gesundheitsfirmen-a-1210694.html" target="_blank">Finanzinvestoren stecken Milliarden in Gesundheitsfirmen</a>: »Ob Pharmaunternehmen oder Pflegeheime - Finanzinvestoren stecken Milliarden in den europäischen Gesundheitsmarkt. Begehrt sind deutsche Firmen.« Beteiligungsfirmen haben 2017 in Europa 12,8 Milliarden US-Dollar (10,9 Milliarden Euro) in die Gesundheitsbranche investiert - drei Mal so viel wie im Jahr davor. Der Großteil entfällt auf deutsche Firmen. Speziell zu den Pflegeheimen erfahren wir:<br />
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»Gerade Alten- und Pflegeheime sind bei Beteiligungsfirmen begehrt. Laut der Beratungsfirma Terranus übernahmen Investoren 2017 hierzulande mehr als 40.000 Pflegebetten - fast doppelt so viele wie 2015.<br />
"Private Betreiber profitierten davon, dass es im bisher zersplitterten Markt einen Bedarf nach Zusammenschlüssen gibt", sagt Terranus-Geschäftsführer Hermann Josef Thiel. So sei der größte Pflegeheimbetreiber hierzulande die französische Kette Korian, die durch Übernahmen stark gewachsen sei und nun 28.000 Betten zähle.«<br />
<br />
Man sollte sich keinerlei Illusionen hingeben, was der enorme Renditedruck der Anlagegesellschaften in einem dermaßen sensiblen Bereich wie der Altenpflege bedeutet, in dem die Personalkosten zwischen 70 bis 80 Prozent der Gesamtkosten liegen - vor allem vor dem Hintergrund des hier fatal sich auswirkenden Geschäftsmodells der Anleger: Beteiligungsfirmen übernehmen Unternehmen oft mit dem Ziel, sie nach einigen Jahren mit Gewinn zu veräußern. Und dazu werden sie konsequent auf Wiederverkaufslinie gebracht, koste es, was es wolle. Dazu auch der Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2017/11/die-altenpflege-und-das-kapital.html" target="_blank">Bei den einen zu wenig, von dem anderen eine Menge. Die Altenpflege und das Kapital</a> vom 3. November 2017.<br />
<br />
Hier können nur Bruchstücke aus der aktuellen Berichterstattung präsentiert werden - und zur "Abrundung" sei mal wieder eine dieser zentralen Lebenslügen der deutschen Pflegepolitik aufgerufen. gemeint ist die Tatsache, dass viele Pflegebedürftige nur deshalb zu Hause verbleiben können, weil sie und ihre Angehörigen auf die Unterstützung durch osteuropäische Pflege- und Betreuungskräfte zurückgreifen können, die monatelang in den Haushalten der Betroffenen leben und arbeiten.<br />
<br />
Der Deutschlandfunk hat dieses Thema wieder einmal aufgegriffen in einer Sendung unter dem Titel: <a href="http://www.deutschlandfunk.de/bernhard-emunds-vs-frederic-seebohm-osteuropaeische.2927.de.html?dram:article_id=419311" target="_blank">Osteuropäische Pflegekräfte daheim statt Pflegeheim?</a> »In Deutschland sind knapp drei Millionen Menschen auf Hilfe im Alltag angewiesen, wobei der weitaus größte Teil von Ehepartnern oder Verwandten betreut wird. Als Alternative vermitteln spezielle Agenturen aber auch Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa. Das ist preiswert - aber auch eine gute Lösung?« So die Fragestellung der Sendung, in der mit Prof. Dr. Bernhard Emunds, dem Leiter des <a href="https://nbi.sankt-georgen.de/blog" target="_blank">Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik</a> an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen, Geschäftsführung und Vorstandsmitglied des <a href="http://www.vhbp.de/" target="_blank">Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege</a>, zwei ganz unterschiedliche Gesprächspartner vertreten waren.<br />
<br />
Die Position von Emunds wird so zusammengefasst: »In der sogenannten 24-Stunden-Pflege leben Polinnen und andere Mittel- und Osteuropäerinnen mit in den Haushalten der Pflegebedürftigen. Dort übernehmen sie Pflegeaufgaben, hauswirtschaftliche Tätigkeiten und bei Demenz auch die Aufsicht der zu pflegenden Person. Nimmt man die Zeiten ihrer Einsatzbereitschaft, die sie vor Ort verbringen, hinzu, arbeiten diese Pflegekräfte an sieben Tagen die Woche – abgesehen von kurzen Ruhepausen rund um die Uhr. Eine solche Erwerbstätigkeit ist ausbeuterisch. In den Phasen ihres Pflegeeinsatzes in Deutschland haben diese Migrantinnen keine Zeit, in der sie dem Pflegebedürftigen oder seiner Familie nicht zur Verfügung stünden. Das verstößt gegen das Menschenrecht auf Freizeit. Deshalb muss die Nachfrage nach sog. 24-Stunden-Pflege soweit wie möglich reduziert werden: durch eine Verbesserung der stationären Angebote und durch neue Pflegewohngruppen sowie durch individuell zugeschnittene Kombinationen unterstützender Dienstleistungen.«<br />
<br />
Und Frederic Seebohm? Seine Perspektive auf das Thema Leist sich so: »Täglich sind mehr als 300.000 Pflegebedürftige auf Betreuung in häuslicher Gemeinschaft existentiell angewiesen. Wer das nicht will, muss zusätzlich zu schon jetzt 800.000 stationären Plätzen weitere 3.750 Heime bauen – und zusätzlich 50.000 examinierte Pflegekräfte herbeizaubern. Auch müsste man den Willen der Betroffenen brechen, die zu Hause bleiben wollen. Betreuungspersonen aus Osteuropa sind nicht ersetzbar. Denn Angehörige sind selber pflegebedürftig, noch berufstätig oder schlicht nicht existent. Der Verband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) kämpft für qualifizierte, rechtssichere, bezahlbare Betreuung in häuslicher Gemeinschaft, Hand in Hand mit ambulanten Pflegediensten. Das ist in Österreich seit 11 Jahren üblich. Als Vorsorgeanwalt und Geschäftsführer des VHBP nehme ich nicht hin, dass die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft tabuisiert und über häufige Schwarzarbeit hinweggesehen wird. Pflegebedürftige dürfen möglichst in ihrem Zuhause leben und sterben. Das ist kein Privileg für die oberen Zehntausend. Das ist einfach Menschlichkeit für z.B. eine pensionierte Lehrerin, also die Mitte der Gesellschaft.«Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-67347477127696530662018-06-03T23:49:00.000+02:002018-06-04T09:35:25.418+02:00Wenn das aus der Systemlogik definierte Unterste am Ende zum Obersten wird, sollte man sich nicht wundern. Zur Ambivalenz der geplanten Personaluntergrenzen in der Krankenhauspflege<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEieTkINNxJxfFcTSuAwP845uJnvypEeOSjXGZhOiS03iI0Zg-jQqAYuVsN8pn2kZzBEjEmSvzEQ45KIL9ke7X8dON2eyPiYFWEwrRGHLf_m20-K_5ilJx6V-Z_VGs29_XnSgpxfQjpCUhMM/s1600/Personaluntergrenzen+Zitat.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="309" data-original-width="794" height="155" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEieTkINNxJxfFcTSuAwP845uJnvypEeOSjXGZhOiS03iI0Zg-jQqAYuVsN8pn2kZzBEjEmSvzEQ45KIL9ke7X8dON2eyPiYFWEwrRGHLf_m20-K_5ilJx6V-Z_VGs29_XnSgpxfQjpCUhMM/s400/Personaluntergrenzen+Zitat.jpg" width="400" /></a></div>
<br />
Immer diese Pflege und der Pflegenotstand. Schauen wir diesmal auf die Krankenhauspflege. Auch dort klemmt es vorne und hinten. Und immer wieder wird über eklatanten Pflegepersonalmangel in den Kliniken berichtet. Aus der Politik kommt an dieser Stelle regelmäßig der Hinweis, dass demnächst alles besser wird, weil man Pflegepersonaluntergrenzen definieren und verbindlich machen will. Es besteht also Hoffnung.<br />
<br />
Und dann so eine Meldung: <a href="http://www.tagesschau.de/inland/pflege-199.html" target="_blank">Streit um Pflegepersonal: "Keine spürbare Verbesserung"</a>, so hat Tamara Anthony ihren Bericht überschrieben. »Gerade erst haben sich Krankenhausbetreiber und Krankenkassen auf Personaluntergrenzen geeinigt, um Patienten besser betreuen zu können. Doch Verbände warnen: Die Unterbesetzung werde so zementiert.« Nico Popp hat das Thema in diesem Artikel aufgegriffen: <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/333490.anpassung-nach-unten.html" target="_blank">Anpassung nach unten</a>: »Personaluntergrenzen in den Krankenhäusern drohen zum Desaster zu werden.« Offensichtlich werden wir schon wieder mit einem Beispiel aus der Sendereihe "Gut gemeint, aber ganz woanders gelandet" konfrontiert, das so typisch ist für das deutsche Pflegesystem.<br />
<a name='more'></a><br />
Ein breites Bündnis aus Patientenvertretungen, Gewerkschaften und Pflegeorganisationen schlägt Alarm mit einer gemeinsamen Erklärung: »Der Beschluss führe zu keinen spürbaren Verbesserungen der Personalausstattungen in den Krankenhäusern, kritisiert das Bündnis, darunter der Deutsche Pflegerat, die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft, ver.di, das Aktionsbündnis Patientensicherheit, der Sozialverband Deutschland und sechs weitere Organisationen ... Im Gegenteil, die Verbände befürchten, dass die Einigung sogar zu Verschlechterungen in den Krankenhäusern führt, denn sie sieht nur eine Mindest-Personalausstattung vor. Krankenhäuser, die darüber liegen, könnten sich eingeladen fühlen, auf dieses Niveau abzusenken. Zudem sollen die Mindest-Grenzen sich nicht am Bedarf der Patienten orientieren. Sie sind eine rein statistische Größe: lediglich die 10 bis 25 Prozent der derzeit am schlechtesten ausgestatteten Krankenhausabteilungen sollen mehr Personal vorhalten.«<br />
<br />
Schauen wir uns die angesprochene <a href="http://dg-pflegewissenschaft.de/wp-content/uploads/2018/06/2018_06_01_Erkl%C3%A4rung_Pflegepersonaluntergrenzen.pdf" target="_blank">Erklärung der Organisationen zu den Auswirkungen der Festlegung von Pflegepersonaluntergrenzen</a> einmal genauer an.<br />
<br />
Vorab aber nur einige wenige Hinweise auf die Genese dessen, was zu den Personaluntergrenzen geführt hat: Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte am 1.10.2015 in Berlin die Expertenkommission "Pflegepersonal im Krankenhaus" einberufen. Am 7. März 2017 wurde dann seitens des Ministeriums darüber informiert: <a href="https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2017/1-quartal/pflegepersonal-im-krankenhaus.html" target="_blank">Stärkung der Pflege im Krankenhaus. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, Koalitionsfraktionen und Länder verständigen sich auf die Einführung von Personaluntergrenzen</a>: »In Krankenhausbereichen, in denen dies aus Gründen der Patientensicherheit besonders notwendig ist, sollen künftig Pflegepersonaluntergrenzen festgelegt werden, die nicht unterschritten werden dürfen« - wie beispielsweise auf Intensivstationen oder im Nachtdienst.<br />
Die Vorschläge der Expertenkommission (vgl. dazu im Original: <a href="https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Pflegekommisison/170307_Abschlusspapier_Pflegekommission.pdf" target="_blank">Schlussfolgerungen</a><br />
<a href="https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Pflegekommisison/170307_Abschlusspapier_Pflegekommission.pdf" target="_blank">aus den Beratungen der Expertinnen- und Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“</a> vom 7. März 2017) wurden im April 2017 von der Bundesregierung in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) unter Beteiligung der Privaten Krankenversicherung (PKV) wurden damit beauftragt, Personaluntergrenzen in sogenannten pflegesensitiven Bereichen verbindlich festzulegen. Hierbei werden Intensivstationen sowie die Besetzung des Nachtdienstes mit einbezogen. Die konkreten Regelungen, die auf Empfehlungen einer Expertenkommission zurückgehen, sollen bis zum 30. Juni 2018 vereinbart und zum 1. Januar 2019 umgesetzt werden.<br />
<br />
Man muss sich das unauflösbare Dilemma an dieser Stelle verdeutlichen: Der Gesetzgeber beauftragt ausschließlich die Kostenträger (= Krankenversicherungen) sowie die Leistungserbringer (=Krankenhäuser) mit der Ausarbeitung von Personaluntergrenzen in der Pflege. Man muss keine längeren Überlegungen anstellen, dass es hier eine Menge Interessenkonflikte geben muss, denn die Kostenträger haben vor Augen, dass sie eventuelle Mehrkosten finanzieren müssen und die Krankenhausträger stehen vor dem Problem, dass solche Untergrenzen bei Nicht-Einhaltung dazu führen können bzw. werden, dass sie beispielsweise mit Belegungs- und Aufnahmestopps und den damit verbundenen Einnahmeverlusten konfrontiert sein könnten. Wer von den beiden soll ein Interesse daran haben, kosten- bzw. erlösrelevante Verbesserungen bei der Personalausstattung auf die Gleise zu setzen?<br />
<br />
Die kritische Erklärung der Organisationen beginnt mit dem Hinweis auf die (mittlerweile allerdings schon auf der Ebene der Absichtserklärung überholte) gesetzliche Ausgangslage:<br />
<br />
»Gemäß <a href="https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__137i.html" target="_blank">§ 137i SGB V</a> sind die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) aufgefordert, Pflegepersonaluntergrenzen für „pflegesensitive Bereiche“ im Krankenhaus festzulegen.«<br />
<br />
Überholt deshalb, weil die neue alte Große Koalition in ihrem <a href="https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1" target="_blank">Koalitionsvertrag</a> vereinbart hat:<br />
<br />
»Den Auftrag an Kassen und Krankenhäuser, Personaluntergrenzen für pflegeintensive Bereiche festzulegen, werden wir dergestalt erweitern, dass in Krankenhäusern derartige Untergrenzen nicht nur für pflegeintensive Bereiche, sondern für alle bettenführenden Abteilungen eingeführt werden.«<br />
<br />
Aber in der Erklärung geht es um das bislang gefundene Verfahren für die Bemessung der Pflegepersonaluntergrenzen:<br />
<br />
»Hierbei haben sich die Verhandlungspartner darauf verständigt, nach dem sogenannten Perzentilansatz vorzugehen. Das bedeutet, dass nur die am schlechtesten ausgestatteten Fachabteilungen auf das Niveau des unteren Dezils (10 Prozent) oder maximal des Quartils (25 Prozent) anzuheben wären. Eine genaue Höhe des Prozentsatzes wurde noch nicht festgelegt.«<br />
<br />
Es wird als wahrscheinlich angesehen, dass mit der Vereinbarung sogar weitere Verschlechterungen auftreten, kann man der Erklärung entnehmen. Wie das? Die Verfasser der gemeinsamen Erklärung weisen auf die folgenden drei bedenkenswerte Punkte hin:<br />
<ul>
<li><b>Zu niedriges Niveau der Untergrenzen und fehlende Evidenz</b>: Es liegt keinerlei Evidenz zu der Frage vor, welche Personalausstattung notwendig ist, um die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten. Bekannt ist aber, dass z.B. mit jedem Patienten, den eine Pflegekraft pro Schicht mehr versorgen muss, die Mortalität um 7 Prozent zunimmt (hier bezieht man sich auf Befunde aus der <a href="http://www.rn4cast.eu/about1.html" target="_blank">RN4CAST-Studie</a>). Angesichts der Personalausstattung mit vergleichbaren Industriestaaten, die allesamt belegen, dass Deutschland weit unter dem Niveau in anderen Ländern liegt, muss davon ausgegangen werden, dass selbst Einrichtungen, die in Deutschland einen mittleren oder oberen Platz einnehmen, über zu wenig Personal für die Gewährleistung von Patientensicherheit verfügen. Dauerhaft nur die schlechtesten 25 oder gar 10 Prozent anzuheben, zementiert die derzeitige Unterbesetzung.</li>
<li><b>Sogwirkung der Pflegepersonaluntergrenzen</b>: Bei einer Festlegung der Pflegepersonaluntergrenzen nach dem Perzentilansatz wird einem hohen Anteil von 75 bis zu 90 Prozent der Krankenhäuser bescheinigt, dass sie mehr Personal beschäftigen als unbedingt erforderlich. Unter den bestehenden ökonomischen Rahmenbedingungen, die zum aktuellen Pflegenotstand geführt haben, ist zu befürchten, dass diese Krankenhäuser ihre Personalausstattung als Reaktion auf die Festlegung weiter reduzieren. </li>
<li><b>Mangelhafte Durchsetzung der Untergrenzen und Kontrolle von Verlagerungseffekten</b>: Pflegepersonaluntergrenzen sollen entlang von nur sechs Fachgebieten wie z.B. der Geriatrie festgelegt werden, obwohl der Koalitionsvertrag bereits Regelungen für alle bettenführenden Abteilungen vorsieht. Die relevante Planungsgröße innerhalb der Krankenhäuser sind aber die Stationen, die immer öfter interdisziplinär gestaltet sind oder gar Normalbetten und Intensivbetten integrieren. In derartigen Strukturen greifen die vorgesehenen Untergrenzen nicht. Auch sind Verlegungen von Patienten, Umbenennungen von Stationen oder die Verlagerung von Aufgaben zwischen verschiedenen Personalgruppen nicht kontrollierbar und bieten somit umfangreiche Umgehungsmöglichkeiten.</li>
</ul>
Es sind also vor allem zwei Dimensionen, die hier ins Feld geführt werden:<br />
<div>
<ul>
<li>Zum einen der grundsätzliche Charakter von Personaluntergrenzen, das hier eben <b>nur das Mindeste </b>normiert werden soll, gleichsam die Vermeidung einer Patientengefährdung, nicht aber eine bedarfsgerechte Versorgung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat dementsprechend darauf hingewiesen, es bestehe nur eine gesetzlichen Vorgabe zur Einführung von Personaluntergrenzen zur Vermeidung von Gefährdungssituationen, nicht aber zur Abbildung einer bedarfsgerechten Pflege. Damit verbunden wird das leider nicht unrealistische Szenario, dass die Untergrenze in der Praxis des Krankenhausalltags aufgrund der generellen Personalkostenproblematik ob bewusst oder schleichend aufgrund der Konkurrenzsituation zu einer Art Referenzgrenze mutiert, man sich also von oben planerisch an der damit verbundenen Mindest- als Normalausstattung orientiert. Dazu gibt es durchaus Analogien aus anderen Bereichen, man denke hier nur an einen vergleichbaren Effekt in manchen Branchen nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns als Lohnuntergrenze, die dort mittlerweile als Bezugspunkt für die Vergütung genommen wird.</li>
<li>Zum anderen wird auf die <b>betriebswirtschaftliche Dimension der Operationalisierung der Grenze</b> abgestellt - konkret: Abteilungen oder Stationen (oder was eigentlich logisch wäre, aber derzeit offensichtlich gar nicht vorgesehen ist: einzelne Patienten mit ihrer Fallschwere). Und die Erklärung problematisiert auch etwas, das wir aus den Erfahrungen mit dem gesetzlichen Mindestlohn zur Genüge kennen: Umgehungsstrategien im betrieblichen Alltag. </li>
</ul>
Die letztgenannte und im politischen Geschäft regelmäßig vernachlässigte Dimension der betriebswirtschaftlichen Umsetzung solcher Vorgaben war auch hinsichtlich weiterer angeblicher Regelungsinhalte im Vorfeld der gemeinsamen Erklärung Auslöser heftiger Kritik. So berichtete Anno Fricke am 10. Mai 2018 in seinem Artikel <a href="https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/pflege/article/963596/personaluntergrenzen-pflegerat-verdi-laufen-sturm.html?sh=4&h=1816397496" target="_blank">Pflegerat und Verdi laufen Sturm</a>: </div>
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»Demnach sehen die Selbstverwaltungspartner vor, über Monatsdurchschnittswerte Personaluntergrenzen zu definieren ... Demnach soll aus den Personalbesetzungen der als pflegesensitiv identifizierten Stationen, also zum Beispiel geriatrischen Abteilungen und Intensivstationen, ein 30-Tage-Durchschnitt gebildet werden. Tage, an denen diese Untergrenzen nicht erreicht wurden, sollen monatlich erfasst werden.«</div>
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Und selbst das hört sich unproblematischer an als es ist. Was meint der Bezugspunkt Tage? Kann dann eine erhebliche Personalunterdeckung beispielsweise in einer Schicht durch eine etwas besserer Besetzung in den restlichen Stunden des Tages kompensiert werden?</div>
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Und selbst wenn man eine halbwegs adäquate zeitliche Bezugsgröße hätte - wie sieht es aus mit der Kontrolle und den möglichen Sanktionen, wenn die Untergrenzen nicht eingehalten werden? Auch dazu hat man beispielsweise aus dem Lager der Krankenhausträger interessante Hinweise zur Kenntnis nehmen müssen. So wurde in dem Artikel <a href="https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/95065/Weiter-Streit-um-Personaluntergrenzen-im-Krankenhaus" target="_blank">Weiter Streit um Personaluntergrenzen im Krankenhaus</a> Georg Baum zitiert, der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG): </div>
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Zu der Forderung nach einer adäquaten und verlässlichen Kontrolle der Personalvorgaben sagte er: „Eine schicht- und tagesgenaue Erfassung des eingesetzten Personals und des Pflegebedarfs der Patienten für Sanktionierungen, die auf Tagesabweichung abstellen, wären ein bürokratischer Gau und hätten das Potenzial, die Krankenhausversorgung in Deutschland lahmzulegen“. </div>
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Man kann an den genannten Punkten erkennen, dass es sich bei den Personaluntergrenzen um eine nett formuliert ambivalente, skeptisch gesehen um eine höchst gefährliche Angelegenheit handelt.</div>
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Abschließend nochmals der Blick in die <a href="http://dg-pflegewissenschaft.de/wp-content/uploads/2018/06/2018_06_01_Erkl%C3%A4rung_Pflegepersonaluntergrenzen.pdf" target="_blank">Erklärung der Organisationen zu den Auswirkungen der Festlegung von Pflegepersonaluntergrenzen</a> vor dem Hintergrund der Frage, ob dort auch alternative Vorschläge gemacht werden. Am Ende des Textes finden wir diesen Hinweis:</div>
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»Der Personaleinsatz muss sich am Bedarf der Patientinnen und Patienten orientieren, um sichere Pflege zu gewährleisten. Dazu sind Lösungsansätze erforderlich, die dies von Beginn an gewährleisten. Ein Instrument, wie es vor Jahren mit der Pflegepersonal-Regelung (PPR) bereits eingesetzt wurde, könnte weiterentwickelt und -verfolgt werden.«</div>
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Da taucht sie wieder auf, die <b>Pflegepersonal-Regelung (PPR)</b>, die korrekte Bezeichnung lautet: "Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung)", die immer wieder von den alten Hasen zitiert wird, die sich noch daran erinnern können. Man muss tatsächlich das Rad der Personalbemessung nicht neu erfinden. Aber auch hier sollte man immer daran denken, was damit verbunden wäre, wenn man den tatsächlichen Pflegeaufwand abzubilden versucht (und nicht nur mehr oder weniger seriös kalkulierte Grenzen des Untersten). Dazu aus meinem Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2014/09/8-pflegepersonalmindeststandards-krankenhaus.html" target="_blank">Pflegenotstand - und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal</a> vom 8. September 2014 (!):</div>
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»Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung flugs ausgesetzt.«</div>
Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-52747147994591391252018-06-02T23:50:00.000+02:002018-06-09T11:03:55.960+02:00Ein Tag von 365 Tagen mit einer langen und für viele tödlichen Warteliste: Organspenden, Organtransplantationen und ja, auch OrganhandelDer 2. Juni ist in diesem Jahr der "Tag der Organspende". Natürlich gibt es dazu eine offizielle Webseite: <a href="http://www.organspendetag.de/">www.organspendetag.de</a>. Dort werden wir mit dieser Botschaft versorgt: »Alle Jahre wieder: Seit nunmehr 36 Jahren ist der Tag der Organspende ein guter Grund, sich den ersten Samstag im Juni im Kalender rot anzustreichen. Der Tag der Organspende findet jedes Jahr in einem anderen Bundesland statt; in diesem Jahr wird er am 2. Juni in Saarbrücken ausgerichtet ... Die Veranstaltung startet mit dem Ökumenischen Dankgottesdienst in der Ludwigskirche.« Man kann das als eines dieser ritualisierten Formen der "Tage des ..." abtun. Letztendlich geht es sicher auch darum, im Strom der medialen Masseninhalte um und an einem Tag ein Stück Aufmerksamkeit zu erheischen. Und beim Thema Organspende handelt es sich nun wirklich nicht um den Hinweis auf irgendeine Skurrilität, sondern im wahrsten Sinne des Wortes um eine Frage von Tod oder Leben und das in mehrfacher Hinsicht.<br />
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Wir sind - hier bewusst technokratisch formuliert - in dieser überaus ambivalenten Angelegenheit im Grenzbereich zwischen Leben und Tod - mit einem massiven Angebots-Nachfrage-Problem konfrontiert. Man kann das so <a href="https://www.tagesschau.de/inland/organspende-spendenbereitschaft-103.html" target="_blank">in einen Satz pressen</a>: »In Deutschland warten etwa 10.000 Schwerkranke auf ein neues Organ. 2017 gab es nur knapp 800 Spender - der niedrigste Stand seit 20 Jahren.«<br />
<a name='more'></a><br />
Durch die Organspender konnten im vergangenen Jahr 2.867 Organe an schwer kranke Patienten transplantiert werden. Für die Empfänger ein Segen – viele Patienten warten jedoch weiter, oft vergeblich.<br />
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Der erste Blick auf die reinen Zahlen verdeutlicht die Problematik auf der "Angebotsseite":<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6YCZ9GW64v8ymglqv-Z2kreGJZrAVitqxjGe-o-G9g2FqTDdOOipXp_hWmF7-E6K8UXxy-tN3jUBlRDUmGfcfOzviKTccVSedr_-aVCX6qZDzrMEMMQm6Wgv273cIRtjht-C2S5IC9ROQ/s1600/Organspender+1.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="496" data-original-width="709" height="280" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6YCZ9GW64v8ymglqv-Z2kreGJZrAVitqxjGe-o-G9g2FqTDdOOipXp_hWmF7-E6K8UXxy-tN3jUBlRDUmGfcfOzviKTccVSedr_-aVCX6qZDzrMEMMQm6Wgv273cIRtjht-C2S5IC9ROQ/s400/Organspender+1.jpg" width="400" /></a></div>
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Nun ist bei solchen Zahlen immer auch die Frage aufzuwerfen, ob das nun "viel" oder "wenig" ist. Die Antwort hängt von vielen möglichen Bezugspunkten ab. Aber dass wir in Deutschland gute Gründe haben, die Zahlen als "wenig" oder "sehr wenig" einzuordnen, zeigt sich bereits bei einem Blick auf die relativen Daten im Vergleich der Eurotransplant-Ländern. <a href="https://www.eurotransplant.org/cms/index.php?page=pat_germany" target="_blank">Eurotransplant</a> vermittelt und koordiniert den internationalen Austausch von Spenderorganen in einem Einzugsgebiet, in dem 136 Millionen Menschen leben. Teilnehmende Länder sind: Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Deutschland, Slowenien, Österreich und Kroatien, seit 2012 ist auch Ungarn dabei.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiBf9-mhMI-kS7U-juCKohPAIt80MFY2OmsDtLL_I9z2zlukUbn2FMqfESGExtdxh1UCpQ_aaGCteNl1Z1Nll-JpbpKfqLga5CB5zBgc5exsCS6zz1jT_20BK93xJZdLPQgUpawC309L_6q/s1600/Organspender+2.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="480" data-original-width="709" height="270" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiBf9-mhMI-kS7U-juCKohPAIt80MFY2OmsDtLL_I9z2zlukUbn2FMqfESGExtdxh1UCpQ_aaGCteNl1Z1Nll-JpbpKfqLga5CB5zBgc5exsCS6zz1jT_20BK93xJZdLPQgUpawC309L_6q/s400/Organspender+2.jpg" width="400" /></a></div>
<br />
Nun müssen die hier präsentierten Zahlen und Entwicklungen immer in den jeweiligen Kontext gestellt werden. So wird sich der eine oder andere mit Blick auf den markanten Einbruch der Spender-Zahlen im Zeitraum 2011 bis 2013 daran erinnern, dass man damals mit einer intensiven Berichterstattung über Skandale in deutschen Transplantationszentren konfrontiert war. <a href="http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/organspende-schwere-verstoesse-in-vier-transplantationszentren-12560086.html" target="_blank">Schwere Verstöße in vier Transplantationszentren</a>, so war einer der vielen Artikel überschrieben. Es war der größte Organspende-Skandal in der Geschichte der Bundesrepublik: In Göttingen, Regensburg, München und Leipzig sollen Mediziner Krankenakten gefälscht haben, um ausgewählte Patienten bevorzugt mit Spenderorganen zu versorgen (vgl. dazu auch die umfangreiche <a href="http://www.sueddeutsche.de/thema/Organspende-Skandal" target="_blank">Artikelsammlung Organspende-Skandal</a> der Süddeutschen Zeitung).<br />
<br />
Aber das war und ist es nicht allein. Die Angelegenheit ist weitaus komplexer, wie auch solche Befunde andeuten, die scheinbar im Widerspruch stehen zu der sinkenden Zahl an Organspendern: »Die positive Einstellung zum Thema Organ- und Gewebespende ist in Deutschland derzeit mit 84 Prozent so hoch wie nie zuvor. Auch besitzen immer mehr Menschen einen Organspendeausweis: Waren es 2012 noch 22 Prozent, sind es im Jahr 2018 bereits 36 Prozent«, <a href="https://www.bzga.de/presse/pressemitteilungen/?nummer=1217" target="_blank">berichtet</a> die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).<br />
<br />
Die BZgA hat eine Kampagne unter der Überschrift "Organspende - die Entscheidung zählt" durchgeführt und dabei eine Umfrage („<a href="https://www.bzga.de/pdf.php?id=270fe3d98ffbe92636379445ca74a95e" target="_blank">Einstellung, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organ- und Gewebespende 2018</a>“) durchgeführt:<br />
<br />
»Von den Personen, die eine Entscheidung getroffen haben, stimmen die meisten (72 Prozent) einer Organ- und Gewebespende nach dem Tod zu, 14 Prozent widersprechen ihr, 9 Prozent übertragen die Entscheidung auf eine andere Person und 5 Prozent machen eine andere Angabe ... Wichtigster Grund für die Ablehnung ist für 24 Prozent der Befragten, dass sie glauben, als Spender nicht geeignet zu sein. 22 Prozent äußern Angst vor Missbrauch beziehungsweise haben mangelndes Vertrauen aufgrund negativer Berichterstattung. Die Personen, die noch keine Entscheidung getroffen haben, begründen dies zu 43 Prozent damit, sich bisher zu wenig mit dem Thema beschäftigt zu haben.«<br />
<br />
Aber: Die Zahlen aus der Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) basieren auf der Befragung von 4.001 Menschen im Alter zwischen 14 und 75 Jahren. Sie gibt allerdings nicht an, wieviele diesen Ausweis mit Ja oder Nein ausgefüllt haben.<br />
<br />
Man kann die aktuelle Lage auch so kompakt zusammenfassen: »Die Fakten zum Tag der Organspende sprechen Bände: Die Haltung zur Organspende wendet sich zum Positiven, doch die Zahl der Spender ist auf einem historischen Tiefstand.« Das schreibt Christian Beneker in seinem Artikel mit der prägnanten Überschrift <a href="https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/organspende/article/965043/organspende-dilemma-zwischen-ja-denken-ja-sagen.html" target="_blank">Das Dilemma zwischen Ja denken und Ja sagen</a>. Er setzt sich mit der Differenz zwischen einer angeblich wachsenden Zustimmung in der Bevölkerung für Organspenden und der tatsächlichen Spender-Entwicklung auseinander:<br />
<br />
»Was passiert eigentlich zwischen der anfänglichen Zustimmung zur Organentnahme und der späteren Nicht-Spende im Fall des Falles? Wenn alle diese positiv Gestimmten ihren Worten Taten folgen ließen, wäre das Problem des Organmangels in Deutschland vielleicht gelöst.<br />
Zwischen den beiden Situationen steht natürlich der Ernstfall. Vielleicht sind die Situationen eben nicht zu vergleichen. Der Moment, in dem man bei guter Gesundheit nach seiner Haltung zur Organspende gefragt wird, und jener, in dem es zum Beispiel nach einem schweren Unfall zum Schwur kommt: Spenden oder nicht?<br />
Es sieht so aus, als ob man sich selbst nicht wirklich vorbereiten kann auf die schwierige Situation, selber eines oder mehrere seiner Organe zu spenden oder darüber zu entscheiden, ob ein hirntoter Angehöriger seine Nieren und/oder weitere Organe hergeben soll.«<br />
<br />
Wenn man dieser Beschreibung folgt, dann muss man zugleich auch den aktuell seitens der Politik diskutierten "Lösungsvorschlag" zumindest relativieren. Hintergrund dieser Diskussion ist das Spannungsfeld der unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Organspendebereitschaft: Zum einen das <b>"Opt-in"-Modell</b>, bei dem man der Bereitschaft, als Organspender zur Verfügung zu stehen, ausdrücklich und aktiv zustimmen muss. Für die Zustimmungslösung steht das deutsche System. Am anderen Ende befindet sich das <b>"Opt-out"-Modell</b>, bei dem man erst einmal grundsätzlich von Staats wegen als Organspender gilt, es sei denn, man widerspricht dem aktiv. Man nennt das auch Widerspruchslösung. Dafür steht beispielsweise, aber nicht nur Österreich. So ist es auch in Italien, Norwegen, Schweden, Luxemburg und Frankreich geregelt.<br />
Das jüngste Land in der Reihe ist die Niederlande. Hier wurde eine solche Regelung im Februar von der ersten Kammer des Parlaments angenommen - wenn auch nach langer Debatte und nur mit knapper Mehrheit. Jetzt wird jeder volljährige Bürger automatisch als Organspender registriert. Wer das ablehnt, muss sich melden.<br />
<br />
Die Diskussion in Deutschland, wie man die Organspende-Bereitschaft steigern kann, wird seit vielen Jahren geführt - und es hat bereits eine leichte Verschiebung der Entscheidungsarchitektur weg von der reinen Zustimmungslösung gegeben: Früher musste man sich selbst aktiv darum kümmern, Organspender zu werden. Das vor einigen Jahren reformierte <a href="https://www.gesetze-im-internet.de/tpg/" target="_blank">Transplantationsgesetz</a> schreibt vor, dass Krankenkassen und Krankenversicherungsunternehmen ihre Versicherten ab dem vollendeten 16. Lebensjahr alle zwei Jahre über die Möglichkeiten einer Organ- und Gewebespende informieren. Versicherte sollen hiermit unterstützt werden, eine informierte Entscheidung zur Organ- und Gewebespende zu treffen und sie im Organspendeausweis und/oder einer Patientenverfügung zu dokumentieren. Man kann das aber auch so <a href="https://www.nrz.de/gesundheit/zahl-der-organspender-in-deutschland-weiter-gesunken-id214458475.html" target="_blank">beschreiben</a>: »Seit November 2012 gilt die sogenannte Entscheidungslösung. Die Krankenkassen müssen ihre Mitglieder regelmäßig anschreiben und informieren - das ist alles. Eine Aktion, die nach Schätzung des Spitzenverbands der gesetzlichen Kassen alle zwei Jahre grob geschätzt rund 60 Millionen Euro kostet. Bisher landen Broschüren bei vielen Menschen vermutlich ungelesen im Altpapier.«<br />
<br />
Und auch in diesen Tagen wird die scheinbare Lösung durch die Einführung einer Widerspruchslösung seitens der Politik präsentiert. Und diese Forderung bekommt Unterstützung aus den Reihen der Ärztefunktionäre. Der Deutsche Ärztetag in Erfurt hat sich Anfang Mai klar für die Widerspruchslösung ausgesprochen. "Aus medizinischer Sicht, vor allem aber aus Sicht der vielen schwerkranken Patienten auf der Warteliste wäre eine solche Regelung der Idealfall", wird Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, <a href="https://www.nrz.de/gesundheit/zahl-der-organspender-in-deutschland-weiter-gesunken-id214458475.html" target="_blank">zitiert</a>.<br />
<br />
Aber nicht überraschend bei einem solchen Thema - die Landschaft ist vielgestaltig und <a href="https://www.nrz.de/gesundheit/zahl-der-organspender-in-deutschland-weiter-gesunken-id214458475.html" target="_blank">es gibt auch andere Stimmen</a>: »Kritisch steht einer Widerspruchregelung Rudolf Henke gegenüber, der Vorsitzende der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund. Das Transplantationswesen lebe vom Vertrauen der Menschen - und Henke glaubt nicht, dass das Vertrauen durch eine Widerspruchslösung gestärkt wird: "Es ist eher das Gegenteil zu befürchten." Es habe wenig Sinn, "eine große Kontroverse anzuzetteln": "Man muss mit den Leuten reden, sie überzeugen und die Organisation der Organtransplantation in den Kliniken verbessern."«<br />
<br />
Der letzte Hinweis in den Ausführungen von Henke soll hier besonders hervorgehoben werden - er legt den Finger auf eine Wunde, deren Nichtberücksichtigung dazu führen könnte, dass man sehr enttäuscht sein würde über die geringen Effekte eines Übergangs zur Widerspruchslösung auf die tatsächlichen Organspenden. Denn zwischen grundsätzlicher Spendebereitschaft und Entnahme eines oder mehrerer Organe ist es ein weiter Weg und auch eine mögliche Organspende muss praktisch organisiert werden. Und das - darüber sollte man sich Klarheit verschaffen - ist im durchorganisierten und auf Effizienz getrimmten Klinikalltag von heute eine echte "Behinderung".<br />
<br />
Dazu Matthias Kaufmann, seit 2013 Geschäftsführender Arzt der Region Nord der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), in seinem Beitrag <a href="https://www.weser-kurier.de/deutschland-welt/deutschland-welt-politik_artikel,-organspende-hat-viele-gesichter-_arid,1735737.html" target="_blank">Organspende hat viele Gesichter</a>: »... die zunehmende Arbeitsverdichtung und -belastung auf den Intensivstationen sind zusätzliche Hürden für die Organspende. Weiterhin decken die Pauschalen, die die Kliniken für Organspenden erhalten, nicht immer den Aufwand. Bei Spendern, die älter sind oder Vorerkrankungen hatten, werden die Untersuchungen, die zum Schutz der Empfänger notwendig sind, aufwendiger. Dadurch dauert der gesamte Prozess länger.«<br />
<br />
Und auch Christian Beneker hat in seinem Artikel <a href="https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/organspende/article/965043/organspende-dilemma-zwischen-ja-denken-ja-sagen.html" target="_blank">Das Dilemma zwischen Ja denken und Ja sagen</a> auf praktische Hindernisse hingewiesen, die es zu bedenken gilt: Von besonderer Bedeutung für eine tatsächliche Organentnahme »dürfte der gelingende Arzt-Patienten-Kontakt sein«. "Das unterschätzte Problem ist das der Spendererkennung im Krankenhaus." Mit diesen Worten zitiert er Gerald Neitzke, Vorsitzender des klinischen Ethikkomitees der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Eine Verbesserung an dieser Stelle ist mit professioneller Kommunikation zwischen Arzt und Angehörigen theoretisch möglich, aber zugleich auch mit erheblichen Aufwand "außer der Reihe" verbunden. Dass das in vielen Kliniken gescheut wird, ist nicht wirklich überraschend.<br />
<br />
Und ein weiteres Dilemma wird von Beneker offen angesprochen: »Ein Umdenken im Hinblick auf die Organspende ist auch in der Palliativmedizin notwendig. Ausgerechnet der Palliativgedanke verhindert, dass Organspender gewonnen werden könnten. Intensivmediziner und Palliativmediziner beenden lebenserhaltende Maßnahmen, wenn sie dem Patienten nicht mehr dienen. Ein Segen für die Sterbenden. Aber mit der Absicht, die Patienten keiner Übertherapie auszusetzen, gerät zugleich eine mögliche Organspende aus dem Blick.«<br />
<br />
Diese Hinweise sind wichtig, auch um die erheblichen Differenzen bei der relativen Zahl der Organspender bezogen auf die Einwohnerzahl besser einordnen zu können. Auch in der aktuellen Berichterstattung wird die Argumentation oftmals verengt auf die Frage nach dem Prozedere der (Nicht-)Zustimmung. Aber das reicht nicht, wie man diesem Artikel entnehmen kann, der bereits 2016 publiziert wurde: <a href="https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/organspenden-in-spanien-ein-herz-fuer-den-naechsten/12842284.html" target="_blank">Ein Herz für den Nächsten</a>. Ausgangspunkt war der Vergleich der Spender-Zahlen in Deutschland mit denen des europäischen Spitzenreiters: »Auf eine Million Einwohner kommen hierzulande nur 10,8 Spender ... der Organspende-Primus Spanien bringt es auf eine Quote von 39,7. Das ist europäischer Rekord.« Was erklärt diese erhebliche Diskrepanz?<br />
»Fragt man Experten, wird sofort auf die unterschiedlichen Systeme verwiesen. In Spanien dürfen jedem Hirntoten Organe entnommen werden, wenn er oder seine Angehörigen dem zuvor nicht ausdrücklich widersprochen haben. In Deutschland ist es andersherum: Hier darf gar nichts entnommen werden, wenn es vorher keine Einwilligung gab.«<br />
<br />
Aber das ist nur scheinbar ein ausreichender Erklärungsansatz, den die Politiker auch jetzt wieder gerne aufgreifen. Denn:<br />
So einfach ist es dann doch nicht, der Artikel verweist darauf, dass ein Bündel von Faktoren für die Unterschiede zwischen den beiden Ländern verantwortlich ist: »In Spanien seien etwa die Klinikstrukturen anders. So gebe es dort nur 186 Entnahmekliniken, in Deutschland seien es 1326. Durch die Konzentration würden Patienten, die sich als Organspender eignen, eher identifiziert. „Wenn in den meisten unserer Kliniken gerade einmal alle fünf oder sechs Jahre eine Organentnahme stattfindet, fehlt es einfach an Erfahrung“, sagt Rahmel.<br />
<br />
Auch bei den Transplantationsbeauftragten der Krankenhäuser gibt es Unterschiede. In Spanien sind es umfassend ausgebildete Intensivmediziner, die dafür eigens freigestellt werden. In Deutschland wird diese Aufgabe oft nur quasi nebenbei erledigt. Und: In Spanien sind die Transplantationsbeauftragten der Organspendeorganisation direkt unterstellt ... Einer Studie zufolge wird in Deutschland bei Todgeweihten die Therapie früher als etwa in Spanien auf reine Palliativbetreuung, also Schmerzlinderung, umgestellt ... In Spanien führe man die Intensivtherapie öfter bis zum Nachweis des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls fort – eine Voraussetzung für jede Organspende ... Spanische Kliniken seien stolz darauf, viele Organspender vorweisen zu können. „Bei uns gibt es da eher eine Hemmschwelle.“ Viele Klinikmitarbeiter täten sich schwer damit, Angehörige auf die Möglichkeit einer Organspende anzusprechen.«<br />
<br />
Das alles mag erkennen lassen - man wird sich nicht zu viel erhoffen dürfen, was das eingangs beschriebene grundlegende Angebots-Nachfrage-Dilemma angeht, wenn man nur auf eine Umstellung des Verfahrens hinsichtlich der Deklaration der Organspendebereitschaft setzt.<br />
<br />
Für den Ökonomen an dieser Stelle nicht überraschend - gerade weil wir es hier verständlicherweise nicht mit einem Markt zu tun haben, bei dem der Zugang zu lebenserhaltenden Organen über den Mechanismus der Zahlungsbereitschaft und -fähigkeit gesteuert werden kann, bildet sich ein "Schwarzmarkt" heraus, über den man sich bewusst werden sollte. Auch wenn man das ausblenden möchte - <b>illegaler Organhandel</b> tritt in vielfältigen Erscheinungsformen zu Tage.<br />
<br />
Denn gerade weil es sich hier um ein Gut handelt, das von existenzieller Bedeutung ist, steht zu erwarten, dass Menschen, die über ein großes Vermögen verfügen, alles dafür tun würden, um ein Organ zu bekommen. Naturgemäß bewegen wir uns in einem Feld, das empirisch kaum bis gar nicht ausgeleuchtet ist. Aber es gibt zahlreiche Hinweise auf den illegalen Organhandel. Hier für die Interessierten nur zwei weiterführende Quellen:<br />
<br />
Beim Thema Organhandel geht es um ein äußerst schwieriges Feld, denn naturgemäß ist die Beweisführung, dass es einen organisierten Organhandel gibt, sehr problematisch, handelt es sich doch um einen "sehr schwarzen Schwarzmarkt". Aber es gibt seit Jahren immer wieder Hinweise auf existierenden Organhandel - davon sind ganz unterschiedliche Regionen und Menschen betroffen, folgt man den seit Jahren immer wieder auftauchenden Berichten: Von den Straßenkindern in Brasilien über die Entnahme von Organen der vielen Hingerichteten in China bis hin zu den allerdings mittlerweile vergleichsweise gut dokumentierten Vorkommnissen auf der Sinai-Halbinsel, wo afrikanischen Flüchtlingen angeblich Organe entnommen worden sind. Zahlreiche Materialien hierzu - eingebettet in das Oberthema Bekämpfung der modernen Sklaverei - findet man auf der eigenen Website zu diesem Thema von CNN.<br />
Auf der CNN-Seite gibt es unter dem Stichwort <a href="http://thecnnfreedomproject.blogs.cnn.com/category/death-in-the-desert/" target="_blank">Stand in the Sinai </a>eine Zusammenstellung von Materialien ausgehend von der Dokumentation "Death in the desert" aus dem Jahr 2011: »In 2011 “Death in the Desert” uncovered evidence that traffickers tortured the refugees, and in some cases harvested their organs for sale on the black market, leaving many of their victims to die.« Man kann sich die CNN-Doku <a href="https://www.youtube.com/watch?v=Uc1z2hswH9E" target="_blank">Death in den Desert</a> auf YouTube anschauen. Aber das ist wahrlich nichts für zarte Gemüter.<br />
<br />
Aber auch aus den Randzonen Europas wird von und über illegalen Organhandel berichtet. Beeindruckend war beispielsweise eine längere Dokumentation im Deutschlandfunk zu diesem Thema am Beispiel von Moldawien, die im Oktober des Jahres 2012 ausgestrahlt worden ist. Die PDF-Datei mit dem Manuskript zu dieser Sendung kann hier abgerufen werden: <a href="http://www.deutschlandfunk.de/das-feature-30-10-12-made-in-moldova-vom-nierenhandel-in.media.b2c9136cbb2c9d0caa70656a8b7090f1.pdf" target="_blank">Made in Moldavia. Vom Nierenhandel in Europa</a> (30.10.2012): »Sergej sitzt in einem Apartment in der moldawischen Hautstadt Chişinău. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. Der 35-Jährige schwitzt: In wenigen Wochen wird er in Italien eine seiner Nieren verkaufen. Der Deal steht, und Sergej macht bereits eine Diät, um seinen Körper auf die Operation vorzubereiten. Etwa 15.000 Euro soll er bekommen. Das Geld braucht er für eine lebensnotwendige Herzoperation seines Vaters. Er hat Angst. Davor, dass man ihn aus der Betäubung nicht mehr aufwachen lässt. Er wünscht sich eine legale Vermittlung, über die er die Transaktion abwickeln könnte. Aber die gibt es nicht. Der illegale Nierenhandel blüht in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldawien: Die Ökonomie liegt am Boden, Korruption und Günstlingswirtschaft durchdringen Politik, Justiz, Polizei. Hier hat alles seinen Preis. Alles wird zur Ware.«Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-67969627084648446552018-06-01T21:27:00.002+02:002018-06-02T12:29:45.411+02:00Das Kreuz mit den Sanktionen im Hartz IV-System und die (nicht nur verfassungsrechtlich) eigentlich offene, in der Praxis allerdings gegebene Antwort auf die Frage: Wie weit darf man gehen?Viele, <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/search/label/Sanktionen" target="_blank">sehr viele Beiträge</a> haben sich in diesem Blog angesammelt zum Thema Sanktionen im Hartz IV-System. Es ist ein in mehrfacher Hinsicht polarisierendes Thema. Für die einen sind die Sanktionen das scharfe Schwert eines strafenden Systems, dem es um Einschüchterung und Drangsalierung geht, um die Betroffenen auf das "richtige" Gleis zu setzen. Zugleich kann man mit dem Damoklesschwert-Charakter der Sanktionen die vielen anderen dazu bringen, sich systemkonform zu verhalten. Auf der anderen Seite wird der bedürftigkeitsabhängige Sozialhilfe-Charakter der Grundsicherung herausgestellt und auf die unbedingten Mitwirkungspflichten der Hilfeempfänger abgestellt. Wenn man das Instrumentarium der Sanktionen nicht mehr zur Verfügung hätte, dann könnten einem die Transferleistungsbezieher auf der Nase herumtanzen.<br />
<br />
Wir können schon an dieser holzschnittartigen Zusammenfassung erkennen, dass es hier zum einen um ganz unterschiedliche Menschenbilder geht (die sich auch in der letztendlich nie auflösbaren und höchst widersprüchlichen Dichotomie von Fördern und Fordern spiegeln), zum anderen geht es hier aber eben auch um den systemischen Aspekt, dass es sich bei Hartz IV um eine Art "nicht-bedingungsloses Grundeinkommen" (vor allem für diejenigen, die lange Zeit in diesem System verbringen müssen) handelt, in dem man die Einhaltung der Bedingungen im Griff behalten muss.<br />
<a name='more'></a><br />
Der eigentliche Kern der Sanktionsfrage ist aber ein logisches Dilemma, mit dem sich irgendwann trotz aller offensichtlichen Widerwilligkeit und Zeitschinderei auch das Bundesverfassungsgericht entscheidungsrelevant auseinandersetzen muss, denn seit langem liegt ein Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Gotha in Karlsruhe, nach dem die Verfassungswidrigkeit der Sanktionen behauptet und dem höchsten deutschen Gericht zur Entscheidung vorgelegt worden ist (vgl. dazu zuletzt den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2018/02/das-bundesverfassungsgericht-und-die-weiter-offene-hartz4-sanktionsfrage.html" target="_blank">"Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran". Das würden sich manche wünschen vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der umstrittenen Sanktionen im Hartz IV-System</a> vom 28. Februar 2018).<br />
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Das angesprochene logische Dilemma lässt sich so formulieren: Wie kann man eine Leistung, die das soziokulturelle Existenzminimum sicherstellen soll und die das Bundesverfassungsgericht selbst noch <a href="http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2010/02/ls20100209_1bvl000109.html" target="_blank">im Jahr 2010</a> als "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" charakterisiert hat und das "dem Grunde nach unverfügbar" sei und "eingelöst werden" muss, kürzen? Wie kann man sogar Menschen dieses Grundrecht vollständig entziehen, also zu 100 Prozent sanktionieren? Nun wird der eine oder andere völlig zu Recht erstaunt einwerfen, wie das sein kann in einem "Hilfesystem" - man kann das auch anders formulieren: Selbst einem Mörder wird auch bei totaler Verweigerung der normalen Regeln im Strafvollzug doch nicht das Essen und die Zelle gekürzt. Aber bei Hartz IV-Empfängern geht das?<br />
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Ja, das geht bislang offensichtlich: »Im vergangenen Jahr wurde 34.000 Personen der Bezug von Hartz IV vollständig gestrichen, weil sie gegen Auflagen der Behörden verstießen.« So der Artikel <a href="https://rp-online.de/politik/sanktionen-gegen-eine-halbe-million-hartz-iv-empfaenger_aid-23147889" target="_blank">Sanktionen gegen eine halbe Million Hartz-IV-Empfänger</a>. Grundlage der Berichterstattung ist die <a href="https://jugendsozialarbeit.news/wp-content/uploads/2018/06/Sanktionspraxis-im-SGB-II_-Antwort-der-Bundesregierung-auf-die-Kleine-Anfrage-der-Gr%C3%BCnen-19-02104.pdf" target="_blank">Antwort</a> der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion (Sanktionspraxis im SGB II, BT-Drs. <a href="http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/021/1902104.pdf" target="_blank">19/2104</a> vom 14.05.2018). Auf diesen erschreckenden Tatbestand wurde bereits 2016 in diesem Beitrag hingewiesen: <a href="http://www.o-ton-arbeitsmarkt.de/o-ton-news/hartz-iv-mehrfachsanktionen-auf-dem-vormarsch" target="_blank">Hartz IV: Mehrfachsanktionen auf dem Vormarsch</a>: »Hartz-IV-Empfänger erhalten immer häufiger mehrere Strafen gleichzeitig. Im Juni war jeder dritte Sanktionierte betroffen. 7.200 Menschen wurde die Hartz-IV-Leistung vollständig gestrichen.« Und noch weiter zurück, in den Februar 2013: <a href="http://www.o-ton-arbeitsmarkt.de/o-ton-news/monatlich-10-403-vollsanktionierte-hartz-iv-empfanger-in-2011" target="_blank">Monatlich 10.403 vollsanktionierte „Hartz IV“-Empfänger in 2011</a>. Es möge also keiner sagen, dass das alles eine ganz neue Erkenntnis ist.<br />
<br />
Nach Angaben der BA wurden im Jahr 2017 insgesamt rund 953.000 Sanktionen ausgesprochen. Dabei werden Personen, die mehrfach sanktioniert wurden, auch mehrfach gezählt.<br />
Gegen insgesamt 204.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte wurden zwei und mehr Sanktionen ausgesprochen, 217.000 weitere Bezieher von Hartz IV bekamen eine Sanktion auferlegt - zusammen also knapp eine halbe Million.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgva5D-TMsc86h9Jhk8VYqhk17_NZNEWNlL8Cq0h1g4oukinK8zxruod7EMxJ6aV9UfhebhxdAoAHi6kTjpzyYZc3mbZ2DnOZUz03oAKCMfqqV-87xm3xjf3X9kWXSa9ubTwxRUA9SrAKIq/s1600/Sanktionen.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="829" data-original-width="567" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgva5D-TMsc86h9Jhk8VYqhk17_NZNEWNlL8Cq0h1g4oukinK8zxruod7EMxJ6aV9UfhebhxdAoAHi6kTjpzyYZc3mbZ2DnOZUz03oAKCMfqqV-87xm3xjf3X9kWXSa9ubTwxRUA9SrAKIq/s640/Sanktionen.jpg" width="437" /></a></div>
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Und während viele Menschen bei Sanktionen an Hartz IV-Empfänger denken, die eine angebotene Arbeit verweigern und damit die Möglichkeit, den Leistungsbezug zu beenden, spielt das in der Sanktionspraxis kaum eine Rolle. Im Vordergrund stehen mit 78 Prozent die Meldeversäumnisse, aufgrund dessen die Jobcenter zu dieser drakonischen Bestrafung greifen (dazu auch: <a href="http://www.o-ton-arbeitsmarkt.de/o-ton-news/hartz-iv-system-vier-von-fuenf-sanktionen-wegen-versaeumter-termine" target="_blank">Hartz-IV-System: Vier von fünf Sanktionen wegen versäumter Termine</a>).<br />
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Das zeigen auch die Daten, die von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage der Grünen vorgetragen werden: Bei 204.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten wurden zwei und mehr Sanktionen aus gesprochen, darunter 124.000 ausschließlich wegen Meldeversäumnissen. Im -Jahr 2017 wurden infolge einer neu ausgesprochenen Sanktion insgesamt 34.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Leistungen komplett gekürzt, darunter 6.000 ausschließlich wegen Meldeversäumnissen.<br />
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Man muss sich das einmal vorstellen - mehrere tausend Menschen, denen vollständig die Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums entzogen worden sind, ausschließlich wegen Meldeversäumnisse. Es geht hier nicht darum, ein solches Verhalten in irgendeiner Form gutzuheißen. Es geht auch nicht darum, dass man aus der Praxis ganz unterschiedliche Fallkonstellationen bei Meldeversäumnissen kennt, unter denen es Menschen gibt, die einen Termin versäumt haben, weil sie Analphabeten sind, weil sie so überschuldet sind, dass sie ihren Briefkasten nicht mehr öffnen aus Angst vor den Mahnungen und viele andere das Ereignis durchaus erklärbar machende Ursachen könnten angeführt werden - es geht um den Tatbestand, dass eine im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle und die Existenz in Frage stellende Verwaltungspraxis derzeit ganz offensichtlich als Antwort auf die Frage "Wie weit darf man gehen?" zur Kenntnis genommen werden muss. Man geht weit über die Grenzen des eigentlich Zulässigen hinaus.<br />
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Selbst wenn man Befürworter des Instruments einer zeitlich wie auch immer begrenzten und vom Absenkungsbetrag gedeckelten Sanktionierung sein sollte, muss man allein schon die Möglichkeit einer hundertprozentigen Sanktionierung für das halten, was es ist: eine massive Verletzung der Menschenrechte, die noch nicht einmal, wie angesprochen, der übelste Geselle in einer Strafvollzugsanstalt zu befürchten hat. Apropos Strafvollzug: Im Strafrecht werden die jungen Menschen anders, nach dem Jugendstrafrecht und damit milder behandelt als die Erwachsenen. Im Hartz IV-System ist es genau anders herum. Dort sind die Sanktionsregelungen für die unter 25-Jährigen erheblich schärfer als für die Älteren.<br />
<br />
Und wenn man sich dann noch anschaut, mit welcher Varianz wir zwischen den einzelnen Jobcentern konfrontiert sind hinsichtlich der Sanktionierungsintensität, so dass man von "milden" und "scharfen" Jobcentern sprechen muss, denen die Betroffenen quo Wohnort ausgeliefert sind, dann wird der bene nicht objektive, sondern der Willkür-Charakter nicht weniger Sanktionsentscheidungen offenbar.<br />
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Man kann nur hoffen, dass wenigstens das Bundesverfassungsgericht dieser menschenverachtenden Praxis ein rechtsprechungsbedingtes Ende setzt. Aber sicher kann man sich angesichts der heutigen und im Vergleich zu vor einigen Jahren wesentlich defensiveren Rechtsprechung des BVerfG an dieser Stelle nicht sein und man sollte es auch nicht sein.<br />
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Nachtrag (02.06.2018): Am Montag, dem 04.06.2018, findet im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zu Sanktionen im SGB II statt. Gegenstand der Anhörung sind zwei Anträge aus den Reihen der Opposition: BT-Drs. <a href="http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/001/1900103.pdf" target="_blank">19/103</a> - Antrag der Fraktion DIE LINKE sowie BT-Drs. <a href="http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/017/1901711.pdf" target="_blank">19/1711</a> - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Stellungnahmen zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 04. Juni 2018 kann man als <a href="http://www.bundestag.de/blob/554634/956d78d1ab2fdaf0efcc908b532c2a4e/materialzusammenstellung_8-sitzung-data.pdf" target="_blank">Ausschussdrucksache 19(11)42</a> abrufen.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-69372536252489955252018-05-30T23:52:00.000+02:002018-06-09T11:10:54.598+02:00Erntehelfer auf der Flucht? Wieder einmal die Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft, die Angst vor dem Tod des deutschen Spargels und die Hoffnung auf eine neue "Osterweiterung"<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi7FO-1zZ7l4M97-3nQOAUT4Kp7FHaCQ4e4hY66vYn7nRrugny9W5RG3j1eYZNzN6kJhCoa1D2ILSAmyVs1_G4uiLi800t2xjF2SDG6ukjD7-rR8hYSdMBtcDIBT30WyD1D3S8mZYp7nW7Y/s1600/Saisonbescha%25CC%2588ftigte+Landwirtschaft.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="494" data-original-width="510" height="310" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi7FO-1zZ7l4M97-3nQOAUT4Kp7FHaCQ4e4hY66vYn7nRrugny9W5RG3j1eYZNzN6kJhCoa1D2ILSAmyVs1_G4uiLi800t2xjF2SDG6ukjD7-rR8hYSdMBtcDIBT30WyD1D3S8mZYp7nW7Y/s320/Saisonbescha%25CC%2588ftigte+Landwirtschaft.jpg" width="320" /></a></div>
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»Der Spargel hat Hochsaison, bei dem Wetter schießt das Gemüse und die Preise sind auf dem Tiefstand. Dabei ist die Ernte knüppelharte Handarbeit, Stange um Stange muss gestochen werden. Diese Arbeit erledigen in den deutschen Anbaugebieten vor allem Erntehelfer aus Polen und Rumänien. Traditionell kommen sie zur Saison und ernten Spargel und Erdbeeren im Frühsommer und Weintrauben und Äpfel im Herbst.« So beginnt der Artikel <a href="https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/helfer-machen-sich-vom-acker-landwirte-suchen-saisonkraefte/22607488.html" target="_blank">Helfer machen sich vom Acker: Landwirte suchen Saisonkräfte</a> von Alexandra Duong.<br />
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In diesem Artikel geht es um die zunehmenden Klagen über fehlende Erntehelfer. Als Beispiel werden Spargelbauern im Raum Beelitz zitiert:<br />
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»„Wir hatten 350 Zusagen, aber nur 265 sind gekommen“, sagt Jürgen Jakobs. Gut 30 Erntehelfer hätten sie im Nachhinein noch anwerben können. Jakobs ist Vorsitzender des Beelitzer Spargelvereins; er selbst baut das Saisongemüse auf 250 Hektar an. Einige Hektar lässt er jetzt liegen, „da wächst der Spargel durch“, sagt er. Zurzeit komme ihm das entgegen, es gebe zu viel Spargel am Markt, aber für die Zukunft macht er sich Sorgen um die Verfügbarkeit von Erntehelfern.«<br />
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Das wird auch in einem anderen Beitrag aufgegriffen: »In Brandenburg bauen knapp 100 Betriebe Spargel auf mehr als 4.000 Hektar an. Das sind 17 Prozent der gesamten Spargelanbaufläche Deutschlands. Doch in diesem Jahr müssen fast alle Produzenten einen Teil der Ernte auf den Feldern lassen: Die osteuropäische Erntehelfer arbeiten lieber auf dem Bau«, so Vanja Bude unter der Überschrift <a href="http://www.deutschlandfunk.de/erntehelfer-in-brandenburg-bau-statt-spargelernte.769.de.html?dram:article_id=418022" target="_blank">Erntehelfer in Brandenburg: Bau statt Spargelernte</a>. »Auf den Spargelfeldern in Beelitz arbeiten seit einigen Jahren immer weniger Polen, denn sie finden auch zu Hause oder in anderen EU-Ländern lukrativere Arbeit. Die Lücken wurden mit Personal aus Rumänien gefüllt, doch auch diese Hilfskräfte finden mittlerweile anderswo bessere Bedingungen.«<br />
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In den Worten des brandenburgischen Spargelbauers Jürgen Jakobs:<br />
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"Die Baubranche saugt halt sehr viel Personal auf, auch die Paketzusteller. Die Leute kriegen dort halt vielleicht auch noch mal zwei, drei Euro die Stunde mehr, und die Arbeit auf unseren Feldern ist ja ohnehin ganz schön beschwerlich. Insofern ziehen wir als Landwirtschaft den Kürzeren."<br />
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Und natürlich wird auch auf den Konkurrenzdruck hingewiesen: Spargelbauer Jakobs zahlt den vorgeschriebenen Mindestlohn von 8,84 Euro. Höher kann er nicht gehen, versichert der Spargelbauer. Zumal in Brandenburg polnische Produzenten zusätzliche Konkurrenz bedeuten:<br />
"Dort ist der Mindestlohn vielleicht 2,70 Euro oder drei Euro ... Und die Polen dürfen zum Beispiel auch Ukrainer beschäftigen, die haben diese Drittstaatenregelung, die tritt bei uns nicht ein, weil wir nur EU-Bürger beschäftigen dürfen. Da gibt es bisher keine Ausnahmen. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, in Zukunft neue Saisonarbeitskräfte zu sichern."<br />
<br />
Die Erntehelfer erhalten in der Regel den Mindestlohn von 8,84 Euro pro Stunde. Dazu kommen Prämien; arbeiten sie im Akkord und werden pro Kilo bezahlt, kann der Stundenlohn höher ausfallen. Haben sie Verträge über eine kurzfristige Beschäftigung – nicht länger als drei Monate oder 70 Tage – müssen die Bauern keine Sozialversicherungsbeiträge für ihre Helfer zahlen, so Alexandra Duong in ihrem Artikel. Aber man muss an dieser Stelle einwerfen: Auch wenn der Mindestlohn formal gezahlt wird, lassen viele Berichte aus der wirklichen Wirklichkeit darauf schließen, dass auch weiterhin Lohndumping dergestalt praktiziert wird, dass den Saisonarbeitnehmern gleich wieder Beträge für Kost und Logis abgezogen werden und das für eine teilweise hanebüchene Unterbringung. Die Verrechnung des Mindestlohns mit Sachleistungen ist hier das Einfallstor für die Arbeitgeber, die ihre Lohnkosten (wieder) drücken wollen.<br />
<br />
Wir haben es mit einem doppelten Angebots-Nachfrage-Problem zu tun:<br />
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(1) Zum einen sinkt das Angebot an Erntehelfern nicht nur aufgrund der Tatsache, dass die Saisonarbeitskräfte aus den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten in anderen Branchen und auch in anderen Ländern als Deutschland bessere Konditionen finden, sondern auch der Anstieg des Wohlstandsniveaus vor allem in Polen lässt es weniger attraktiv erscheinen, sich für die harte und relativ schlecht vergütete Arbeit in der deutschen Saison-Landwirtschaft zu verdingen.<br />
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Dazu aus dem <a href="https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/helfer-machen-sich-vom-acker-landwirte-suchen-saisonkraefte/22607488.html" target="_blank">Artikel</a> von Alexandra Duong: »Etliche Betriebe wenden sich an Agenturen, die gegen Gebühr Arbeitskräfte aus Osteuropa anheuern. Aber das sei eine schwierige Angelegenheit geworden, sagt der Chef einer Vermittlungsagentur für polnische Arbeitskräfte ... „Dieses Jahr ist eine reine Katastrophe“, sagt er. Früher seien auch gut qualifizierte Menschen als Erntehelfer gekommen, die das hierzulande verdiente Geld in Polen investiert hätten. Mittlerweile sei das Lohnniveau in Polen gestiegen, und selbst dort fehlten inzwischen saisonale Arbeitskräfte. „Es gibt dort viele Möglichkeiten, lukrativere Jobs zu finden“, sagt er.«<br />
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Und die Alternative Rumänien? „Wir werden für mehr Mitarbeiter angefragt, als wir vermitteln können“, sagt einer, der die deutsche Kundschaft einer Agentur betreut, die rumänische Arbeitskräfte vermittelt. In Rumänien sei die Situation anders, die wirtschaftliche Entwicklung bei weitem nicht so positiv wie in Polen. Der Rückgang an polnischen Erntehelfern lasse sich mit rumänischen Kräften jedoch nicht ausgleichen.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhTLVL6tgidou7f82zEqoAGK0OdfwlfqKYgYv-6cy7n9A6iv2yYbRQdF9pwAitEqWy8JcI5u7Z8wndHWAfKJnCE2PJ_VL8-88jq-8RzHDVC1m3rLZy6o_urzJfdjzCSwTG-7kbAw6NQq9D6/s1600/Demografische+Entwicklung+Europa.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="717" data-original-width="553" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhTLVL6tgidou7f82zEqoAGK0OdfwlfqKYgYv-6cy7n9A6iv2yYbRQdF9pwAitEqWy8JcI5u7Z8wndHWAfKJnCE2PJ_VL8-88jq-8RzHDVC1m3rLZy6o_urzJfdjzCSwTG-7kbAw6NQq9D6/s320/Demografische+Entwicklung+Europa.jpg" width="246" /></a></div>
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(2) Zum anderen sinkt aus demografischen Gründen die Zahl der grundsätzlich verfügbaren Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa, was auf den Geburteneinbruch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zurückzuführen ist. Vgl. dazu ausführlicher die Studie von Stephan Sievert et al. (2017): <a href="https://www.berlin-institut.org/publikationen/studien/europas-demografische-zukunft.html" target="_blank">Europas demografische Zukunft. Wie sich die Regionen nach einem Jahrzehnt der Krisen entwickeln</a>, Berlin, Juni 2017.<br />
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Die Vorschläge zur Bewältigung des Problems zurückgehender Erntehelfer-Zahlen aus der Branche selbst folgen nicht dem ja grundsätzlich auch denkbaren Muster, dann eben die Bedingungen zu verbessern, um wieder mehr Kräfte anzuziehen, sondern man fokussiert die Perspektive auf eine Art <b>neue "Osterweiterung" </b>des Nachschubs an Billigarbeitskräften. Konkret setzt man die Hoffnungen auf ein sogenanntes Drittstaatenabkommen mit der Ukraine. »Eine EU-Richtlinie regelt die saisonale Beschäftigung von Bürgern aus Drittstaaten. Mitgliedsstaaten können bilaterale Abkommen mit Ländern außerhalb der Union schließen«, <a href="https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/helfer-machen-sich-vom-acker-landwirte-suchen-saisonkraefte/22607488.html" target="_blank">erläutert</a> Alexandra Duong. Auch der Chef des Rheinischen Landwirtschafts-Verbandes (RLV) drängt auf das Drittstaatenabkommen. »Von den Staaten, die in Frage kommen, sei die Ukraine am nächsten dran. Und für ukrainische Arbeitnehmer sei die Bezahlung gut.«<br />
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Auch Österreich hat das gleiche Problem mit rückläufigen Zahlen bei den Erntehelfern - und man setzt ebenfalls alle Hoffnungen auf das angesprochene Instrumentarium der Drittstaatenabkommen. Dazu der Artikel <a href="https://derstandard.at/2000079894011/Den-Landwirten-laufen-die-Erntehelfer-davon" target="_blank">Den Landwirten laufen die Erntehelfer davon</a>. Dabei wird auf eine "interessante" Konkurrenzsituation zugunsten Deutschlands hingewiesen: »Viele der Saisonarbeitskräfte, die vor allem aus Osteuropa stammen, würden überhaupt nicht mehr nach Österreich kommen wollen. Stattdessen gehen sie nach Deutschland, weil sie dort mehr verdienen. Denn in Deutschland sind die Lohnnebenkosten im Vergleich zu Österreich niedriger, weshalb den Arbeitern netto mehr übrig bleibt. Versicherungsbeiträge fallen dort erst ab dem 70. Tag an.« Viele Landwirtschaftsvertreter fordern vor diesem Hintergrund eine Ausweitung des Drittstaatenkontingents.<br />
Das ist derzeit beschränkt. Am Beispiel des Bundeslandes Oberösterreich: »Dort ist das Kontingent für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer aus Drittstaaten, also Staaten außerhalb der EU, auf 1.050 begrenzt, weil generell Arbeitskräfte aus der EU bei der Vergabe bevorzugt werden müssen.«<br />
<br />
Die angesprochene bessere Konkurrenzsituation Deutschlands wird auch von einer anderen Seite kritisiert - aus Frankreich: So klagen französische Bauern, dass die deutschen Landwirte den Markt dort mit billigem Spargel überfluten, weil der Mindestlohn bei uns niedriger ist als auf der anderen Rheinseite. Die französischen Arbeitgeber verlangen inzwischen von den deutschen Gewerkschaften, dass sie für höhere Löhne in der Landwirtschaft sorgen sollen. Und in den ersten Jahren nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland gab es sogar eine Übergangsregelung für die Erntehelfer, deren Einführung damals auch mit einer großen Klage über die Auswirkungen eines Mindestlohns auf die Branche begleitet wurde (vgl. dazu den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.com/2014/06/12-spargel-mindestlohn.html" target="_blank">Das muss ja auch mal gesagt werden: Rettet den deutschen Spargel vor dem deutschen Mindestlohn! Und die Gurken gleich mit. Aber natürlich ist es in Wahrheit wieder einmal komplexer</a> vom 12. Juni 2014).<br />
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Und was sagen die, die sich seit langem kritisch begleitend mit der Situation der Saisonarbeitskräfte in Deutschland beschäftigen? Dazu dieses Interview mit Thomas Hentschel, dem Geschäftsführer des <a href="https://www.peco-ev.de/" target="_blank">Peco-Instituts</a> in Berlin, das eine Studie über die Situation der Erntehelfer veröffentlicht hat (vgl. Pech-Institut (2017): <a href="https://www.peco-ev.de/docs/Flexi_Insecure_Web.pdf" target="_blank">Flexible-Insecure. Wanderarbeit in der Landwirtschaft</a>, Berlin 2017): <a href="https://www.zeit.de/arbeit/2018-05/erntehelfer-spargelfelder-saisonkraefte-thomas-hentschel-peco-insititut" target="_blank">"Wenn man die Leute anständig behandelt, kommen sie auch"</a>:<br />
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Hentschel wird zu den Klagen über die ausbleibenden Arbeitskräften aus Osteuropa befragt. Seine Sicht: »Die Klage kommt von den Bauern regelmäßig. Vor ein paar Jahren hieß es noch, der Spargel müsse auf den Feldern verderben, weil die Polen plötzlich lieber in Großbritannien arbeiteten. Natürlich ändern sich die Herkunftsländer: Heute kommen die Saisonkräfte nicht mehr so oft aus Polen, dafür häufiger aus Rumänien. Ich kenne auch viele Betriebe, die gar keine Probleme haben, Erntehelfer zu finden. Wenn man die Leute anständig behandelt, kommen sie auch.«<br />
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Anständig behandeln - dazu gehört sich auch, dass man wenigstens das Mindeste zahlt, also den Mindestlohn. Dessen Höhe und Umgehung wurde in diesem Beitrag bereits angesprochen. Dazu Hentschel: »... in der Praxis erleben wir immer wieder, dass auf den Lohnzetteln der Saisonkräfte sehr fantasievolle Abzüge auftauchen. Da wird den Erntehelfern zum Beispiel die Kleidung oder das Arbeitsgerät in Rechnung gestellt. Oder die Kosten für die Unterkunft sind so hoch, dass vom verdienten Geld kaum etwas bleibt. Die Saisonarbeiter haben oft keine Wahl: Sie müssen während ihres Einsatzes ja irgendwo wohnen. Das macht Lohndumping einfach, die Landwirte können mit den Abzügen Druck auf die Arbeitskräfte ausüben. Wenn die Erntehelfer da nicht mehr mitspielen, ist das eine gute Entwicklung.«<br />
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Nach dieser Sichtweise gibt es eigentlich nur die eine Lösung: man muss die Arbeitsbedingungen verbessern und das beutetet nicht nur, aber vor allem die Vergütung anheben. Und was ist mit dem Argument beispielsweise vieler Spargel-Bauer, dass sie dann aufgrund der höheren Preise nicht mehr überlebensfähig wären, weil die Kunden nicht bereit sein werden, mehr Geld auszugeben für den deutschen Spargel und die hier produzierten Erdbeeren.<br />
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Auch wenn das erst einmal nur eine Behauptung ist, so berührt der wahre Kern dieses Einwands die Nachfrage-Seite und deren Bedeutung. Wenn die Produktion landwirtschaftlicher Produkte in Deutschland mit deutlich höheren Kosten einhergehen müsste, dann müssten die Verbraucher bzw. zumindest ein relevanter und kaufkräftiger Teil von ihnen bereit sein, dem beim Einkauf Rechnung zu tragen. Diese Grundanforderung, dass man höhere Preise für Produkte, die regional hergestellt werden, auch zu zahlen bereit ist, kann man auf viele andere Dienstleistungsbereiche übertragen. Denn wenn die Verbraucher darauf bestehen, das billigste Angebot auszuwählen oder gar zu unterschreiben, dann werden zahlreiche Produzenten hier bei uns Schwierigkeiten haben oder gar aufgeben müssen. Wenn man die erhebliche Schwächung oder gar das Verschwinden dieser einheimischen Anbieter nicht will, dann muss man in den Markt hinein seitens der Nachfrager bewusst wirken und das auch im Kaufverhalten abbilden. So, wie das in der Vergangenheit beispielsweise stabil und erfolgreich in der Schweiz praktiziert wurde und wohl immer auch noch gemacht wird. Man schaue sich nur einmal an, wie viele im Hochlohnland Schweiz hergestellten Produkte sich in einem Schweizer Supermarkt befinden. Nur so kann man auf Dauer die Hersteller im Inland stützen. Wenn es hingegen nur noch um "albanische Kampfpreise" geht, dann wird das nicht auf Dauer gehen können.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-76548052185656073432018-05-29T11:46:00.000+02:002018-06-09T11:14:22.708+02:00Von gar nichts bis ziemlich viel: Die Elternbeiträge in der Kindertagesbetreuung, die wie so oft ungerechte Verteilung der Lasten und mögliche Verbesserungen im föderalen Durcheinander<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj3FD99CG3b_xy4mD1oxdH9slPh7Wly3RE7GJHldOhMa8PNpeqIhjpMG9ng0hoeSSHuAOJZJKPt9rBvmH65U41a73K2HNT7LPG3xz_9iu5pwV0DNwvCxxHvYkNuweJplOzo0Eqj8iW6ofzB/s1600/Bertelsmann+Studie+Kosten+Beitragsfreiheit+Kitas.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="829" data-original-width="673" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj3FD99CG3b_xy4mD1oxdH9slPh7Wly3RE7GJHldOhMa8PNpeqIhjpMG9ng0hoeSSHuAOJZJKPt9rBvmH65U41a73K2HNT7LPG3xz_9iu5pwV0DNwvCxxHvYkNuweJplOzo0Eqj8iW6ofzB/s320/Bertelsmann+Studie+Kosten+Beitragsfreiheit+Kitas.jpg" width="260" /></a></div>
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Sie kamen mit Trillerpfeifen, Vuvuzela-Tröten und gelben Luftballons mit der Aufschrift „Kita-Krise“: Einige tausend Eltern und Kinder gingen am 26. Mai 2018 in Berlin auf die Straße, um gegen den Mangel an Kitaplätzen und eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf zu demonstrieren. Zur Zeit fehlen weit mehr als 3.000 Kita-Plätze in der Hauptstadt.<br />
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»Eine der Demonstrierenden ist Corinna Mehling. Sie ist in der 36. Schwangerschaftswoche nach Berlin gezogen. Als ihr Sohn sechs Wochen alt war, begann sie mit der Suche nach einem Kitaplatz. Zu spät, wie sie merkte: jetzt ist der Kleine ein Jahr alt und Mehling immer noch auf der Suche. Andere Eltern suchten wohl bereits während der Schwangerschaft.«<br />
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In den vergangenen Jahren hat sich der Kita-Mangel in Berlin drastisch zugespitzt, viele Eltern - vor allem Mütter - sind dadurch vor allem in ihren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt. Eine Ursache liegt auch in fehlendem Personal, so Helena Pointe in ihrem Bericht <a href="https://www.tagesspiegel.de/berlin/protestzug-zum-brandenburger-tor-tausende-demonstranten-fordern-mehr-kitaplaetze-in-berlin/22606468.html" target="_blank">Tausende Demonstranten fordern mehr Kitaplätze in Berlin</a>. Neben dem Mangel an Fachkräften sind es aber noch weitere Baustellen, die das Leben der Eltern in Berlin zur Belastungsprobe machen. Dazu auch schon der Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/04/von-einer-kita-pflicht-als-papiertiger.html" target="_blank">Von einer "Kita-Pflicht" als Papiertiger bis hin zu einem Mangel an normalen Kita-Plätzen - ein "Staatsversagen" in Berlin?</a> vom 6. April 2018.<br />
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Selbst wenn neue Kitas und mehr Plätze in Sicht sein könnten, gibt es Schwierigkeiten von denen, die an den Schalthebeln sitzen: »Ungeachtet des Mangels an Betreuungsplätzen blockieren Senat und Kitaaufsicht freie Träger, die ihre Kapazitäten erweitern oder Neugründungen auf den Weg bringen wollen: Die baulichen Anforderungen für die Einrichtung neuer Kitas wurden noch weiter verschärft«, berichtet Susanne Vieth-Entus in ihrem Artikel <a href="https://www.tagesspiegel.de/berlin/kinderbetreuung-in-berlin-vorschriftendschungel-laesst-kitagruender-verzweifeln/22607604.html" target="_blank">Vorschriftendschungel lässt Kitagründer verzweifeln</a>: »Plötzlich muss die Küche größer sein, und ohne Gäste-WC geht nichts: Träger Berliner Kitas sind empört über die Regelungswut des Senats - und die Behandlung als Bittsteller.«<br />
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Nun werden wir erneut Zeuge einiger besonderer Berliner Eigenschaften, aber man kann die für Eltern entnervende Problematik, dass sie trotz eines formalen Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz (wobei auch die Tagespflege dazu gehört) ab dem vollendeten ersten Lebensjahr gegen Wände laufen müssen, sicher auf viele andere Regionen in Deutschland übertragen.<br />
Und selbst wenn man das Glück hatte, einen Kita-Platz zu bekommen, dann werden viele Eltern mit teilweise gravierend schlechten Rahmenbedingungen der so wichtigen frühkindlichen Bildung und Betreuung in den Einrichtungen konfrontiert, weil auch hier die schlechte und nicht selten in den relativ kleinen Kitas durch Erkrankungen oder andere Ausfälle besonders fragile Personalausstattung auf Kante genäht ist und dadurch immer wieder Fehler passieren (müssen).<br />
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Nun hat die Bertelsmann-Stiftung, die seit Jahren in diesem Politikfeld mit einem Monitoring der Entwicklungen in den Bundesländern und Studien unterwegs ist, eine neue Veröffentlichung vorgelegt, die auf breite Resonanz in den Medien gestoßen ist: »Der eine zahlt Hunderte Euro im Monat, der andere überhaupt nichts: In Deutschland entscheidet vor allem der Wohnort, wie viel ein Kitaplatz kostet«, so Julia Klöppe in ihrem Artikel <a href="http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/studie-so-unterschiedlich-sind-kitagebuehren-in-deutschland-a-1209596.html" target="_blank">So ungerecht sind Kitagebühren in Deutschland</a>:<br />
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»Mehr als 600 Euro zahlen Sabine und Ben, damit ihre zwei Söhne tagsüber betreut werden. Allein für den Krippenplatz ihres Jüngsten werden knapp 400 Euro fällig. Die vier wohnen in einem Vorort von Kiel. Nirgendwo sonst zahlen Familien im Schnitt so viel für die Kinderbetreuung wie in Schleswig-Holstein.<br />
Demnach gehen dort im Schnitt neun Prozent des Nettoeinkommens pro Haushalt für die Kita drauf. Nur hundert Kilometer weiter in Hamburg sieht es ganz anders aus. In der Hansestadt können Eltern seit August 2014 ihr Kind fünf Stunden pro Tag kostenlos betreuen lassen. Soll das Kind länger bleiben, müssen die Eltern zahlen - jedoch maximal 200 Euro monatlich für einen Achtstunden-Platz. Im Schnitt gibt eine Hamburger Familie nur 4,4 Prozent ihres Einkommens für die Kita aus.<br />
Am wenigsten zahlen Eltern laut der Studie in Berlin. Hier zahlen Familien im Mittel gerade einmal 1,8 Prozent des Nettoeinkommens für die Kita. Ab dem Sommer sind die Kitas in der Hauptstadt sogar komplett kostenfrei. Nur das Geld für das Essen müssen Eltern dann noch selbst bezahlen - wenn sie einen Platz finden.«<br />
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Die Daten sind einer Elternumfrage der Bertelsmann-Stiftung entnommen. Im Herbst vergangenen Jahres führte die Bertelsmann Stiftung zum zweiten Mal die bundesweite Elternbefragung ElternZOOM durch. In Kooperation mit infratest dimap wurden insgesamt 10.491 Eltern von KiTa-Kindern befragt. Dabei wurde eine "Quotenstichprobe auf Basis repräsentativer Merkmale" sowie eine "Interessierten-Stichprobe" durchgeführt. Im Mittelpunkt der Fragestellungen stand diesmal die Finanzierung. Die Ergebnisse findet man in dieser Veröffentlichung:<br />
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Bertelsmann-Stiftung (2018): <a href="http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ElternZOOM2018.pdf" target="_blank">ElternZOOM 2018. Schwerpunkt: Elternbeteiligung an der KiTa-Finanzierung</a>, Gütersloh 2018<br />
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Die Stiftung berichtet über die Befunde unter der Überschrift <a href="http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2018/mai/mehr-kita-qualitaet-und-beitragsfreiheit-kosten-jaehrlich-15-milliarden-euro/" target="_blank">Mehr Kita-Qualität und Beitragsfreiheit kosten jährlich 15 Milliarden Euro</a>. Ein wichtiger Befund der Studie betrifft die Ungleichheit der Belastungen der Eltern mit Zuzahlungen:<br />
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»Die finanzielle Belastung durch Kita-Beiträge ist ungerecht verteilt: Haushalte unterhalb der Armutsrisikogrenze müssen einen fast doppelt so hohen Anteil ihres Einkommens für den Kita-Beitrag ihrer Kinder aufbringen wie wohlhabendere Eltern – trotz einer vielerorts gültigen Sozialstaffel. Denn Eltern, die über weniger als 60 Prozent eines durchschnittlichen Einkommens verfügen, zahlen monatlich durchschnittlich 118 Euro und damit zehn Prozent ihres Einkommens für den Kita-Besuch ihres Kindes; bei Eltern oberhalb der Armutsrisikogrenze sind es hingegen nur rund fünf Prozent des Einkommens, im Durchschnitt 178 Euro. Zudem gibt es erhebliche regionale Unterschiede zwischen den Bundesländern.<br />
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Darüber hinaus belasten Zusatzkosten – etwa für Ausflüge, Verpflegung oder Bastelmaterialen – ärmere Haushalte mehr als doppelt so stark als wohlhabendere Haushalte: Sie zahlen dafür 3,3 Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens – wohlhabendere Familien dagegen nur 1,4 Prozent. Bei diesen Zusatzgebühren – monatlich rund 45 Euro – spielt die finanziellen Lage der Familie bisher keine Rolle.«<br />
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Nun muss man berücksichtigen, dass es in Deutschland nicht "das" Kita-System gibt, sondern wir haben 16 teilweise ganz unterschiedliche Kita-Systeme (und den Bund als eigenen Akteur, dessen Bedeutung in den vergangenen Jahren gewachsen ist). Die Finanzierungssysteme unterscheiden sich ganz erheblich, was man bei den hier interessierenden Elternbeiträgen auch daran erkennen kann, dass die Spannweite von Beitragsfreiheit bis hin zu sehr hohen Zuzahlungen reicht, je nach Wohnort. Im politischen Raum gibt es nun seit vielen Jahren eine Diskussion und in einigen Bundesländern auch schon entsprechende Maßnahmen in Richtung auf eine generelle Gebührenfreiheit für die Eltern.<br />
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Um was für Größenordnungen würde es hierbei gehen? Auch damit hat sich die Bertelsmann-Stiftung beschäftigt:<br />
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»Für eine generelle Beitragsfreiheit müsste der Staat unseren Berechnungen zufolge jährlich rund 5,7 Milliarden Euro aufbringen, für Zusatzgebühren weitere 1,6 Milliarden Euro.«<br />
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Das ist nun eine ordentliche Hausnummer. Aber das Ziel der Gebührenfreiheit für die Eltern steht ja nicht singulär in der Kita-Welt, sondern zugleich wird seit Jahren darauf hingewiesen, dass es endlich eine deutliche Verbesserung der Rahmenbedingungen in den Einrichtungen geben muss, wobei die Fachdiskussion vor allem auf Parameter der Strukturqualität wie dem Fachkraft-Kind-Schlüssel und dem daraus abzuleitenden Personalschlüssel abstellt oder der Freistellung der Kita-Leitungen. Dass wir hier ganz erhebliche Probleme haben, kann man auch diesem Beitrag vom 7. März 2018 entnehmen: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/03/die-vergessenen-in-real-existierenden-kita-welten.html" target="_blank">Die Vergessenen in real existierenden Kita-Welten. Von einem löchrigen Rechtsanspruch, schon heute und demnächst so richtig fehlenden Fachkräften und ja, dem Kindeswohl</a>.<br />
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Bei den Rahmenbedingungen besteht ein mindestens <b>vierfacher Handlungsbedarf</b>, denn<br />
<ul>
<li>zum einen sind gemessen an den fachwissenschaftlichen und fachpolitischen Vorstellungen überall die tatsächlich vorfindbaren Ausstattungen zu schlecht, es müsste also <b>überall eine Verbesserung beim Personalschlüssel </b>geben, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Kinder in den Einrichtungen immer jünger werden und immer länger in den Kitas bleiben,</li>
<li>zum anderen werden wir mit <b>krassen Unterschieden zwischen den Bundesländern</b> konfrontiert, so müssen die Fachkräfte in vielen ostdeutschen Bundesländern teilweise doppelt so viele Kleinkinder betreuen wie in einigen westdeutschen Bundesländern (wobei die Elternbeitragsbelastung nicht mit der Qualität gemessen an den Personalschlüsseln korreliert: »In Baden-Württemberg sind die Personalschlüssel demgegenüber bundesweit die Besten, hier beteiligen sich Eltern mit rund sieben Prozent eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens an der Kita-Finanzierung. In Mecklenburg-Vorpommern sind die Personalschlüssel bundesweit mit die ungünstigsten, gleichwohl müssen Eltern mehr als acht Prozent ihres Haushaltseinkommens für Kita-Beiträge und Zusatzgebühren zahlen«).</li>
<li>und außerdem müsste man dem Grundsatz <b>"Ungleiches ungleich behandeln"</b> folgend aufgrund der sozialräumlichen Verankerung der meisten Kitas und damit der Tatsache einer höchst ungleichen Zusammensetzung der Kinder die Kitas, in denen die Mehrheit der Kinder aus einem schwierigen und belasteten Umfeld kommen, eigentlich um ein Mehrfaches besser behandeln als andere Einrichtungen.</li>
<li>Schlussendlich sollte man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass man dringend weitere Verbesserungen bei der <b>Vergütung der Fachkräfte</b> sowie massive Verbesserungen hinsichtlich der <b>Ausbildung zukünftiger Fachkräfte</b> braucht, um den heute schon vorhandenen und in den kommenden Jahren massiv zunehmenden Fachkräftemangel anzugehen. </li>
</ul>
Man kann schon an dieser nur grobschlächtigen Aufzählung der Handlungsbedarfe erkennen, dass damit ein weiterer Finanzbedarf entstehen würde, den man den mit einer Elternbeitragsfreiheit verbundenen Kosten hinzuzählen muss.<br />
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Die Bertelsmann-Stiftung hat das gemacht für den Aspekt der Qualitätsverbesserungen. Darunter versteht die Stiftung Maßnahmen in drei Bereichen: Personalschlüssel, Leitungsausstattung sowie Mittagessen.<br />
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»Für einen kindgerechten Personalschlüssel müssen bundesweit zusätzlich 4,9 Mrd. Euro auf- gewendet werden ... Für eine angemessene Leitungsausstattung sind weitere 1,3 Mrd. Euro ... sowie für ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder jährlich zusätzlich 1,8 Mrd. Euro erforderlich ... Demnach entstehen für den Qualitätsausbau jährlich mindestens zusätzliche Kosten in Höhe von 8 Mrd. Euro.« (Bertelsmann-Stiftung 2018: 11 f.)<br />
<br />
Auf der Grundlage dieser Berechnungen kosten eine komplette Beitragsfreiheit für den KiTa-Besuch sowie die benannten Maßnahmen für den Qualitätsausbau jährlich insgesamt 15,3 Mrd. Euro. Hier nun ergibt sich das Problem, dass der Bund zwar mehr Geld für den Ausbau der Qualität in der Kindertagesbetreuung in Aussicht gestellt hat, die dafür vorgesehene Summe allerdings weit hinter den Bedarfen zurückbleibt: Während sich die zusätzlichen Kosten auf mehr als 15 Mrd. Euro belaufen und das jährlich, stehen für die gesamte Legislaturperiode insgesamt 3,5 Mrd. Euro im Raum, die der Bund nach dem Koalitionsvertrag zusätzlich für die Finanzierung der Kindertagesbetreuung bereitstellen will.<br />
<br />
Es ist unschwer zu erkennen, dass eine gleichzeitige Verfolgung der für sich genommen gut begründeten Ziele zu enormen Mehrkosten für die Bundesländer und vor allem für die Kommunen führen würde, da die geplanten zusätzlichen Bundesmittel nur einen geringen Anteil abdecken könnten.<br />
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Was also tun? Offensichtlich muss man Schwerpunkte setzen, will man nicht im illusionären Raum der Forderung, alles gleichzeitig zu bekommen, hängen bleiben. Die Bertelsmann-Stiftung formuliert ihre Agenda hinsichtlich der Elternbeiträge so:<br />
<br />
»Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt ... zunächst alle Eltern unterhalb der Armutsrisikogrenze sowohl von den Ki-Ta-Beiträgen als auch von den Zusatzgebühren zu befreien. Insgesamt würde dies 730 Mio. Euro jährlich kosten, davon 495 Mio. Euro für die KiTa-Beiträge sowie 235 Mio. Euro für Zusatzgebühren.<br />
<br />
Auch bei den Eltern mit höheren Einkommen ist eine Staffelung zu empfehlen. Damit die regionalen Unterschiede nicht fortbestehen, empfiehlt sich bundesweit eine einheitliche Regelung. Als wesentlicher Bestandteil wird vorgeschlagen, dass sich der Beitrag prozentual am Äquivalenzeinkommen orientiert. Dabei sollte nur das Einkommen berücksichtigt werden, welches oberhalb der Armutsrisikogrenze liegt.«<br />
<br />
Das liest sich systematisch, wird aber im gegebenen föderalen Durcheinander hinsichtlich einer möglichen Umsetzung auf zahlreiche Widerstände stoßen. Hinzu kommt natürlich eine Kollision mit der empirisch zu beobachtenden Auseinanderentwicklung zwischen den Bundesländern, denn dort reicht das Spektrum ja von Beitragsfreiheit für alle Eltern bis hin zu hohen Beitragsbelastungen je nach Wohnort. Im Ergebnis würde der Vorschlag der Stiftung für die Bundesländer, in denen wir heute schon Beitragsfreiheit bedeuten, erneut eine anteilige Beitragsfinanzierung der Eltern, wenn auch auf Basis einer konsequenten Sozialstaffelung, einzuführen. Einen solchen Schritt kann man aus unterschiedlichen Perspektiven für eine "mutige" bzw. von vornherein zum Scheitern verurteilte Empfehlung halten.<br />
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Wie dem auch sei - die Stiftung legt mit ihrem Vorschlag den Finger auf eine ziemlich komplizierte Wunde. Der konzeptionelle Ansatz wurde in den Medien von einigen zustimmend aufgegriffen. Beispielsweise von Parvin Sadigh in ihrem Kommentar <a href="https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-05/kita-gebuehren-bildung-gerechtigkeit" target="_blank">Kostenfreie Kitas sind ungerecht</a>: »Mehr Qualität in den Kitas verspricht Familienministerin Franziska Giffey. Das sollte endlich Priorität haben, statt weiterhin die gut verdienenden Familien zu entlasten.« Man muss allerdings darauf hinweisen, dass es aus bildungsökonomischer Sicht sehr gute Gründe für eine vollständige Steuerfinanzierung der frühkindlichen Bildung und Betreuung gibt, wenn man den Befunden der Forschung Glauben schenkt, dass die gesamtgesellschaftlich positiven Effekte in diesem Bereich mit Abstand am größten sind. Allerdings würde diese Argumentation dann auch für eine anteilige Mitfinanzierung der Hochschulausbildung plädieren, denn hier sind die persönlichen Nutzen deutlich ausgeprägter als im vor- und grundschulischen Bereich. Man kann erkennen, in welchem Minenfeld man sich hier bewegt.<br />
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Die Bertelsmann-Stiftung verfolgt offensichtlich das Anliegen, eine (reformierte) Zuzahlung der Eltern zu verteidigen, um dadurch finanziellen Spielraum zu gewinnen für die als notwendig erachteten Qualitätsverbesserungen und führt dafür die befragten Eltern selbst ins Feld:<br />
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»Mehr als die Hälfte der Eltern sind bereit, für eine höhere Qualität mehr zu bezahlen. Sowohl 59 Prozent der Eltern oberhalb der Armutsrisikogrenze, als auch 53 Prozent der Eltern unterhalb der Armutsrisikogrenze können sich dies vorstellen. Dies zeigt deutlich, dass den Eltern die KiTa- Qualität für ihr Kind sehr wichtig ist ... Die zusätzlichen Gelder sollten nach Meinung der Eltern insbesondere in zusätzliches Personal investiert werden. 42 Prozent der Eltern wünschen sich zudem eine bessere Bezahlung für Erzieherinnen und Erzieher. Fast ein Drittel der Eltern wünschen sich außerdem eine bessere Ausstattung der KiTas sowie flexiblere bzw. längere Öffnungszeiten.« (Bertelsmann-Stiftung 2018: 15)<br />
<br />
Auch hier könnte man jetzt wieder eine nicht nur operative, sondern grundsätzliche Skepsis notieren - denn die Elternbeiträge dienen im bestehenden System der anteiligen Finanzierung der tatsächlichen Betriebskosten. Wenn man nun also Elternbeiträge so verwenden will wie die Stiftung, dann müsste man im Ergebnis dafür sorgen, dass die Einnahmen aus den Beiträgen eben nicht (mehr) für die Mitfinanzierung der laufenden Kosten der Kitas verwendet werden, sondern mit ihnen die zusätzlichen Kosten aufgrund der Qualitätsverbesserungen. Das nun aber stößt aus zweierlei Hinsicht auf Probleme:<br />
<ul>
<li>Zum einen müssten die anderen Kostenträger den ausfallenden Finanzierungsanteil der Elternbeiträge gegenfinanzieren, denn das Geld muss ja irgendwo herkommen.</li>
<li>Zum anderen muss man angesichts des erheblichen sozialökonomischen Gefälles zwischen den Kommunen davon ausgehen, dass gerade in den wirtschaftlich schwächeren Gebietskörperschaften, wo zugleich viele Kitas einen eigentlich noch deutlich höheren Finanzbedarf haben, die Einnahmen aus sozial gestaffelten Elternbeiträgen deutlich unter denen liegen, die in den wohlhabenderen Kommunen realisiert werden können.</li>
</ul>
Man kann förmlich spüren, dass wir uns in einem höchst komplex strukturierten Politikfeld bewegen. Erkennbar ist derzeit, dass man im Zusammenspiel zwischen Bund und Bundesländern versucht, an einigen Stellen gemeinsame Fortentwicklungen im bestehenden System anzustoßen und dafür auch zusätzliche Mittel bereitzustellen. Aber nicht nur das Volumen ist angesichts der tatsächlichen Herausforderungen viel zu gering dimensioniert, aufgrund der föderalen Besonderheiten kann man eben auch nicht eine zentrale Vorgabe machen, sondern die Bundesländer können sich aus einer Karte der Möglichkeiten das heraussuchen, was ihnen besonders gefällt oder geeignet erscheint.<br />
<br />
Dazu hat die zuständige Bundesfamilienministerin ein "Gute-Kita-Gesetz" auf den Weg gebracht. Aus der Berichterstattung darüber beispielsweise die Meldung <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/erstes-projekt-der-familienministerin-giffey-will-gesetz-fuer-bessere-kitas-auf-den-weg-bringen/21226828.html" target="_blank">Giffey will Gesetz für bessere Kitas auf den Weg bringen</a>: „Das Gesetz enthält neun verschiedene Instrumente, um die Länder bei der Verbesserung der Kita-Qualität zu unterstützen - von der Gebührenbefreiung über den Betreuungsschlüssel bis zur Sprachförderung“, so wird die Ministerin Franziska Giffey (SPD) zitiert.<br />
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Man sollte sich an dieser Stelle erinnern, was Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag als Absichtserklärung festgeschrieben haben:<br />
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»Wir wollen die bestmögliche Betreuung für unsere Kinder und die bessere Vereinbar- keit von Familie und Beruf. Dazu unterstützen wir Länder und Kommunen weiterhin beim Ausbau des Angebots und bei der Steigerung der Qualität von Kinderbetreuungseinrichtungen und dem Angebot an Kindertagespflege sowie zusätzlich bei der Entlastung von Eltern bei den Gebühren bis hin zur Gebührenfreiheit. Dafür werden wir jährlich laufende Mittel zur Verfügung stellen (2019 0,5 Milliarden, 2020 eine Milliarde, 2021 zwei Milliarden Euro). Hierbei wollen wir sowohl die Vielfalt der Betreuungsangebote beibehalten als auch die Länderkompetenzen wahren. Die Beschlüsse der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder (JFMK) werden wir hierzu entsprechend umsetzen ... Wir werden einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter schaffen. Dabei werden wir auf Flexibilität achten, bedarfsgerecht vorgehen und die Vielfalt der in den Ländern und Kommunen bestehenden Betreuungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe und die schulischen Angebote berücksichtigen. Für die Ausgestaltung wollen wir das Sozialgesetzbuch VIII nutzen. Um diesen Rechtsanspruch bis 2025 zu verwirklichen, bedarf es konkreter rechtlicher, finanzieller und zeitlicher Umsetzungsschritte, die wir in einer Vereinbarung von Bund und Ländern unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände festlegen werden. Dabei wird der Bund sicherstellen, dass insbesondere der laufenden Kostenbelastung der Kommunen Rechnung getragen wird.« (<a href="https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1" target="_blank">Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2018</a>: 20).<br />
<br />
Dieser Hinweis ist auch deshalb wichtig und zugleich brisant, weil man hier eine weitere Großbaustelle serviert bekommt, die demnächst aufgemacht werden soll: nach dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr soll es nun weiter gehen mit einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. Wenn man das wirklich angehen sollte, dann hätte das in dem hier relevanten Kontext nicht nur zur Folge, das weitere große Finanzbedarfe entstehen, sondern man muss zur Kenntnis nehmen, dass es vor allem Erzieherinnen und Erzieher sind, die hier im Betreuungsbereich der Schulen arbeiten (werden). Und das vor dem Hintergrund eines zunehmende Personalmangels in den Kitas schon heute (vgl. dazu auch das Interview mit Anke König vom Deutschen Jugendinstitut: <a href="http://www.deutschlandfunkkultur.de/prognose-zur-kita-entwicklung-bis-2025-fehlen-300-000.1008.de.html?dram:article_id=418896" target="_blank">Prognose zur Kita-Entwicklung: Bis 2025 fehlen 300.000 Erzieherinnen und Erzieher</a>).<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiLx_Ij1Bd_A3WydXgR_-C9MSW95DDZHUcayPYl3vPqCfY-fGjtaLmyTYAcd7lD5jjLwBWzZhgjWyFtxIPn-fPb-zpZEZ_v9WjSc1oXVrFYpub2B71wNPuoCOVPKr5qHMrOzNeg1ne-Yj6e/s1600/Gute-Kita-Gesetzentwurf.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="783" data-original-width="534" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiLx_Ij1Bd_A3WydXgR_-C9MSW95DDZHUcayPYl3vPqCfY-fGjtaLmyTYAcd7lD5jjLwBWzZhgjWyFtxIPn-fPb-zpZEZ_v9WjSc1oXVrFYpub2B71wNPuoCOVPKr5qHMrOzNeg1ne-Yj6e/s320/Gute-Kita-Gesetzentwurf.jpg" width="218" /></a></div>
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Aber zurück zu dem angekündigten "Gute-Kita-Gesetz". Ein erster <a href="http://www.ijosblog.de/wp-content/uploads/2018/05/Ref_Gute_Kita.pdf" target="_blank">Referentenentwurf für ein Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung (Gute-Kita-Gesetz)</a> vom 24. April 2018 liegt mittlerweile vor.<br />
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Im § 2 des Entwurfs sind die mit den avisierten Bundesmitteln "förderfähigen Maßnahmen" aufgelistet. Man erkennt bereits beim ersten Durchlesen, dass wir es hier gleichsam mit einem Potpourri aller irgendwie möglichen und für den einen oder anderen wünschenswerten Verwendungen der Gelder seitens der Länder zu tun haben. Jeder nach seiner Façon, so kann man die Architektur zusammenfassen. Ein nur annähernd kohärenter Ansatz ist hier nicht zu erkennen. Hinzu kommt: Bei allem Verständnis für die Forderung nach Beitragsfreiheit - wie um alles in der Welt soll Elternbeitragsfreiheit die Qualität einer Kita steigern? Ganz offensichtlich wird das hier als Hülle benutzt, um das eigene Ziel einer Gegenfinanzierung von Beitragsfreiheit unterzubringen. Aber das hat nun wirklich nichts mit dem zu tun, was man normalerweise unter Qualitätsverbesserungen diskutiert. Im Zusammenspiel mit dem bereits eingeordneten niedrigen Volumen an zusätzlichen Mitteln kann man sich an fünf Fingern ausrechnen, was das bringen wird. Nicht viel, um das nett zu formulieren.<br />
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Insofern kann und muss man an dieser Stelle derzeit nur mit einer ziemlich frustrierenden Analogie enden: Die Kitas und die dort arbeitenden Menschen laufen in eine Situation hinein, die der in der Pflege immer vergleichbarer wird. Und aus der Pflege wissen wir: man kann eine Zeit lang kontinuierlich von der Substanz leben, aber irgendwann bricht einem das System unterm Hintern weg. </div>
Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-66733767360030804212018-05-27T19:49:00.000+02:002018-06-09T11:18:26.146+02:00Altenpflege: 8.000 Stellen mehr! Zu wenig! Wie wäre es mit 13.000? Von Symbolstellen, einem nicht überraschenden Mangel an Menschen und Erkenntnissen aus dem Pflege-Thermometer 2018<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgTJGIGw2GLSVV8HHNF_aJvYM8TtoaqtfeU5vjr9ny4KJofIN2yT3fsdCzuGfN1TvGr_iRkhleOM6i6UyE-KkdWHr6RY-Q4Ep6DF2_wZoR8eaL_0P9nvXDT6IIwk8y6dGpsHRnEgB-ODMq2/s1600/Pflege-Thermometer+2018.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="617" data-original-width="850" height="232" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgTJGIGw2GLSVV8HHNF_aJvYM8TtoaqtfeU5vjr9ny4KJofIN2yT3fsdCzuGfN1TvGr_iRkhleOM6i6UyE-KkdWHr6RY-Q4Ep6DF2_wZoR8eaL_0P9nvXDT6IIwk8y6dGpsHRnEgB-ODMq2/s320/Pflege-Thermometer+2018.jpg" width="320" /></a></div>
<br />
Das Thema Pflegenotstand bewegt verständlicherweise viele Menschen und seit geraumer Zeit auch (wieder einmal) die Medien. Zahlreiche Berichte legen den Finger auf die offensichtliche Wunde - es fehlt vorne und hinten an Personal. Nachdem das Problem (das übrigens nun wirklich nicht wie ein Komet urplötzlich und damit völlig überraschend auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eingeschlagen ist, denn die Hinweise und Mahnungen hinsichtlich des nun "lediglich" immer schlimmer werdenden Personalmangels in der Pflege gab es schon seit vielen Jahren) im Bundestagswahlkampf des vergangenen Jahres einen gehörigen Schub bekommen hat in der Berichterstattung, fand das auch im Koalitionsvertrag der neuen Großen Koalition aus Union und SPD seinen Niederschlag.<br />
<a name='more'></a><br />
Dort hat man beispielsweise fixiert, dass über ein Sofortprogramm den Pflegeheimen 8.000 zusätzliche Stellen für die medizinische Behandlungspflege zur Verfügung gestellt werden sollen (die dann aufgrund der Zweckbestimmung von Dritten, in diesem Fall den Krankenkassen, finanziert werden müssen). Die Reaktionen sind bekannt: Die einen mokieren sich über die Zahl an sich, denn die 8.000 Stellen muss man allein schon vor dem Hintergrund sehen, dass es mehr als 13.000 Pflegeheime in Deutschland gibt. Die anderen weisen darauf hin, dass der Personalbedarf nicht nur heute schon eklatant ist (gemessen an den vorhandenen offenen, aber nicht besetzten bzw. nicht gesetzbaren Stellen), sondern das eigentlich Pflegekräfte in weitaus größerer Zahl fehlen und angesichts der demografischen Entwicklung von einem beständigen Anstieg des Personalbedarfs auszugehen ist.<br />
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Und wie regiert die Politik? Man geht in die "Offensive" und erhöht mal eben die Zahl der neuen, zusätzlichen Stellen von den ursprünglich geplanten 8.000 auf - nicht zufälligerweise - 13.000, was der Zahl der Pflegeheime insgesamt ganz nahe kommt (vgl. dazu das am 23. Mai 2018 vorgestellte <a href="https://www.bundesgesundheitsministerium.de/sofortprogramm-pflege.html" target="_blank">Sofortprogramm Kranken- und Altenpflege</a> des neuen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn sowie Bundesministerium für Gesundheit (2018): <a href="https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Pflege/Sofortprogramm_Pflege__Eckpunkte.pdf" target="_blank">Eckpunktepapier Sofortprogramm Kranken- und Altenpflege</a>). Das kommt tatkräftig daher und vermittelt den Eindruck, dass man offensichtlich da oben verstanden hat, dass das Problem weitaus gravierender ist.<br />
<br />
Und der Dank? Solche Schlagzeilen: <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/333016.spahns-schlechter-witz.html" target="_blank">Spahns schlechter Witz</a>: »Gesundheitsminister legt "Sofortprogramm" gegen Pflegenotstand vor. Kritiker bemängeln "Stückwerk" und fordern mehr Geld.«<br />
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»Der Aktionsplan sei »leider ein Witz«, beklagte ... der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie. »Mit diesen 13.000 Symbolstellen gewinnen wir nichts in diesem Land«, sagte er ... Das Vorhaben werde die Bedingungen in der Pflege »nicht maßgeblich verbessern«, monierte Verena Bentele, Chefin des Sozialverbands VdK Deutschland. Der Paritätische Wohlfahrtsverband mahnte »weitere verbindliche Schritte« an. Andernfalls wären die Maßnahmen nicht mehr als ein »Trostpflaster«.«<br />
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Zu der - offensichtlich weiter als zu niedrig dimensioniert kritisierten - Aufstockung der Zahl der neuen zusätzlichen Stellen auf 13.000 kann man dem <a href="https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Pflege/Sofortprogramm_Pflege__Eckpunkte.pdf" target="_blank">Eckpunktepapier</a> des Bundesgesundheitsministeriums entnehmen:<br />
<br />
»Jede vollstationäre Altenpflegeeinrichtung in Deutschland soll im Rahmen des Sofortprogramms profitieren. Einrichtungen bis zu 40 Bewohnern erhalten eine halbe Pflegestelle, Einrichtungen mit 41 bis 80 Bewohnern eine Pflegestelle, Einrichtungen mit 81 bis 120 Bewohnern eineinhalb und Einrichtungen mit mehr als 120 Bewohnern zwei Pflegestellen zusätzlich. Ziel ist es, insbe- sondere den Aufwand im Zusammenhang mit der medizinischen Behandlungspflege in der statio- nären Altenpflege pauschal teilweise abzudecken. Die Pflegeeinrichtungen haben die Möglichkeit, auf Antrag schnell und unbürokratisch diese zusätzlichen Stellen durch einen Zuschlag finanziert zu bekommen.<br />
<br />
Zur Finanzierung zahlt die GKV jährlich pauschal einen Betrag an den Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung. Hierzu erhebt der GKV-SV bei den Krankenkassen eine Umlage pro Versicherten. Die private Pflegeversicherung beteiligt sich anteilig entsprechend der Zahl der Pfle- gebedürftigen an der Finanzierung. Auf diesem Wege werden die Pflegebedürftigen zur Finanzierung dieser rund 13.000 Stellen nicht belastet.«<br />
<br />
Es muss an dieser Stelle natürlich darauf hingewiesen werden, dass hier die ganze Zeit von Stellen gesprochen wird - aber bekanntlich sind Stellen nicht gleich lebende Menschen. War da nicht was? Offene Stellen, die bereits heute schon nicht besetzt werden können?<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjkKzUvOGzpWaxCdhhkYg26uZqpf9w9llwEZmOknoBrmIPjAd7GGoYz3ZT3Vd-DNEjJ5I4dfZWIQvj74a4L6QO5NixmSEPEyp9CXqqPktoypbXgQoCG-pAM7W2X9dRyjfW1tRdx7q0-gFHt/s1600/Zahl+der+Leistungsbezieher+Pflegeversicherung+2002-2017.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="579" data-original-width="652" height="284" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjkKzUvOGzpWaxCdhhkYg26uZqpf9w9llwEZmOknoBrmIPjAd7GGoYz3ZT3Vd-DNEjJ5I4dfZWIQvj74a4L6QO5NixmSEPEyp9CXqqPktoypbXgQoCG-pAM7W2X9dRyjfW1tRdx7q0-gFHt/s320/Zahl+der+Leistungsbezieher+Pflegeversicherung+2002-2017.jpg" width="320" /></a></div>
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Natürlich liegen die Kritiker richtig, wenn sie auch die Stellen-Aufstockung als zu wenig beklagen angesichts des bereits heute vorhandenen und absehbar weiteren Anstiegs des Personalbedarfs. Und man müsste ergänzen, erneut bricht sich auch in der aktuellen Diskussion über Sofort- und sonstige Programme der beklagenswerte Tatbestand Bahn, dass auf Pflege immer sehr versäult geschaut wird. Dass das Eckpunktepapier der Bundesregierung zwischen Kranken- und Altenpflege trennt, ist ja angesichts der völlig unterschiedlichen systematischen Zuordnung noch nachvollziehbar, aber die Vorschläge die Altenpflege betreffend fokussieren auf den Bereich, der auch die mediale Berichterstattung dominiert, also die vollstationäre Altenpflege. Aber was ist mit den ambulanten Pflegediensten? Vor allem angesichts der Tatsache, dass dort der Personalmangel ebenfalls immer offensichtlicher wird, auch weil die Leistungsausweitungen der Pflegeversicherung in der vergangenen Legislaturperiode vor allem den ambulanten Bereich gefördert haben und dort zahlreiche neue Leistungsberechtigte dazu gekommen sind, die nun alle entsprechende Dienste suchen.<br />
<br />
Dazu als ein Beispiel von vielen dieser Bericht des NDR über die Lage in Niedersachsen: <a href="https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Ambulante-Pflege-Aufnahmestopp-und-Kuendigungen,pflegenotstand134.html" target="_blank">Situation in der ambulanten Pflege spitzt sich zu</a>: In Niedersachsen »nehmen viele ambulante Pflegedienste derzeit keine neuen Patienten mehr an und kündigen sogar bestehende Versorgungsverträge. Grund ist der gravierende Fachkräftemangel in der Pflege. Aktuellen Umfragen der Pflegebranche unter den ambulanten Pflegediensten in Niedersachsen zufolge, ist die Situation so dramatisch wie nie zuvor ... Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, in der große Pflegeanbieter wie Diakonie, Caritas und der Paritätische zusammengeschlossen sind, hat ihre 400 ambulanten Dienste zu einer Rückmeldung über die Monate Februar, März und April aufgefordert. Rückmeldungen bekam sie von rund einem Viertel der Dienste. Das Ergebnis: In rund 1.700 Fällen wurden Anfragen von Pflegebedürftigen abgelehnt. In diesen Fällen konnten die Pflegedienste den Wunsch nach einer ambulanten Pflege nicht erfüllen. In 63 Fällen mussten sogar bestehende Pflegeverträge gekündigt werden.«<br />
<br />
Und der Anstieg der Inanspruchnahme ambulanter Pflegedienste ist ja einerseits ein positiver Ausdruck für die offensichtlichen Präferenzen der Menschen, so lange wie es nur geht zu Hause zu bleiben und dort versorgt zu werden. Das ist mehr als verständlich und die Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung in der vergangenen Legislaturperiode haben diesen Trend im Sinne der Betroffenen sicher unterstützt. Aber nichts ist umsonst und natürlich hat diese Entwicklung auch Folgen für die Heime. Die Auswirkungen auf die stationäre Altenpflegerin eines der Themen, die im gerade veröffentlichten <b>"Pflege-Thermometer 2018"</b> behandelt werden. Dabei handelt es sich um eine Befragung vorwiegend von Leitungskräften aus der stationären Pflege. Fast alle Heime wurden angeschrieben. Zurückgesendet wurden von 13.223 insgesamt 1.067 Fragebögen. Die Rücklaufquote betrug, ausgehend von der Anzahl der versendeten Fragebögen, 8 Prozent. In der Ergebnisdarstellung werden die Befunde aus der Stichprobe auf alle Heime hochgerechnet:<br />
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Michael Isfort et al. (2018): <a href="https://www.dip.de/fileadmin/data/pdf/projekte/Pflege_Thermometer_2018.pdf" target="_blank">Pflege-Thermometer 2018. Eine bundesweite Befragung von Leitungskräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung in der stationären Langzeitpflege in Deutschland</a>, Köln: Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, 2018<br />
<br />
Um bei den Auswirkungen des Hinausschiebens eines Heimeintritts zu bleiben: »In der stationären Altenpflege sind die zu versorgenden Personen den Angaben zufolge immer stärker von Pflegebedürftigkeit und begleitenden komplexen medizinischen Problemlagen betroffen.« Der Großteil der Leitungen meldet zurück, dass in der Zeit von 2015 bis 2017 die Anzahl der Bewohner mit komplexen medizinischen Problemlagen zunimmt (81 %), dass das durchschnittliche Einzugsalter der Bewohner höher wird (62 %) und die Bewohner immer kürzer im Pflegeheim wohnen (56 %). Dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.<br />
<br />
Eine solche Entwicklung hat ihrerseits Folgen oder sollte diese haben - und das geht in der aktuellen Debatte oftmals völlig unter, wo es nur noch über Quantitäten geht (mehr Stellen, mehr Personal), viel zu selten oder gar nicht aber über die qualitative Seite. Also was für Pflegekräfte braucht man eigentlich, welche Qualifikationen sollten die haben.<br />
<br />
»In der Gesamtschau dieser Ausgangslage und der beschriebenen Zunahme an komplexen medizinischen Problemen, einem höheren Einzugsalter und einer kürzeren Wohndauer muss darauf verwiesen werden, dass sich die stationären Einrichtungen zunehmend zu Zentren entwickeln, in denen eine gerontopsychiatrische und palliativ ausgerichtete Versorgung vorherrscht. Dies stellt in hohem Maße Anforderungen an das Personal (sowohl numerisch als auch qualifikatorisch).«<br />
<br />
Auch vor diesem Hintergrund wird die Absurdität der - aus der völlig reduzierten Perspektive einer Irgendwie-Personaldeckung durchaus "konsequente" - Forderung nach einer Absenkung der heute bestehenden Fachkraftquote von 50 Prozent offensichtlich (vgl. dazu bereits die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/08/wenn-private-pflegeheimbetreiber-eine-ideologiefreie-diskussion-vorschlagen.html" target="_blank">Wenn private Pflegeheimbetreiber eine "ideologiefreie Diskussion" vorschlagen ... Die Altenpflege, ihre Personalmisere und die das Geschäft störende Fachkraftquote</a> vom 22. August 2017). Für die Pflegeheime hat gerade die Nicht-(mehr)-Erfüllung der Fachkraftquote eine überaus negative Folge, über die sich im "Pflege-Thermometer 2018" berichtet wird: »In 22 % der Einrichtungen wurde aufgrund des Personalmangels (und der zu erfüllenden Fachkraftquote) in den drei Monaten vor dem Erhebungszeitpunkt ein selbst verordneter temporärer Belegungsstopp verhängt. In fast 4 % der Fälle geschah dies durch die Aufsichtsbehörden.« (S. 67)<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiH0b0r8AVX83KF43DgDPQpYIqYNCNvgKKkSoMULY6snL4ThEtb6tfzosa-pdvd1jqvQmdIcfaZ0o8us7YDmOvwr9hazh57tQk7MWOHsf4jrY4SA-8U04BAvjv9nx3SDYVb3CIDkChkMEij/s1600/Pflege-Thermometer+2018+Arbeitsbelastung.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="642" data-original-width="781" height="262" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiH0b0r8AVX83KF43DgDPQpYIqYNCNvgKKkSoMULY6snL4ThEtb6tfzosa-pdvd1jqvQmdIcfaZ0o8us7YDmOvwr9hazh57tQk7MWOHsf4jrY4SA-8U04BAvjv9nx3SDYVb3CIDkChkMEij/s320/Pflege-Thermometer+2018+Arbeitsbelastung.jpg" width="320" /></a></div>
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Nicht nur der bereits bestehende Mangel an Personal, sondern auch die angesprochenen Veränderungen innerhalb der Pflegeheime bleiben nicht ohne Folgen für die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte. Dieser Zusammenhang wird immer noch viel zu selten gesehen und in der derzeitigen Debatte über "den" Personalbedarf berücksichtigt. Dazu aus dem Pflege-Thermometer 2018:<br />
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»Die arbeitsplatzbezogenen Anforderungen und Belastungen steigen den Einschätzungen der Leistungskräfte zufolge für das Pflegepersonal in den Jahren 2016 auf 2017 deutlich an ... Als zunehmend werden durch mindestens jede zweite Person die herausfordernden Verhaltensweisen bei Bewohner*innen, die Anforderungen bei den grund- und behandlungspflegerischen Aufgaben und der Aufwand bei der Angehörigenarbeit bzw. die Konflikte mit Angehörigen beschrieben. Eine Zusicherung von freien geplanten Zeiten stellt ein deutliches Problem dar. In gut 2 von 5 Rückmeldungen nimmt das „Einspringen“ an frei geplanten Zeiten zu und in fast jeder dritten Einrichtung steigt die die Anzahl an Sterbefällen ... Diese veränderten Anforderungen schlagen sich von 2016 auf 2017 in vermehrten gesundheitsbezogen Belastungen des Pflegepersonals nieder ... So geben 43 % an, dass die Krankheitsdauer gestiegen sei, nur 7 % beobachten hier eine Abnahme. Auch die Anzahl der Krankheitstage insgesamt bezeichnen 41 % als steigend ... 31 % der Leitungen beobachten eine zunehmende Erkrankungsschwere bei den Mitarbeitenden« (S. 67/68)<br />
<br />
Selbst das <a href="https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Pflege/Sofortprogramm_Pflege__Eckpunkte.pdf" target="_blank">Eckpunktepapier Sofortprogramm Kranken- und Altenpflege</a> des Bundesgesundheitsministeriums beginnt mit einer Feststellung, zu was das alles führt: »In den letzten Jahren ist es zu einer enormen Arbeitsverdichtung und damit -belastung für hunderttausende Beschäftigte in der Alten- und Krankenpflege gekommen. In einer gefährlichen Spirale aus zunehmender Belastung, in der Folge davon nicht selten einem Ausstieg von Pflegekräften aus dem Beruf, damit weiter steigenden Belastungen für die verbliebenen Kräfte, hat sich die Situation immer weiter zugespitzt. Im ganzen Berufsstand ist eine tiefe Vertrauenskrise zu spüren.«<br />
<br />
Auch das "Pflege-Thermometer 2018" macht Aussagen zum Thema Personalbedarf in der Altenpflege - und solche Zahlen werden dann gerne von den Medien aufgegriffen.<br />
<br />
»Der zusätzliche Bedarf an Pflegefachkräften in der stationären Altenhilfe wird in der vorliegenden Studie deutlich. Insgesamt waren im Mittel in den erfassten Einrichtungen mit einer Rückmeldung zum 30. Oktober 2017 für die Pflegearbeit 1,6 Stellen pro Einrichtung nicht besetzt – der größte Anteil an offenen Stellen findet sich mit einer Vollzeitstelle bei den Altenpflegefachkräften. Fehlendes Personal wird dabei auch durch Leasingfirmen ersetzt. In 21,2 % der Einrichtungen arbeiteten zum Zeitpunkt der Befragung Beschäftigte von externen Dienstleistern.« (S. 64)<br />
<br />
Hier wird u.a. über eine für den einen der anderen irritierenden Entwicklung berichtet - die Zunahme der Leiharbeit in der Altenpflege. Dazu auch Thomas Öchsner, der seinen Artikel sogar unter diese Überschrift gestellt hat: <a href="http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pflegepersonal-letzter-ausweg-leiharbeit-1.3987460" target="_blank">Pflegekräfte fliehen in die Leiharbeit</a>.<br />
<br />
Das Deutsche Institut für Pflegeforschung resümiert auf der Basis der Befragungsergebnisse: Aktuell sind rund 17.000 Stellen im Pflegebereich in den Einrichtungen nicht besetzt. Zur Deckung würden rund 25.000 zusätzliche Personen benötigt, da vielfach in Teilzeit gearbeitet wird. Die Zahl von 17.000 offenen Stellen wurde sogleich dankbar von vielen Medien aufgegriffen und verbreitet, denn (nicht nur) deren Vertreter wollen immer gerne möglichst eine Zahl, mit der man ein Thema oder Problem illustrieren kann. Aber zuweilen verdeckt die eine griffige Zahl mehr als das sie uns wirklich hilft. Das kann man auch an dieser Schätzung verdeutlichen:<br />
<ul>
<li>Zum einen ist doch allen klar, dass die Schätzgröße für die derzeit bereits offenen, aus welchen Gründen auch immer nur schwer oder vielleicht gar nicht zu besetzenden Stellen nur eine Untergrenze des Erforderlichen darstellen kann. Selbst jemand wie Erwin Rüddel (CDU), der neue und gerade in Pflegekreisen mehr als umstrittene Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages wird dann in einem anderen Zusammenhang (vgl. <a href="https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland/experten-fuer-mehr-aerzte-und-pflegekraefte_aid-22876201" target="_blank">Experten für mehr Ärzte und Pflegekräfte</a>) mit solchen Zahlen in Verbindung gebracht: »Rüddel sagte, bundesweit müsse man noch mindestens 70.000 Stellen für Pflegekräfte neu besetzen.« Man achte auch hier auf die Formulierung: mindestens.</li>
<li>Ein weiteres und viel zu selten bis nie thematisiertes Problem einer Gesamtzahl: Was bringt es uns, wenn man weiß, wie viele Pflegekräfte bundesweit fehlen? Man kann damit vielleicht das Ausmaß des Problems in groben Umrissen anleuchten, man sollte aber berücksichtigen, dass es keinen nationalen Arbeitsmarkt für Pflegeberufe gibt und geben wird. Gerade viele Altenpflegekräfte sind regional oder gar lokal extrem gebunden und sie werden nicht wegen einer unter den heutigen Bedingungen vergüteten und ausgestalteten Arbeit nach München oder Frankfurt ziehen. Relevant sind also die jeweiligen Angebots-Nachfrage-Verhältnisse auf den regionalen Teilarbeitsmärkten. Das bedeutet aber eben auch, dass es keine bundesweite Lösung geben kann, so sehr man sich das auch wünschen möchte. Das erhöht natürlich die nicht gerade optimistischen Blicke auf mögliche Lösungsansätze.</li>
</ul>
Fazit: Gerade auch das "Pflege-Thermometer 2018" belegt wieder einmal neben vielen anderen Studien und Berichten, dass das Altenpflege-System immer stärker ins Rutschen geraten ist und das es uns mittlerweile unterm Hintern wegzubrechen droht. Die notwendigen großen Schneisen, die geschlagen werden müssten, lassen bei allem Sofortprogramm-Verlautbarungen weiter auf sich warten. Damit verlieren wir aber auch viel wertvolle Zeit. Das wird sich rächen, so wie wir ja auch jetzt schon die vergifteten Früchte jahreslanger Ignoranz und Vogel-Strauß-Politik im Pflegebereich serviert bekommen.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-22891290149598426712018-05-26T23:53:00.000+02:002018-06-09T11:20:55.646+02:00Wenn man versucht, der "Lohngerechtigkeit" für einige durch symbolische Politik gerecht werden zu wollen, darf man sich über die vorhergesagten Nicht-Ergebnisse nicht wundern <i>"Man muss kein Prophet sein um vorhersagen zu können, dass die tatsächlichen Auswirkungen in der betrieblichen Praxis mehr als überschaubar bleiben werden."</i><br />
<br />
So meine Schlussfolgerung in einem Beitrag vom 11. Januar 2017 über das damals auf den Weg gebrachte <a href="https://www.gesetze-im-internet.de/entgtranspg/BJNR215210017.html" target="_blank">Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG)</a>, der bezeichnenderweise so überschrieben war: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/01/8.html" target="_blank">Gerechtigkeit beim Lohn per Gesetz? Das "Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen" zwischen Hoffnung und Enttäuschung</a>. Dort findet man auch diese Bewertung: »Insofern ordnet sich das "Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern (Entgelttransparenzgesetz – EntgTranspG)" ein in die primär als symbolische Politik zu verstehenden Aktivitäten, die wir in diesem Bereich auch an anderen gesetzgeberischen Beispielen haben erfahren müssen.«<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiG8W8TB7r-Ph1OeDopL_oQhDUfpXHBTaj3HMzW4vs4HAsO-XgT23Czvclh8unXa9rBbX8RBoHupAJnjDicvpUWeEb9_GOm8MsAKQBPodXtoVEa6APAXxEiFOoUSosiwJE0kNnR50mZRUWd/s1600/Bausteine+Entgelttransparenzgesetz.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="408" data-original-width="794" height="164" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiG8W8TB7r-Ph1OeDopL_oQhDUfpXHBTaj3HMzW4vs4HAsO-XgT23Czvclh8unXa9rBbX8RBoHupAJnjDicvpUWeEb9_GOm8MsAKQBPodXtoVEa6APAXxEiFOoUSosiwJE0kNnR50mZRUWd/s320/Bausteine+Entgelttransparenzgesetz.jpg" width="320" /></a></div>
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<a name='more'></a>Und man muss diese frustriert daherkommenden Bewertungen einordnen vor einem an sich lobenswerten, zumindest nachvollziehbaren Anliegen am Ausgangspunkt dessen, was zu diesem Gesetz geführt hat: es geht hierbei um nichts geringeres als um die <b>Lohngerechtigkeit zwischen den Geschlechtern</b>. Und die wird immer wieder und auch begründet in Frage gestellt. Dies allerdings vor dem Hintergrund höchst komplizierter und vor allem struktureller Einflussfaktoren und eben nicht aufgrund der immer wieder gerne und plakativ in den öffentlichen Raum gestellten Behauptung, dass Frauen 20 Prozent weniger bekommen als Männer (vgl. dazu genauer meine kritische Auseinandersetzung in diesem Beitrag vom 18. März 2017: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/03/equal-pay-day.html" target="_blank">Wenn aus nicht falschen Zahlen falsche Ableitungen gemacht werden und die strukturellen Probleme unter die Räder der Lagerbildung kommen. Anmerkungen zum "Equal Pay Day"</a>).<br />
<br />
Aber die Vorstellung, dass Frauen für die <i>gleiche</i> Arbeit wie Männer deutlich weniger Gehalt bekommen, hat die Gesetzgebungsmaschinerie, die dann zum EntgTranspG geführt hat, in Gang gesetzt. Und der Anspruch derjenigen, die das vorangetrieben haben, ist mehr als ambitioniert: »Das Gesetz will den seit über 50 Jahren geltenden Anspruch von Frauen auf gleiches Entgelt bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durchsetzen. Es schafft neue Instrumente, um die Gleichstellung von Frauen und Männern im Erwerbsleben auch beim Lohn voranzutreiben.« So eine <a href="https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/gesetz-fuer-mehr-lohngerechtigkeit-beschlossen/113440" target="_blank">Stellungnahme</a> aus dem Bundesfamilienministerium bei der Verabschiedung des Gesetzes.<br />
<br />
Und die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) wurde mit diesen Worten von ihrem Haus zitiert: »Nun ist der Weg frei für ein Gesetz, das ein wichtiges Tabu brechen wird: nämlich, über sein Gehalt zu sprechen. Der Gesetzesentwurf schafft mehr Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern - und zwar über Transparenz von Gehalts- und Entgeltsystemen. Mit dem individuellen Auskunftsanspruch, der Berichtspflicht und den Prüfverfahren wird die Unternehmenskultur verändert.«<br />
<br />
Das sind schon hohe Ansprüche - an denen man sich natürlich auch messen lassen muss. Das gilt selbstverständlich ebenfalls für die Kritiker dieses Produktes aus der ganz eigenen Welt der symbolischen Politik (die aber durchaus neben geringen bis gar keinen Nutzen eine Menge Aufwand verursachen kann, der von den Betroffenen dann ausgebadet werden muss). Und ich hatte <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/01/8.html" target="_blank">in meinem Beitrag im Januar 2017</a> mit Blick auf die zentralen Bausteine des EntgTranspG (dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags) ausgeführt, »dass auch mit diesem Gesetz die postulierte Lohnungerechtigkeit nicht für alle, sondern nur für bestimmte Arbeitnehmer/innen (möglicherweise) verbessert oder gar hergestellt werden kann: Das Gesetz gilt nur für die Beschäftigten, die in Unternehmen mit mehr als 200 Arbeitnehmern tätig sind. Alle anderen - und das ist die Mehrheit der Beschäftigten - haben von den Regelungen nichts. Ganz am Anfang des Prozesses, der zu dem nunmehr verabschiedeten Gesetzentwurf geführt hat, war mal beabsichtigt gewesen, dass die Regelungen für Betriebe mit sechs und mehr Beschäftigten gelten sollte. Mit der Begrenzung auf die großen Unternehmen hat man dem Ansatz einen großen Zahn einschließlich Wurzel gezogen.«<br />
<br />
Um es auf den Punkt zu bringen: Man hat einen <i>individuellen Auskunftsanspruch</i> eingeführt, aber nur für Beschäftigte in großen Unternehmen, also ab 200 Arbeitnehmern. Und dann, wenn man feststellt, dass man ungerecht vergütet wird? Und der eigene Arbeitgeber das nicht ändern will? Die betroffene Arbeitnehmerin müsste ihren Arbeitgeber <i>individuell</i> verklagen. So auch die Ministerin Schwesig damals: Das neue Gesetz »werde Frauen helfen, ihre Ansprüche durchzusetzen. Das reiche bis hin zur Klage vor Gericht«. Jetzt muss man nur noch eins und eins zusammenzählen.<br />
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Dann verwundert es eben nicht, wenn man nun mit solchen Nachrichten konfrontiert wird:<br />
<a href="http://www.sueddeutsche.de/karriere/gehaltsunterschiede-wer-verdient-was-1.3991882" target="_blank">Wer verdient was?</a>, so ist ein Artikel von Alexander Hagelücken und Thomas Öchsner in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 26. Mai 2018 überschrieben: »Frauen fühlen sich verglichen mit ihren männlichen Kollegen oft unterbezahlt. Zu Recht? Seit Anfang des Jahres können Beschäftigte bei ihrem Arbeitgeber nachbohren. Doch das tun nur wenige – wohl auch, weil sie Nachteile befürchten.«<br />
<br />
Daraus nur einige, erwartbare Befunde: Das neue Entgelttransparenzgesetz wird von Arbeitnehmern kaum genutzt. Das zeigt eine Umfrage unter großen deutschen Unternehmen. Selbst Konzerne mit mehr als 100.000 Mitarbeitern erhielten bislang weniger als 20 Anfragen.<br />
<br />
»Die Deutsche Post, Henkel, Bosch, Audi, Continental und die Deutsche Bahn zählen zum Beispiel weniger als 20 Anfragen. Bei Siemens waren es unter 100. Bei RWE gab es genau eine Anfrage einer Frau - und bei Aldi Süd nicht eine einzige. Etwas größer war das Interesse, das meist von Frauen kommt, nur bei der Allianz (293 Anfragen), der Deutschen Telekom (120) und bei der Deutschen Bank mit 164 im ersten Quartal. Gemessen an der Anzahl der Mitarbeiter in Deutschland passiert also wenig.«<br />
<br />
Und bei den von der Süddeutschen Zeitung befragten 20 Unternehmen gab es bisher nach eigenen Angaben genau null Klagen.<br />
<br />
Das alles wurde erwartet und das wird sich auch nicht wirklich ändern. Und <u><i>dieses</i></u> Gesetz hätte man sich sparen können, dafür gab es aber auch schon vorher ausreichend Hinweise. Aber man darf wetten, dass es bleiben wird, allein schon wegen des beeindruckenden Titels: Entgelttransparenzgesetz. Das symbolisiert symbolische Politik in einem Wort.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-73943455318207985042018-05-25T23:50:00.000+02:002018-06-09T11:23:10.988+02:00Die gesellschaftliche Polarisierung schreitet voran. Eine zunehmende soziale Ungleichheit im Spiegel neuer Befunde<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh82J9UrTHgtL-Wxhtxo5-1vM3oxc2Bs1YDLBMGWZObjB86lLdpxDxMw6ut5C1Slqd2iNN3p4Z25DWlJprRo-AXMRvZnaHQTvG-Dd3EgQD_wZh6VxKfYWBAgByYZu7bRo6d0EiVQnb8CTjT/s1600/DIW+EInkommensentwicklung.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="639" data-original-width="1276" height="160" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh82J9UrTHgtL-Wxhtxo5-1vM3oxc2Bs1YDLBMGWZObjB86lLdpxDxMw6ut5C1Slqd2iNN3p4Z25DWlJprRo-AXMRvZnaHQTvG-Dd3EgQD_wZh6VxKfYWBAgByYZu7bRo6d0EiVQnb8CTjT/s320/DIW+EInkommensentwicklung.jpg" width="320" /></a></div>
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Wir kennen das Muster der offiziellen Erzählung: immer neue Rekordwerte beim Abbau der registrierten Arbeitslosigkeit, noch nie so viele Beschäftigte (gemessen an den Erwerbstätigen), sprudelnde Steuer- und Beitragseinnahmen des Staates und des Parafiskus. "Uns" geht es gut, "wir" leben auf der Sonnenseite. Dieses Narrativ wird nur hin und wieder, allerdings nachhaltig gestört durch die Nörgeleien der Berufspessimisten, die von "steigender Armut", "zunehmender Ungleichheit" und anderen unangenehmen Dingen berichten, die sie angeblich für Deutschland diagnostizieren müssten. Auch wenn man dann gerne Mainstream-Ökonomen in Anspruch nimmt, die zu "beweisen" versuchen, dass alles besser geworden ist und das für alle - es bleiben viele irritierende und die angebliche Erfolgsstory doch relativierenden Berichte über zahlreiche und sich auch verschärfende Probleme in den unteren Etagen der Gesellschaft, in denen man sich wahrhaft abstrampeln muss, um über die Runden zu kommen.<br />
<a name='more'></a><br />
In dieses Horn stößt auch Thomas Fricke mit seinem Beitrag <a href="http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/deutschland-das-gefaelle-arm-reich-erreicht-neuen-rekord-a-1208343.html" target="_blank">Schlimmer als in Amerika</a>, in dem er behauptet, »das Gefälle zwischen Besserverdienern und Billigarbeitern erreicht im aktuellen Aufschwung einen Rekord. Und das Drama ist: Die Folgen werden bei uns immer weniger aufgefangen.« Das ist starker Tobak.<br />
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Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die von vielen optimistischen Experten immer wieder vorgetragene These, dass die Ungleichheit der Einkommen seit 2005 angeblich nicht mehr zugenommen habe. »Umso mehr haben es erste Schätzungen in sich, nach denen das Gegenteil zu passieren scheint - und die Einkommen mitten im gelobten deutschen Aufschwung weiter auseinandergedriftet sind ... mit womöglich dramatischen Konsequenzen: Denn die Schätzungen nähren die Vermutung, dass das Auseinanderdriften heute zugleich weniger durch staatliche Transfers kompensiert wird, als dass das früher der Fall war - eine Spätfolge der Reformpanik in Deutschland; als das Land nach Diagnose der Ökonomiepäpste angeblich an zu viel Gerechtigkeit zugrunde zu gehen drohte.«<br />
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Fricke bezieht sich in seiner Argumentation auf den <b>Gini-Koeffizienten</b> - »eine Art kollektiver Body-Mass-Index fürs finanzielle In-die-Breite-Gehen der Nation. Der Gini-Koeffizient liegt bei null, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft gleich viel verdienen; bekommt ein Mitglied hingegen das gesamte Einkommen, beträgt er eins.«<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiTxtDyQ21IOqj13vgAXRZNymPpEX1fZeiQUoAgEzaq5uTdWOIeGTsxSkeqVH7VNlfeMKJkg2KdmHA7HxIhhnGJvBP74RLXGkpUGHL3bKKvKDWQOEo8zKenHkKdXRT80vkmyaJSVNTdcFWr/s1600/Milanovic+Gini.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="614" data-original-width="800" height="246" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiTxtDyQ21IOqj13vgAXRZNymPpEX1fZeiQUoAgEzaq5uTdWOIeGTsxSkeqVH7VNlfeMKJkg2KdmHA7HxIhhnGJvBP74RLXGkpUGHL3bKKvKDWQOEo8zKenHkKdXRT80vkmyaJSVNTdcFWr/s320/Milanovic+Gini.jpg" width="320" /></a></div>
<br />
Und Fricke beruft sich auf den Ungleichheitsforscher Branko Milanovic. Nach dessen Berechnungen ist der Index »2015 wieder gestiegen, dem aktuellsten Jahr der Erhebungen. Nimmt man die alleinigen (Netto-)Einkommen zum Maßstab, die am Markt und ohne Einrechnung des Zugriffs durch den Fiskus erzielt werden, liegt der Abstand zwischen Reich und Arm jetzt sogar so hoch wie noch nie in der Bundesrepublik - nachdem er ums Jahr 2010 herum für kurze Zeit geringer geworden war. Die Ungleichheit ist heute also größer als vor dem Aufschwung. Nach Milanovics Berechnung liegen Besser- und Schlechter-Verdienende in Deutschland sogar weiter auseinander als in den USA.« Aber zwischen Markteinkommen und dem tatsächlich verfügbaren Einkommen liegen sozialstaatliche Welten. Dazu Fricke: »Nach Steuern und Transfers liegen die tatsächlich verfügbaren Einkommen in Deutschland nach wie vor weniger stark auseinander als etwa in den USA (anders als bei den Markteinkommen ...). Nur gilt das seit der Jahrtausendwende immer weniger.«<br />
<br />
Fricke zieht eine relevante Grenze im Jahr 2000: »Bis etwa ins Jahr 2000 wurde der drastische Anstieg der Abstände zwischen den Einkommen im Grunde vollständig dadurch ausgeglichen, dass die Top-Verdiener mehr Steuern zahlten und Geld zu denen transferiert wurde, die zu den Verlierern zählten. Das weit moderatere Gefälle bei den verfügbaren Einkommen blieb trotz zunehmender Kluft am Markt in etwa gleich ... Vorbei: Seit 2000 nimmt der Abstand zwischen den verfügbaren Einkommen ähnlich stark zu, wenn die Einkommen - vor Umverteilung - auseinandergehen. Ausgleich kaputt.«<br />
<br />
Wie konnte es dazu kommen? »Ein Grund dürften die Steuerreformen seit Ende der Neunzigerjahre sein ... Damals wurden Spitzensteuersätze gesenkt und obere Einkommen vor allem entlastet. Und danach auch die eine oder andere Sozialleistung gekürzt. Werbeslogan: Agenda 2010.«<br />
<br />
Und das DIW hat nun diesen Beitrag beigesteuert: <a href="https://www.diw.de/de/diw_01.c.584771.de/themen_nachrichten/realeinkommen_sind_in_deutschland_zwischen_1991_und_2015_gestiegen_niedrige_einkommensklassen_haben_davon_aber_nicht_profitiert.html" target="_blank">Realeinkommen sind in Deutschland zwischen 1991 und 2015 gestiegen, niedrige Einkommensklassen haben davon aber nicht profitiert</a>.<br />
»Die realen verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte sind in Deutschland im Zeitraum von 1991 bis 2015 um 15 Prozent gestiegen. Die meisten Einkommensgruppen haben davon profitiert, die untersten aber nicht.« Dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.<br />
<br />
»Unterteilt man die Bevölkerung in zehn gleich große Gruppen nach Höhe des Einkommens (Dezile), so haben die acht oberen Dezile Einkommenszuwächse erfahren – zwischen fünf Prozent für das dritte und 30 Prozent für das oberste Dezil, also die einkommensstärksten zehn Prozent. Bei den zehn Prozent der Personen mit den niedrigsten Einkommen, die monatlich im Durchschnitt real über rund 640 Euro verfügen, waren die Einkommen im Vergleich zum Jahr 1991 rückläufig; im zweiten Dezil haben sie stagniert.«<br />
<br />
Es werden mehrere Gründe für diese Entwicklung diskutiert, unter anderem die Ausweitung des Niedriglohnsektors und der wachsende Bevölkerungsanteil älterer Menschen, deren Alterseinkommen im Schnitt geringer als deren Erwerbseinkommen sind. Eine weitere Rolle spielt auch die Zuwanderung.<br />
<br />
Die Bedeutung der Zuwanderung wird auch daran erkennbar, dass der Anteil der Personen mit direktem Migrationshintergrund, die also selbst nach Deutschland zugewandert sind, an den niedrigen Einkommensgruppen zunimmt – mittlerweile liegt er in den zwei untersten Dezilen bei etwa einem Viertel. Und das hat auch Auswirkungen auf die Armutsgefährdung, wenn man die an der Armutsrisikoschwelle bemisst, definiert als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median). Diese Schwelle lag 2015 bei einem verfügbaren Nettohaushaltseinkommen von 1.090 Euro für einen Einpersonenhaushalt und die Armutsrisikoquote bei 16,8 Prozent. In den 1990er Jahren betrug diese Quote noch 11 Prozent, im Jahr 2014 knapp 16 Prozent. Aber auch hier kann man eine "innere" Polarisierung erkennen:<br />
<br />
»Ein relevanter Teil des Anstiegs, den die Armutsrisikoquote vor allem seit dem Jahr 2010 verzeichnete, ist auch hier auf die Zuwanderung zurückzuführen. Personen mit direktem Migrationshintergrund hatten im Jahr 2015 eine Armutsrisikoquote von 29 Prozent, Personen mit indirektem Migrationshintergrund (von denen mindestens ein Elternteil zugewandert ist) von 25 Prozent. In diesen Zahlen sind die Menschen, die erst im Jahr 2015 und später nach Deutschland zugewandert sind, noch nicht enthalten ... Von den Personen ohne Migrationshintergrund waren im Jahr 2015 weitaus weniger, nämlich 13 Prozent, von Armut gefährdet, im Vergleich zu zwölf Prozent im Jahr 2005 und rund zehn Prozent Mitte der 1990er Jahre.«<br />
<br />
Aber Markus Grabka vom DIW gibt richtigerweise zu bedenken: „Angesichts der stark rückläufigen Zahl von Arbeitslosen hätte man auch einen Rückgang der Armutsrisikoquote erwarten können“.<br />
<br />
Die DIW-Studie im Original: Markus M. Grabka und Jan Goebel (2018): <a href="https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.584727.de/18-21-1.pdf" target="_blank">Einkommensverteilung in Deutschland: Realeinkommen sind seit 1991 gestiegen, aber mehr Menschen beziehen Niedrigeinkommen</a>, in: DIW Wochenbericht, Nr. 21/2018, S. 450 ff.<br />
<br />
Und aus dem DIW erreicht uns diese Tage ein weiterer Hinweis auf gesellschaftliche Polarisierungsprozesse: <a href="https://www.diw.de/de/diw_01.c.100319.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen.html?id=diw_01.c.584241.de" target="_blank">Soziale Mobilität in Deutschland: Durchlässigkeit hat sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert</a>. Eine neue Studie hat die relative und die absolute <b>soziale Mobilität</b> im Berufsstatus der Jahrgänge 1939 bis 1971 in Westdeutschland untersucht. Dabei haben Sandra Bohmann und Nicolas Legewie nicht nur die absolute soziale Mobilität unter die Lupe genommen, also inwieweit sich die tatsächliche soziale Stellung im Vergleich zu den Eltern verändert hat. Sie betrachteten auch die relative soziale Mobilität, also inwiefern Kinder im Vergleich zu anderen aus der gleichen Generation besser gestellt sind, als dies bei ihren Eltern der Fall war. So können die verhältnismäßigen Aufstiegswahrscheinlichkeiten in einer Gesellschaft untersucht werden.<br />
<br />
Einige wichtige Ergebnisse:<br />
<ul>
<li>In allen untersuchten Geburtsjahrgängen stiegen absolut betrachtet mehr Personen auf als ab.</li>
<li>Hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse interessant: Männer steigen öfter ab als früher, Frauen steigen öfter auf. Bei den Frauen hat der Anteil der Aufstiege von 20 auf 32 Prozent zugenommen, bei den Männern ist er im selben Zeitraum von 50 auf 35 Prozent gesunken.</li>
<li>Und besonders relevant für das hier interessierende Thema gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse: Vor allem für untere Statusgruppe verringert sich die soziale Durchlässigkeit hinsichtlich des Berufsstatus. Eine zunehmende Durchlässigkeit von niedrigen zu hohen beruflichen Positionen konnte die Studie nicht feststellen. Und im untersten Berufsstatus schaffen gerade die jüngeren Jahrgänge immer weniger den Aufstieg.</li>
</ul>
Die Studie im Original: Nicolas Legewie und Sandra Bohmann (2018): <a href="https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.584320.de/18-20-1.pdf" target="_blank">Sozialer Auf- und Abstieg: Angleichung bei Männern und Frauen</a>, in: DIW Wochenbericht Nr. 20/2018, S. 422 ff.<br />
<br />
Ein wichtiger Aspekt beim Thema soziale Ungleichheit betrifft das <b>Wohnen</b>. Begriffe wie "Problemviertel" oder gar Ghettobildung weisen auf ausgeprägte Formen schwieriger Wohn- und Lebensverhältnisse hin. In diesem Zusammenhang meldet sich das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu Wort: <a href="https://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/arm-und-reich-jung-und-alt-immer-seltener-tuer-an-tuer" target="_blank">Arm und Reich, Jung und Alt: immer seltener Tür an Tür. WZB-Studie zeigt wachsende sozialräumliche Spaltung in deutschen Städte</a>.<br />
In einer Studie wurden für 74 Städte die Entwicklung der sozialräumlichen Segregation von 2005 bis 2014 untersucht. Arme Menschen leben in deutschen Städten zunehmend konzentriert in bestimmten Wohnvierteln. Auch junge und alte Menschen sind immer seltener Nachbarn. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in vielen deutschen Städten die Idee einer sozial gemischten Stadtgesellschaft nicht mehr der Wirklichkeit entspricht.<br />
<br />
»In gut 80 Prozent der untersuchten Städte hat seit 2005 die räumliche Ballung von Menschen, die Grundsicherung nach SGB II beziehen, zugenommen – am stärksten dort, wo viele Familien mit kleinen Kindern (unter 6 Jahren) und viele arme Menschen leben. Den höchsten Anstieg verzeichnen ostdeutsche Städte wie Rostock, Schwerin, Potsdam, Erfurt, Halle und Weimar. Zudem schreitet die sozialräumliche Spaltung in Städten schneller voran, wo eine bestimmte Schwelle der Armutssegregation bereits überschritten ist.«<br />
<br />
Marcel Helbig und Stefanie Jähnen haben in der Studie den sogenannten Segregationsindex berechnet. Dieser gibt Auskunft darüber, wieviel Prozent der SGB-II-Bezieher eigentlich in einem anderen Stadtteil wohnen müssten, um gleichmäßig verteilt in einer Stadt zu leben. In einer Reihe von Städten betrifft das zwischen 35 und 40 Prozent der Leistungsempfänger. „Dieses Niveau kennen wir bisher nur von amerikanischen Städten“, so Marcel Helbig. In 36 Städten gibt es inzwischen Quartiere, in denen mehr als die Hälfte aller Kinder von Leistungen nach SGB II leben.<br />
Die Studie zeigt aber auch, dass bestimmte Altersgruppen immer seltener Tür an Tür wohnen.<br />
<br />
Aber auch das förderte die Studie zu Tage: Die ethnische Segregation in der Mehrheit der deutschen Städte hat abgenommen. Seit 2007 ist die ethnische Segregation im Durchschnitt geringer als die soziale Segregation.<br />
<br />
Interessant ist auch dieser ambivalente Befund aus der Studie zu den privaten Grundschulen:<br />
<br />
»Für die westdeutschen Städte zeigte sich, dass die soziale Segregation dort geringer ist, wo viele private Grundschulen existieren. Dies gilt besonders in Städten mit vielen kleinen Kindern (unter 6 Jahren) und einem hohen Anteil armer Menschen (SGB-II-Bezieher). Privatschulen dämpfen also die residenzielle Segregation, wenn bessergestellte Eltern die Möglichkeit haben, nicht über einen Umzug, sondern über die Schulwahl sozialräumliche Distanz gegenüber anderen Schichten herzustellen. Dass wir einen solchen Effekt vor allem in Städten mit vielen Armen und Akademikern feststellen, unterstreicht die These der sozialen Abgrenzung durch die Wahl privater Schulen. Mittlerweile gibt es einige empirische Belege dafür, dass private Grundschulen in deutschen Großstädten besonders sozial selektiv zusammengesetzt sind.«<br />
<br />
Die Studie im Original: Marcel Helbig und Stefanie Jähnen (2018): <a href="http://v/" target="_blank">Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten</a>. Discussion Paper P 2018–001, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Mai 2018.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-32342508029963653352018-05-24T23:51:00.000+02:002018-06-09T11:27:34.032+02:00Die Tarifbindung nimmt (weiter) ab und die betriebliche Mitbestimmung verliert (weiter) an Boden<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi4EIx2z6Vc9UJywaibl5PPGtzcSYv8hZkq_zNOKY7zkqAqyDUEXhY-WrfTOS8jyJTQ7BS3GzTohYwBTzUsSzNrs54nn9j7Q-rI77_pG9_io-necj8FZPisbMA8v3SfrlbRGiELarzLBN8T/s1600/IAB+Tarifbindung.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1110" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi4EIx2z6Vc9UJywaibl5PPGtzcSYv8hZkq_zNOKY7zkqAqyDUEXhY-WrfTOS8jyJTQ7BS3GzTohYwBTzUsSzNrs54nn9j7Q-rI77_pG9_io-necj8FZPisbMA8v3SfrlbRGiELarzLBN8T/s320/IAB+Tarifbindung.jpg" width="222" /></a></div>
<br />
In der aktuellen Debatte über die Arbeitsbedingungen in der Pflege, vor allem über eine Verbesserung der Bedingungen in der Altenpflege, spielt die Tatsache, dass wir es bei vielen Einrichtungen und Diensten dort mit tariflosen Zonen zu tun haben, eine wichtige Rolle. Selbst die Große Koalition hat als Ziel ausgegeben, eine flächendeckende Tarifbindung in diesem Bereich anzustreben, um darüber die Vergütung der Altenpflegekräfte endlich verbindlich nach oben zu heben. Allerdings, das wurde hier schon in mehreren Beiträgen kritisch thematisiert, sind zahlreiche Voraussetzungen für die geforderte Allgemeinverbindlichkeit tarifvertraglicher Regelungen in der Altenpflegebranche gar nicht gegeben (vgl. dazu die genauere Darstellung in dem Beitrag T<a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/02/tariflohn-fur-alle-in-der-altenpflege.html" target="_blank">ariflohn für alle Pflegekräfte in der Altenpflege: SPD und Union sagen: kommt. Die anderen fragen sich: wie denn?</a> vom 24. Februar 2018).<br />
<br />
Neben der Tatsache, dass nur ein sehr kleiner Teil der Beschäftigten in der Altenpflege überhaupt gewerkschaftlich organisiert ist, muss man zur Kenntnis nehmen, dass viele Pflegeunternehmen keine wie auch immer geartete Tarifbindung aufweisen. Und Betriebsräte als Kernbestandteil der betrieblichen Mitbestimmung kann man hier ebenso mit der Lupe suchen. Insofern ist diese derzeit so unter medialer Beobachtung stehende Branche ein Paradebeispiel für eine generelle Problematik, um die es in diesem Beitrag hier gehen soll: die (weiter) abnehmende Tarifbindung in Deutschland und parallel dazu die (weiter) abnehmende betriebliche Mitbestimmung. Dazu hat das IAB neue Daten veröffentlicht, die man als äußerst beunruhigend bewerten muss.<br />
<a name='more'></a><br />
So stellt Susanne Kohaut in ihrem neuen Beitrag <a href="https://www.iab-forum.de/tarifbindung-der-abwaertstrend-haelt-an/" target="_blank">Tarifbindung – der Abwärtstrend hält an</a> fest: »... seit Jahren gehen die <b>Tarifbindung</b> der Betriebe und damit auch ihre Bedeutung für die Beschäftigten zurück. Gerade in Ostdeutschland ziehen es Betriebe vor, außerhalb von Tarifverträgen zu agieren.«<br />
<br />
Die Daten, mit denen sie argumentiert, stammen aus dem IAB-Betriebspanel. Dort werden seit 1996 sowohl für West- als auch für Ostdeutschland jährlich Informationen zur Tarifbindung (und zur betrieblichen Interessenvertretung) über alle Wirtschaftszweige und Größenklassen hinweg erhoben. Die aktuellen Ergebnisse beruhen auf Angaben von rund 15.500 Betrieben in beiden Landesteilen. Aufgrund des Aufbaus der Zufallsstichprobe sind die Ergebnisse repräsentativ für die rund 2,1 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.<br />
<br />
»Seit Beginn der Erhebung 1996 bis Mitte der 2000er-Jahre ist die Branchentarifbindung in ganz Deutschland stark rückläufig. In Westdeutschland bleibt der Deckungsgrad danach bis 2010 annähernd stabil, in Ostdeutschland setzt erst nach 2010 eine gewisse Stabilisierung ein. Aktuell ist in beiden Landesteilen wieder ein leichter Rückgang zu verzeichnen.« Dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags. Der generelle Rückgang muss allerdings differenziert betrachtet werden:<br />
<br />
»In der Gesamtwirtschaft ging der Anteil der Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben von 1996 bis 2017 in Westdeutschland um 21, in Ostdeutschland um 22 Prozentpunkte zurück ... Diese Entwicklung ist weitestgehend auf den Rückgang der Branchentarifbindung in der Privatwirtschaft zurückzuführen, denn die Flächentarifbindung im öffentlichen Sektor blieb im betrachteten Zeitraum weitgehend stabil.«<br />
<br />
Die Folgen dieser Entwicklung sind erheblich:<br />
<br />
»Im Jahr 2017 arbeiteten hochgerechnet rund 49 Prozent der westdeutschen und 34 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben. Firmen- oder Haustarifverträge galten für 8 Prozent der westdeutschen und 10 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten.<br />
<br />
Für rund 43 Prozent der westdeutschen und 56 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer gab es keinen Tarifvertrag. Allerdings wurde knapp die Hälfte dieser Beschäftigten (West: 50%, Ost: 45%) indirekt von Tarifverträgen erfasst, da sich die Betriebe, in denen diese Beschäftigten arbeiten, nach eigenen Angaben an den jeweiligen Branchentarifverträgen orientierten.«<br />
<br />
Allerdings muss man den letzten Punkt - dass viele Beschäftigte indirekt von Tarifverträgen erfasst werden, da sich deren Betriebe an den Branchentarifverträgen "orientieren" - realistisch einordnen, denn das bedeutet und er Praxis oftmals ganz erheblich schlechtere Bedingungen. Vgl. dazu bereits den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/06/orientierung-am-tarif-kann-auch-25-prozent-weniger-bedeuten.html" target="_blank">"Orientierung" am Tarif kann auch 25 Prozent weniger bedeuten</a> vom 27. Juni 2017.<br />
<br />
Bewegt man sich auf der Ebene der Betriebe, dann wird aufgrund der ausgeprägten Größenabhängigkeit der Tarifbindung deutlich, dass die meisten Unternehmen außerhalb der Tarifwelt agieren (können):<br />
<br />
»Von den Betrieben selbst sind derzeit hochgerechnet noch rund 27 Prozent im Westen und 16 Prozent im Osten durch Branchentarifverträge gebunden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten für jeweils 2 Prozent der Betriebe in den alten und neuen Bundesländern. Alle anderen, also etwa 71 Prozent der westdeutschen und 81 Prozent der ostdeutschen Betriebe, sind nicht tarifgebunden.«<br />
<br />
Das Fazit von Susanne Kohaut: »In Ost- wie in Westdeutschland ist die Tarifbindung seit Jahren rückläufig. Auch wenn dieser Erosionsprozess schleichend verläuft, ist der Trend als solcher eindeutig und hält nach wie vor an. Obwohl Branchentarifverträge für viele Betriebe nach wie vor als Referenzrahmen bei der Aushandlung der Löhne und Arbeitsbedingungen dienen, fehlt in diesen Betrieben die rechtliche Verbindlichkeit und die damit einhergehende Sicherheit für die Beschäftigten.«<br />
<br />
Aber es gibt neben der Welt der Tarifverträge im System der Arbeitsbeziehungen noch eine weitere ganz wichtige Dimension - die <b>betriebliche Mitbestimmung</b>. Und auch aus dieser Welt werden schlechte Nachrichten berichtet.<br />
<br />
Die neuesten Daten dazu präsentiert Peter Ellguth in seinem Beitrag <a href="https://www.iab-forum.de/die-betriebliche-mitbestimmung-verliert-an-boden/" target="_blank">Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden</a>: »Neben der Tarifbindung verliert in Deutschland auch die betriebliche Mitbestimmung an Bedeutung. Nur noch eine Minderheit der Beschäftigten, insbesondere in Ostdeutschland, arbeitet in Betrieben mit Betriebsrat.«<br />
<br />
»Die Daten des IAB-Betriebspanels zeigen deutlich: Die Verbreitung von Betriebsräten geht zurück. Der Anteil der Betriebe mit Betriebsrat (erfasst werden nur Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten, da nur diese zur Wahl eines Betriebsrats berechtigt sind) nimmt seit Anfang der 2000er-Jahre – nach bis dato uneinheitlichem Verlauf – deutlich ab. Betrug dieser Anteil im Jahr 2000, dem Jahr vor Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes, im Westen wie im Osten noch 12 Prozent, so sank er bis 2017 – wenn auch mit gewissen Schwankungen – auf 9 Prozent.«<br />
<br />
Die insgesamt niedrigen Anteilswerte werden von der großen Zahl der Kleinbetriebe bestimmt, bei denen ein Betriebsrat eher eine absolute Ausnahme darstellt. Man kann und muss bei der Bewertung der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung den Blick auf den Anteil der Beschäftigten, die in den Genuss einer betrieblichen Mitbestimmung kommen, richten, denn natürlich arbeiten viele Beschäftigten in größeren Unternehmen, die eher einen Betriebsrat aufweisen als die vielen kleinen Betriebe:<br />
<br />
»Auch dieser Anteil sank im Westen seit Mitte der 1990er Jahre von 51 auf heute 40 Prozent, im Osten von 43 auf 33 Prozent.«<br />
<br />
Ellguth erinnert daran, dass es bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 dem Gesetzgeber unter anderem darum ging, den Erosionsprozess der betrieblichen Mitbestimmung zu stoppen und durch eine Entbürokratisierung des Wahlrechts die Neugründung von Betriebsratsgremien gerade in Kleinbetrieben zu forcieren. Hier ist eine Zielverfehlung zu diagnostizieren: »Der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit 5 bis 50 Beschäftigten ..., die einen Betriebsrat haben, sank seit dem Jahr 2000 in Westdeutschland von 14 auf 9 Prozent, in Ostdeutschland von 14 auf 11 Prozent. Er ist also von einem ohnehin niedrigen Ausgangsniveau nochmals zurückgegangen.«<br />
<br />
Während in den Großbetrieben mit mehr als 500 Beschäftigten die Welt der betrieblichen Mitbestimmung gemessen an deren institutioneller Abbildung in Betriebs- und Personalräten noch in Ordnung ist und kaum Erosionsprozesse zu beobachten sind, berichtet Ellguth von bedenklichen Entwicklungen in den Betrieben mit 51 bis 500 Beschäftigten:<br />
<br />
»Denn dort fielen die Anteilswerte zwischen 2000 und 2017 von 67 auf 53 Prozent im Westen und 63 auf 48 Prozent im Osten – und damit stärker als im Durchschnitt aller Beschäftigten ... Offensichtlich verliert gerade hier die betriebliche Mitbestimmung an Boden. Bemerkenswert ist auch, dass dieser Trend in beiden Landesteilen weitgehend parallel verläuft.«<br />
<br />
Und Ellguth präsentiert auch eine notwendige Zusammenführung der beiden Dimensionen Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung - und auch hier gibt es gute Gründe für tiefe Sorgenfalten:<br />
<br />
»Nur eine Minderheit der in der Privatwirtschaft (ab fünf Beschäftigte) tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeitet in Betrieben, die zur Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretung gehören – in Betrieben also, die sowohl einen Betriebsrat haben als auch einem Branchentarifvertrag angehören. Diese Zone umfasst nur knapp ein Viertel (24 %) der Beschäftigten in Westdeutschland und gerade noch ein Siebtel (14 %) in Ostdeutschland.«<br />
<br />
Machen wir uns nichts vor - die hier mit Daten unterlegte Entwicklung ist auch ganz maßgeblich dafür verantwortlich, dass wir in den vergangenen Jahren eine massive Polarisierung bei den Einkommen aus Erwerbsarbeit zur Kenntnis nehmen mussten. Vor allem die Einkommen im unteren und mittleren Bereich haben sich auch aufgrund der beschriebenen abnehmenden Tarifbindung unterdurchschnittlich, gar nicht oder ganz unten sogar im Sinne einer Reduzierung entwickelt. Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-20755457955605928342018-05-23T19:01:00.000+02:002018-06-09T11:29:13.921+02:00Armut, Krankheit, Überlebenskriminalität - eine Studie aus Großbritannien untersucht die Folgen von Sanktionen ganz unten<i>“The outcomes from sanctions are almost universally negative."</i><br />
<i>Peter Dwyer, University of York </i><br />
<br />
Über <b>Sanktionen</b> im deutschen Hartz IV-System wurde hier ja schon <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/search/label/Sanktionen" target="_blank">in vielen Beiträgen</a> berichtet. Und das Thema ist nicht nur äußerst aufgeladen, allein schon aufgrund der Tatsache, dass hier Menschen das Existenzminimum gekürzt oder gar vollständig entzogen wird. Die Frage, ob die Sanktionen überhaupt verfassungsrechtlich zulässig sind, liegt seit geraumer Zeit auf dem Tisch des Bundesverfassungsgerichts, das sich allerdings eine Menge Zeit lässt mit einer Entscheidung, auf die viele warten, da die Politik offensichtlich kein Interesse hat, sich in der Sanktionsfrage zu bewegen.<br />
<br />
Aber es gibt auch Befürworter der Sanktionierungspraxis, die das als ein notwendiges Instrument der vielbeschworenen "Fördern und Fordern"-Philosophie der Agenda 2010 verstehen oder die schlichtweg darauf abstellen, dass man manchen Leuten eben auch mit Druck und Strafen kommen müsse, da sie sich sonst nicht einpassen lassen in die Verhaltensanforderungen einer eben nicht-bedingungslosen Grundsicherung.<br />
<br />
Auch in <b>Großbritannien</b> hat man seit vielen Jahren Erfahrungen mit der Sanktionierung von Sozialleistunxsempfängern gemacht. <b>"Welfare conditionality"</b>, also die Bindung des Zugangs zu Geld- und Dienstleistungen an die Bereitschaft der Hilfeempfänger, bestimmte Regeln und Verhaltensweisen einzuhalten und bei abweichendem Verhalten die Menschen zu sanktionieren, wurde in Großbritannien seit den 1990er Jahren in das soziale Sicherungssystem eingebaut, wobei sowohl die Reichweite wie auch die Intensität der Anforderungen und der Sanktionen seit 2012 dramatisch zugenommen haben.<br />
Auf dem Höhepunkt im Jahr 2013 gab es in Großbritannien mehr als eine Millionen Sanktionen. Zwischen 2010 und 2015 wurde ein Viertel aller Menschen im "jobseeker’s allowance"-System sanktioniert.<br />
<a name='more'></a><br />
Die Zahl der Sanktionen in Großbritannien ist dann bis auf 350.000 im Jahr 2016 gefallen - auch als Folge einer ganzen Reihe an kritischen Berichten, die deren Wirksamkeit in Frage gestellt und auf negative Folgewirkungen hingewiesen haben. So beispielsweise House of Commons Work and Pensions Committee (2015): <a href="https://publications.parliament.uk/pa/cm201415/cmselect/cmworpen/814/814.pdf" target="_blank">Benefit sanctions policy beyond the Oakley Review</a>, Social Security Advisory Committee (2015): <a href="https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/446891/universal-credit-priorities-for-action-ssac-july-2015.pdf" target="_blank">Universal Credit: priorities for action</a> (dazu auch der Artikel <a href="https://www.theguardian.com/society/2015/jul/26/benefit-sanctions-review-urged-amid-concern-over-regimes-effectiveness" target="_blank">Review of benefit sanctions urged amid concern over regime's effectiveness</a> von Patrick Butler) oder National Audit Office (2016): <a href="https://www.nao.org.uk/wp-content/uploads/2016/11/Benefit-sanctions.pdf" target="_blank">Benefit sanctions</a> (dazu Patrick Butler: <a href="https://www.theguardian.com/society/2016/nov/30/benefits-sanctions-a-policy-based-on-zeal-not-evidence" target="_blank">Benefits sanctions: a policy based on zeal, not evidence</a>).<br />
<br />
Und nun wurden die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, in der über fünf Jahre lang mehrere Hundert Antragsteller untersucht und begleitet wurden. Es handelt sich um die größte <a href="http://www.welfareconditionality.ac.uk/" target="_blank">Studie über "welfare conditionality"</a>, die es bislang in Großbritannien gegeben hat (vgl. für eine Zusammenfassung der Befunde Peter Dwyer: <a href="http://www.welfareconditionality.ac.uk/wp-content/uploads/2018/05/40414_Overview-HR4.pdf" target="_blank">Final findings: Overview</a>, May 2018). Auch darüber hat Patrick Butler berichtet: <a href="https://www.theguardian.com/society/2018/may/22/benefit-sanctions-found-to-be-ineffective-and-damaging" target="_blank">Benefit sanctions found to be ineffective and damaging</a>: »Study concludes that punishing claimants triggers profoundly negative outcomes. Benefit sanctions are ineffective at getting jobless people into work and are more likely to reduce those affected to poverty, ill-health or even survival crime.«<br />
<br />
Trotz der Behauptungen seitens der Regierung in den vergangenen Jahren, dass die rigorose Verschärfung der Konditionalität, also der Bedingungen, die man erfüllen muss, um Leistungen in Anspruch nehmen zu können (u.a. die Verpflichtung, mindestens eine 35 Stunden pro Woche -Arbeit zu suchen) dazu geführt hätte, dass die Leistungsbezieher angereizt wurden, überhaupt und schneller wieder aus dem Leistungsbezug durch Arbeitsaufnahme auszuscheiden (vgl. beispielsweise <a href="https://www.theguardian.com/politics/2016/mar/12/labour-refer-groundless-iain-duncan-smith-claim-statistics-watchdog" target="_blank">Work and pensions secretary said 75% of jobseekers think benefit sanctions have helped them ‘focus and get on’</a>), kann die neue Studie keine echten Belege für diese positive Wirkungen finden.<br />
<br />
In der Studie wird neben der generellen Überprüfung des Instrumentariums angesichts der Ergebnisse ein sofortiges Moratorium der Sanktionierung behinderter Menschen gefordert, die von der Bestrafungspraxis überdurchschnittlich betroffen sind (vgl. dazu auch Michael Savage and Donna Ferguson (2018): <a href="https://www.theguardian.com/society/2018/feb/18/disabled-people-million-benefit-sanctions-since-2010" target="_blank">More than a million benefits sanctions imposed on disabled people since 2010</a>) - »together with an urgent “rebalancing” of the social security system to focus less on compliance and more on helping claimants into work.«<br />
<br />
In den wenigen Fällen, in denen ein Übergang vom Leistungsbezug in eine nachhaltige Beschäftigung gelungen ist, waren es nicht Sanktionen, sondern die persönliche Unterstützung der Jobsuche, die als Erfolgsfaktor gewirkt hat. Trotzdem legen die Jobcenter in Großbritannien eine andere Ausrichtung an den Tag: »With few exceptions, however, jobcentres were more focused on enforcing benefit rules rather than helping people get jobs, the study found.« Und die Studie fördert Befunde die Jobcenter betreffend zu Tage, die uns in Deutschland nicht unbekannt erscheinen: Obgleich es einige Beispiele "guter Praxis" geben würde, kommt die Studie zu einem mehr als ernüchternden Befund der Angebote der Jobcenter, denn »much of the mandatory job search, training and employment support offered by Jobcentre Plus and external providers is too generic, of poor quality and largely ineffective in enabling people to enter and sustain paid work.« Und wenn die Leute in Erwerbsarbeit gewechselt sind, dann in der Regel in nicht nachhaltige Beschäftigung, was wir auch aus deutschen Jobcentern kennen:<br />
<br />
»For those people interviewed for the study who did obtain work, the most common outcome was a series of short-term, insecure jobs, interspersed with periods of unemployment, rather than a shift into sustained, well-paid work.«<br />
<br />
Die Studie beklagt die negativen Auswirkungen der Sanktionen (»including debt, poverty and reliance on charities such as food banks ... they frequently triggered high levels of stress, anxiety and depression«) - wobei die Sanktionen (auch das wird aus Deutschland immer wieder berichtet) »often imposed for trivial and seemingly cruel reasons«.<br />
<br />
Und auch das kennen wir aus Deutschland - ein Teil der Betroffenen wird einfach aus dem System gekickt und kommt dann auch nicht mehr wieder rein:<br />
<br />
»Claimants with chaotic lives – who were homeless or had addictions, for example – reacted to the “inherent hassle” of the conditionality system by dropping out of the social security system altogether. In some cases, they moved into survival crime, such as drug dealing.«<br />
<br />
Und Sanktionen treffen auch in Großbritannien die Kinder, beispielsweise die Kinder von Alleinerziehenden. Was man statt der teilweise nur als willkürlich zu bezeichnenden Bestrafungspraxis anders machen sollte, kann man diesem Zitat von Dalia Ben-Galim von der Organisation Gingerbread entnehmen: »Rather than threatening single parents with sanctions and widening the ‘conditionality’ agenda, it would be much more valuable to enable the conditions to support employment such as affordable childcare, access to flexible work and personalised support through job centres.« Das könnten wir auch in Deutschland gebrauchen.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-3106495085347828922018-05-21T23:48:00.000+02:002018-06-09T11:30:28.638+02:00Heimkinder. Kein Auslaufmodell. Ganz im Gegenteil. Und das in Zeiten des Mangels an Plätzen und Personal<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhhCl8_xuSsdgdBBlM4yBsXkVgS1tqJ_uWVXGsko7Jv1f6Cxrmjgau9P5Bt5bSQTi-OTh5Z7j8nBwFFyWZIo1fYhc100v-vk8a5eygbYoiLmj18-DB6nlu7RpMBGR9xxy6B9FS0zkDC6X9m/s1600/Jugendhilfe+Inobhutnahmen.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="539" data-original-width="850" height="204" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhhCl8_xuSsdgdBBlM4yBsXkVgS1tqJ_uWVXGsko7Jv1f6Cxrmjgau9P5Bt5bSQTi-OTh5Z7j8nBwFFyWZIo1fYhc100v-vk8a5eygbYoiLmj18-DB6nlu7RpMBGR9xxy6B9FS0zkDC6X9m/s320/Jugendhilfe+Inobhutnahmen.jpg" width="320" /></a></div>
<br />
Vor kurzem wurde hier über die beklagenswerte Situation in vielen Jugendämtern berichtet: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/05/die-jugendaemter-auf-verlorenem-posten.html" target="_blank">Die Jugendämter auf verlorenem Posten? Eine neue Studie zu einem alten Problem</a>, so ist der Beitrag vom 16. Mai 2018 überschrieben. Auslöser war eine <a href="http://www.kindervertreter.de/downloads/Pressemappe%20PK%20Studie%20ASD.pdf" target="_blank">Studie</a> der Hochschule Koblenz zu den Arbeitsrealitäten in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter.<br />
<br />
Und nun werden wir mit solchen Schlagzeilen konfrontiert: »Die Zahl der Heimkinder wächst seit Jahren stark an. Plätze und Personal sind knapp - darunter leidet die Qualität der Betreuung. Experten warnen vor einem wachsenden Risiko für Übergriffe«, so Tobias Lill in seinem Artikel <a href="http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/heimkinder-zahl-in-deutschland-waechst-seit-jahren-stark-an-a-1207610.html" target="_blank">SOS im Kinderdorf</a>. Die Zahl der Jungen und Mädchen, die von den Behörden in ihre Obhut genommen werden, ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen - das verdeutlicht auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags. Bereits seit 2006 sehen wir einen deutlichen Anstieg der Zahl der Inobhutnahmen der Jugendämter nach § 42 SGB VIII, so nennt man im Amtsdeutsch die Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien. Der überaus starke Anstieg der Inobhutnahmen in den Jahren 2015 und 2016 ist vor allem durch die "unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge", die nach Deutschland gekommen sind.<br />
<a name='more'></a><br />
Dazu hat die <a href="http://www.akjstat.tu-dortmund.de/" target="_blank">Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund DJI/TU Dortmund</a> im Dezember 2017 ausführlicher Stellung genommen: <a href="http://www.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/Analysen/HzE/Kurzanalyse_HzE2016.pdf" target="_blank">Hilfen zur Erziehung 2016 – weiterer Anstieg durch Hilfen für junge Geflüchtete</a>. Mit Blick auf die vom Statistischen Bundesamt präsentierten Zahlen für 2016 schreiben die Wissenschaftler:<br />
<br />
»Erneut haben insbesondere die Unterbringungen im Rahmen der Heimerziehung noch einmal erheblich zugenommen. Diese Entwicklung geht – wie auch schon im vergangenen Jahr – hauptsächlich auf den Anstieg unbegleiteter, vor allem männlicher minderjähriger Flüchtlinge in stationären Einrichtungen zurück ... Bei den Gründen für die Gewährung einer erzieherischen Hilfe wurde in den letzten Jahren eine Verschiebung in der Zusammensetzung der jungen Menschen in der stationären Unterbringung erkennbar. Wurden Unterbringungen im Rahmen der Heimerziehung bis 2013 hauptsächlich aufgrund einer eingeschränkten Erziehungskompetenz der Eltern bzw. Sorgeberechtigten gewährt, steht seit 2014 mit einem Anteil von 20% erstmalig die Unversorgtheit junger Menschen an erster Stelle. Bis 2016 hat sich dieser Hilfegrund noch einmal erheblich erhöht: Bei mittlerweile fast jedem zweiten jungen Menschen ist dies der Hauptgrund für die Gewährung einer Heimerziehung ... Der Anteil der männlichen Jugendlichen im Alter von 15 bis unter 18 Jahren, für die „Unversorgtheit“ als Hauptgrund für die stationäre Hilfe angegeben wurde, fällt im Jahr 2016 mit 71% sehr hoch aus. 2014 betrug dieser bereits 40%.«<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjp55-xcb77psgzruISbJZvqtA_S99YFHmj8acYpnmLrFD-TgmCFK458005wfioy7kNdB9rsShZrFlCSMUpxeRTTOEWxSLSZV_BEj_tL5kF7LMrfuHT7ei7AlXunomXZKpkw3XvCv4s75v-/s1600/Jugendhilfe+HzE+au%25C3%259Ferhalb+des+Elternhauses.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="629" data-original-width="831" height="242" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjp55-xcb77psgzruISbJZvqtA_S99YFHmj8acYpnmLrFD-TgmCFK458005wfioy7kNdB9rsShZrFlCSMUpxeRTTOEWxSLSZV_BEj_tL5kF7LMrfuHT7ei7AlXunomXZKpkw3XvCv4s75v-/s320/Jugendhilfe+HzE+au%25C3%259Ferhalb+des+Elternhauses.jpg" width="320" /></a></div>
<br />
Diese Entwicklungen schlagen sich auch nieder in den Zahlen der einzelnen Hilfearten außerhalb des Elternhauses. Besonders markant ist der Anstieg bei der Inanspruchnahme der "Heimunterbringung; sonstige betreute Wohnformen".<br />
<br />
Diese Zuwächse stoßen nun auf ein System, das bereits seit längerem unter erheblichen Druck ist. Die aktuellen Herausforderungen verdeutlicht Tobias Lill in seinem Artikel am Beispiel der <a href="http://www.sos-kinderdorf.de/portal" target="_blank">SOS-Kinderdörfer</a>, am Beispiel einer Einrichtung im oberbayerischen Dießen: »SOS-Kinderdörfer nehmen vor allem Jungen und Mädchen auf, die auf absehbare Zeit nicht mehr zu ihren leiblichen Eltern zurückkönnen. Und das ist immer öfter der Fall. "Die Anzahl der von den Jugendämtern angefragten Plätze übersteigt die Kapazitäten unserer Einrichtung deutlich", sagt Christoph Rublack, der in Dießen den Bereich der Kinderdorffamilien leitet.«<br />
<br />
Aber es sind nicht nur die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die das System fordern - der Anstieg hat ja auch schon in den Jahren vor der großen Zuwanderung stattgefunden. Das muss auch im Kontext der Debatte über Kindesmisshandlungen und Kindstötungen gesehen und eingeordnet werden: Kinder landeten heute schneller im Heim als noch vor einem Jahrzehnt, wird Michael Böwer, Professor für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, in dem Lill-Artikel zitiert: "Die Jugendämter wollen sich absichern und nicht riskieren, dass sich Fälle wie der Tod von Kevin wiederholen."<br />
<br />
2016 haben die Jugendämter fast doppelt so viele Kinder wegen Anzeichen von Misshandlung aus ihren Familien genommen als noch ein Jahrzehnt zuvor. Und: Gut 17.500 Mal begründeten die Behörden 2016 eine Inobhutnahme mit einer Überforderung der Erziehungsberechtigten - so oft wie noch nie seit mindestens 1995.<br />
<br />
Und die Fremdunterbringung hat einen eindeutigen sozialen Bias: Über die Hälfte der Minderjährigen, die in einem Heim oder einer betreuten Wohngruppe leben, kommen aus Familien, die zumindest zum Teil von Hartz IV oder Sozialhilfe leben.<br />
<br />
Und natürlich wird auch das Geld angesprochen: »Der Trend zur staatlichen Erziehung ist nicht billig: Rund 4,9 Milliarden Euro kostete die Erziehung in Heimen oder einer sonstigen betreuten Wohnform im Jahr 2016 - doppelt so viel wie ein Jahrzehnt zuvor. Mehrere Tausend Euro im Monat bekommen Heimbetreiber pro Kind von den Behörden.«<br />
<br />
An dieser Stelle bricht dann regelmäßig eine intensive und höchst emotional aufgeladene Debatte los, ob sich da nicht was verselbständigt hat, also dass die Heimbetreiber ihre ökonomischen Interessen über die der Kinder und Jugendlichen stellen, ob nicht die Jugendämter froh sind, wenn sie die "Fälle" auslagern können. Und wenn man in Rechnung stellt, dass in diesem Bereich nicht nur gemeinnützige, sondern auch privat-gewerbliche, also auf Gewinnerzielung ausgerichtete Anbieter unterwegs sind, dann kann man sich durchaus die eine oder andere Interessenskollision vorstellen.<br />
<br />
Diese Debatte kann hier nicht geführt werden. Aber selbst wenn wir einmal davon ausgehen, dass eine Fremdunterbringung der Kinder und Jugendlichen sinnvoll und angezeigt ist (und dafür kann es durchaus zahlreiche Gründe geben), dann muss das nicht nur finanziert werden, sondern es muss ausreichend finanziert werden, um eine qualitativ den Vorgaben entsprechende Betreuung der Kinder und Jugendlichen in diesem schwierigen Setting zu ermöglichen. So legt auch Lill in seinem Artikel den Finger auf eine offene Wunde: » Experten zufolge (wäre) weit mehr Geld nötig, damit Heimkinder später auch nur ansatzweise dieselben Chancen hätten wie die aus intakten Familien.«<br />
<br />
Und schon sind wir beim Thema Personal. In den stationären Einrichtungen arbeiten viele Erzieher/innen. Doch seit Deutschland Hunderttausende Kita-Plätze aus dem Boden gestampft hat (und der Bedarf weiter wächst und durch die Ausweitung der Ganztagsbetreuung an Schulen zusätzlicher Bedarf hinzukommt) und zugleich die Zahl der Heimplätze steigt, werden die Fachkräfte mehr als knapp.<br />
<br />
»Es fehle "zunehmend Personal, das bereit und qualifiziert ist, in Wechselschichten, am Wochenende und mit Nachtbereitschaften zu arbeiten", warnte bereits 2016 der Brandenburger Landesverband privater Kinderheime. Auch die kirchlichen Träger klagen über einen zunehmenden Mangel an Erziehern und Pädagogen. "Vor allem auf dem Land ist das nötige Personal kaum noch zu finden", sagt Stephan Hiller, Geschäftsführer des Bundesverbands katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen. Man habe deshalb bereits Gruppen schließen müssen.«<br />
<br />
Bundesweit waren bei der Arbeitsagentur Mitte 2017 gut 1500 offene Jobs in Kinderheimen gemeldet. Tatsächlich fehlten Tausende Stellen, da viele Träger offene Jobs wegen mangelnder Vermittlungsaussichten gar nicht mehr meldeten, heißt es bei der Bildungsgewerkschaft GEW.<br />
<br />
Die Personalsituation sei in vielen Kinderheimen "katastrophal", wird Norbert Hocke zitiert, der bei der GEW bis 2017 über drei Jahrzehnte den Bereich Jugendhilfe und Sozialarbeit geleitet hat. Und gerade hier greifen mehrere strukturelle Probleme ineinander: Neben den wenig attraktiven Arbeitsbedingungen vor allem angesichts des Schichtdienstes kommen weitere Probleme hinzu: Dass immer mehr Kinder und Jugendliche teils auch ohne Fluchthintergrund nicht oder nur unzureichend Deutsch sprechen, stellt die Pädagogen vor zusätzliche Herausforderungen. Heime müssten zunehmend "auch Mitarbeiter behalten, von denen sie wissen, dass sie nicht geeignet sind". Sie würden schlicht keinen Ersatz finden. Experten gehen von einer steigenden Zahl an Überbelegungen aus - den Jugendämtern fehlt oft die Zeit zu überprüfen, wie es in den jeweiligen Heimen eigentlich zugeht. Auch bei der Heimaufsicht fehlt häufig Personal. Das alles im Zusammenspiel gefährdet massiv die Betreuung der Kinder und Jugendlichen.<br />
<br />
Natürlich darf an dieser Stelle der Hinweis auf politische Ursachen der kritisierten Zustände nicht fehlen: »Aus Sicht von Gewerkschafter Hocke ist eine Ursache der Misere, dass die Jugendämter in der Vergangenheit bei der Auswahl zu wenig kontrolliert und zu oft die für sie günstigsten Heime bevorzugt hätten. Dies habe zu einem Unterbietungswettbewerb zwischen manchen Trägern geführt.«Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-9768804222866374282018-05-19T23:45:00.000+02:002018-06-09T11:33:10.393+02:00Die Ambivalenz der "Ein-Euro-"Arbeit im Knast und die seit Jahren offene Frage der Rentenversicherung von Strafgefangenen <div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEinjsll4fTYu6EzbCyrJuKn_ScmlUoA-VZ97kqPskolC12P_4zsQQQuHIQmpfUWJkGybFJKhotndYB8OvYdQ-OgJt3OaItfz8ugBINUHgqHw4kftUNJVLxd4-hJ0hwJBvU0tanGkhS3ksrB/s1600/Strafgefangene+Deutschland+1970-2017.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="756" data-original-width="945" height="256" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEinjsll4fTYu6EzbCyrJuKn_ScmlUoA-VZ97kqPskolC12P_4zsQQQuHIQmpfUWJkGybFJKhotndYB8OvYdQ-OgJt3OaItfz8ugBINUHgqHw4kftUNJVLxd4-hJ0hwJBvU0tanGkhS3ksrB/s320/Strafgefangene+Deutschland+1970-2017.jpg" width="320" /></a></div>
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Wer hat diese Bilder nicht vor Augen - aneinandergekettete Strafgefangene, die im Straßenbau schuften müssen. Früher war die Arbeit in „Chain Gangs“ eine besondere Bestrafung und auch die abschreckende Wirkung auf die Bevölkerung spielte eine Rolle. Nun wird man einwenden, dass das von ganz weit gestern ist. Und richtig: Vor allem in den amerikanischen Südstaaten waren die „Chain Gangs“ früher weit verbreitet - bis sie bereits 1955 im ganzen Land abgeschafft wurden. Also fast. Denn 2012 berichtete die FAZ <a href="http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/weibliche-chain-gang-in-ketten-11802559.html" target="_blank">mit einer Fotostrecke</a> über Maricopa County in Arizona. Dort wurden die aneinandergeketteten Arbeitstrupps im Jahr 1995 wieder eingeführt - für weibliche Strafgefangene. Ansonsten spielt die Arbeit der Strafgefangenen im US-amerikanischen Strafvollzug eine weiterhin wichtige Rolle und angesichts der quantitativen Ausmaße - derzeit sitzen mehr als 2,2 Millionen Menschen in US-Gefängnissen, das ist fast ein Viertel der weltweit Inhaftierten - überrascht es denn auch nicht, dass deren Billigst-Arbeit auch eine enorme ökonomische Bedeutung hat. Bis hin zu nur auf den ersten Blick skurrilen Aspekten wie der Unverzichtbarkeit der Knacki-Arbeit bei der Bekämpfung der Waldbrände in Kalifornien (dazu der Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2014/11/18-kalifornien.html" target="_blank">Ein sehr spezielles Billiglohnmodell in den USA: Warum man in Kalifornien Gefangene nicht vorzeitig aus dem Knast lassen möchte und was das mit den Waldbränden und ihrer Bekämpfung zu tun hat</a> vom 18. November 2014). Nun sind die Verhältnisse in Deutschland, was den Strafvollzug angeht, wahrlich andere als in den USA. Nicht nur hinsichtlich der Haftbedingungen, sondern allein schon aufgrund der quantitativen Dimensionen.<br />
<a name='more'></a><br />
Die Zahl der Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in Deutschland ist in den zurückliegenden Jahren bis vor kurzem gesunken - von 61.878 im Jahr 2009 auf nur noch 50.858 in 2016. Das entspricht einem Rückgang von 18 Prozent. Seit 2017 stiegt die Zahl der Gefangenen wieder an. Vgl. dazu auch die Meldung <a href="http://www.spiegel.de/panorama/justiz/gefaengnisse-in-deutschland-sind-offenbar-in-allen-bundeslaendern-ueberlastet-a-1204630.html" target="_blank">In deutschen Gefängnissen wird der Platz knapp</a> aus dem April 2018: Eine Umfrage »bei den Justizministerien der 16 Bundesländer ergab eine Auslastung von bis zu 100 Prozent, so etwa in Baden-Württemberg. In Bayern, Rheinland-Pfalz, Berlin, Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz lag die Auslastung demnach im vergangenen Jahr im Durchschnitt bei deutlich über 90 Prozent. Fachleute sprechen dem Bericht zufolge schon bei einer Auslastung von 85 bis 90 Prozent von Vollbelegung.« Wobei das nicht nur mit steigenden Zahlen inhaftierter Menschen zusammenhängt, sondern auch und vor allem mit dem Abbau an Platzkapazitäten, um Kosten zu sparen, die von den Bundesländern finanziert werden müssen und die mit insgesamt gut vier Milliarden Euro nicht unerheblich sind.<br />
<br />
Und immer wieder geht es beim Thema Strafvollzug um Arbeit. Um die Arbeit im Knast. Und das ist eine höchst ambivalente Angelegenheit. Vereinfacht gesagt geht es um das Spannungsverhältnis von Arbeitspflicht (von manchen auch als "Zwangsarbeit" tituliert) und der Verwertung der Arbeitskraft der Gefangenen zu überaus günstigen Bedingungen für auftragegebende Unternehmen aus der Privatwirtschaft oder die öffentliche Hand, auf der anderen Seite steht der Aspekt, dass Arbeit eine ganz wichtige Rolle spielt für die Strukturierung des Alltags während des Vollzugs, aber auch für das (proklamatorische) Ziel des Strafvollzugs, also der Resozialisierung. Und das bedeutet im Sinne einer Vorbereitung auf ein Leben nach dem Knast die Vorbereitung auf das Erwerbsleben, auf die Anforderungen des heutigen Erwerbsarbeitsmarktes. Und in den Gefängnissen, das sei hier hervorgehoben, werden auch Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten eröffnet. Man kann sicher sagen: Ohne Arbeitsangebote würden viele Insassen ganz erheblich schlechter dastehen, gerade in der Zeit einer teilweise viele Jahre umfassenden Inhaftierung.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEikwmo4KTsn1OoBiPsRr7UB3kQPzGpJqfi42Wb-IUI9150qwshNZcebQQNZecEgk0hITIMed-7naaaMyJp-xQlxtLj1eRpL3goXdWeeteGZmvb_tT0RgJuzTj45MTaBWj0J4z7ZSTR0eh8T/s1600/Strafgefangene+Bescha%25CC%2588ftigungsquoten+2016.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="826" data-original-width="650" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEikwmo4KTsn1OoBiPsRr7UB3kQPzGpJqfi42Wb-IUI9150qwshNZcebQQNZecEgk0hITIMed-7naaaMyJp-xQlxtLj1eRpL3goXdWeeteGZmvb_tT0RgJuzTj45MTaBWj0J4z7ZSTR0eh8T/s320/Strafgefangene+Bescha%25CC%2588ftigungsquoten+2016.jpg" width="252" /></a></div>
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»Den ganzen Tag in der Zelle dösen? In Gefängnissen wird produziert und Häftlinge holen Abschlüsse nach - in der Hoffnung auf eine spätere Chance auf dem Arbeitsmarkt. Ihr Lohn beträgt aber nur ein Bruchteil des Mindestlohns.«<br />
<br />
So beginnt beispielsweise dieser im Februar 2018 publizierte Artikel: <a href="http://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/im-gefaengnis-so-arbeiten-gefangene-hinter-gittern-a-1195399.html" target="_blank">Häftlinge arbeiten hinter Gittern</a>.<br />
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»Viele Häftlinge arbeiten ... in deutschen Gefängnissen für gewerbliche Auftraggeber. Im Saarland, wo der Großteil der Gefangenen in Fremdbetrieben beschäftigt ist, erbringen sie etwa für die Automobilzuliefer- und Luftfahrtindustrie Teilleistungen, wie das dortige Justizministerium mitteilt. In Niedersachsens Gefängnissen werden rund 33 Prozent des Umsatzes mit solchen Unternehmerkunden erzielt.<br />
Man könne gar nicht alle Aufträge annehmen, erzählt der Leiter der JVA Kaisheim, Peter Landauer: "Werbemaßnahmen haben wir mittlerweile eingestellt. Schusterei, Schlosserei, Gärtnerei und die anderen Betriebe haben im vergangenen Jahr mehr als vier Millionen Euro erwirtschaftet. In allen bayerischen Gefängnissen zusammen betrug der Umsatz 41,5 Millionen Euro.«<br />
<br />
Nur wenige Unternehmen gehen mit Aufträgen an den Strafvollzug offen um. Der Autobauer Daimler erklärt, man begrüße und unterstütze Resozialisierungsmaßnahmen. Man vergebe „seit Jahren in Abstimmung mit den jeweiligen Behörden und nach entsprechender Ausschreibung geringfügig Lohnarbeiten auch an Strafanstalten“. Auch der Gartengerätehersteller Gardena und der Autokonzern Volkswagen lassen in JVAs fertigen. Sie alle profitieren von der Knastarbeit. Die Produktionskosten sind niedrig und die Arbeitskraft kann flexibel ein- und abbestellt werden. Das kann man diesem Artikel von Anna Ernst entnehmen: <a href="https://www.waz.de/wirtschaft/wie-strafgefangene-im-knast-fuer-private-unternehmen-arbeiten-id213403231.html" target="_blank">Wie Strafgefangene im Knast für private Unternehmen arbeiten</a>. Ganz offensichtlich gibt es auf der Unternehmensseite Besorgnisse, dass man durch eine Diskussion über die Aufträge in die Nähe des immer wieder vorgetragenen Vorwurfs, hier würden Gefangene "ausgebeutet", geraten.<br />
<br />
Der Hintergrund für diesen Vorwurf ist die tatsächlich mehr als überschaubare Vergütung der arbeitenden Strafgefangenen. Dazu Anna Ernst: »Gefangene verdienen nur einen Bruchteil dessen, was für dieselbe Arbeit in Freiheit auf dem Gehaltszettel stünde. Je nach Qualifikation erhalten sie ein bis drei Euro in der Stunde – am Monatsende sind das oft unter 300 Euro Nettogehalt. Hinzu kommt: Beiträge zur Rentenversicherung werden nicht gezahlt. Somit droht eine gewaltige Lücke in der Rentenkasse – und im Alter eine mickrige Rente.« Dazu gleich mehr.<br />
<br />
Von Seiten der radikalen Kritiker wird hier auch der Vorwurf einer Ausbeutung über "Zwangsarbeit" in den Raum gestellt. Aber die darf es doch verfassungsrechtlich nicht geben, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwerfen. <a href="https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html" target="_blank">Artikel 12 Absatz 2 GG</a> besagt: »Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.« Dann folgt allerdings ein Absatz 3: »Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.« Also doch.<br />
<br />
Wenn man sich genauer damit auseinandersetzen will, dann lohnt ein Blick in diese Expertise der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 21.10.2016: <a href="https://www.bundestag.de/blob/483624/9e54d174c9c18bea95f3deab0d9097f8/wd-7-155-16-pdf-data.pdf" target="_blank">Arbeitspflicht für Strafgefangene – geltende Rechtslage in Deutschland, Frankreich und Spanien</a>. »Entscheidend für die Zwangsarbeit sei insbesondere die unfreiwillige Zurverfügungstellung der gesamten Arbeitskraft des Betroffenen.« In der Expertise wird auf einige Urteile des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. »In einer ... Entscheidung führte das BVerfG aus, dass Zwangs- und Pflichtarbeit nur als Mittel der verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung angeordnet werden dürften und diese angeordnete Arbeit nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel darstelle, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung finde.«<br />
<br />
Die verfassungsrechtlich zulässige „Zwangsarbeit“ wurde nach der Einführung des Strafvollzugsgesetzes im Jahr 1076 im § 41 StVollzG („Arbeitspflicht“) geregelt. Aber die bundeseinheitliche Regelung des Strafvollzugs ist mittlerweile Geschichte:<br />
<br />
»Mit der Föderalismusreform I ging die Zuständigkeit zur Regelung des Strafvollzuges und damit auch zur Regelung der Arbeitspflicht für Gefangene zum 1. September 2006 auf die Länder über. Von dieser Kompetenz haben alle Bundesländer Gebrauch gemacht. Die entsprechenden landesrechtlichen Regelungen sehen auch die prinzipielle Arbeitspflicht für Strafgefangene vor, wobei sie sich teilweise nur sprachlich von § 41 StVollzG unterscheiden. Lediglich in den Ländern Brandenburg und Rheinland-Pfalz ist abweichend hiervon festgelegt, dass Gefangenen Arbeit nur auf Antrag oder mit ihrer Zustimmung zugewiesen werden soll.«<br />
<br />
Die Bundesregierung geht davon aus, dass es 12 von 16 Bundesländer sind: »Nach Kenntnis der Bundesregierung gibt es derzeit in zwölf der 16 Länder eine Arbeitspflicht für Strafgefangene, nämlich in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen.« Das kann man dieser Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag entnehmen:<br />
<br />
Strafgefangene und ihre fehlende Einbeziehung in die Rentenversicherung, <a href="http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/012/1901229.pdf" target="_blank">Bundestags-Drucksache 19/1229</a> vom 15.03.2018<br />
<br />
In der Anfrage der Grünen wird nun der Finger auf eine seit vielen Jahren offene sozialpolitische Wunde gelegt. Aus den Vorbemerkungen der Fragesteller:<br />
<br />
»Derzeit unterliegen lediglich die Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten der Rentenversicherungspflicht, die einer Beschäftigung oder Berufsbildungsmaßnahme außerhalb der Anstalt nachgehen. Diejenigen, die in der Anstalt einer Tätigkeit nachgehen, haben nur die Möglichkeit, sich freiwillig zu versichern, und müssen die Beiträge hierfür selbst tragen, obwohl sie in der Regel zur Arbeit verpflichtet sind. Da während der Zeit der Strafhaft keine Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt werden und diese Zeit auch nicht als Berücksichtigungs-, Anrechnungs- oder Zurechnungszeit gilt, führt die Haft trotz Arbeit dazu, dass Teile der Lebensarbeitszeit für die Altersvorsorge entfallen.«<br />
<br />
Und dann wird die seit langer Zeit bestehende offene Baustelle adressiert:<br />
<br />
»Um die berufliche Integration von Strafgefangenen zu fördern und ihnen die Schaffung einer wirtschaftlichen Existenzgrundlage zu ermöglichen, war mit der Strafvollzugsreform von 1976 eine bessere Vergütung und eine umfassende Einbeziehung arbeitender Häftlinge in die Sozialversicherung vorgesehen (§§ 190 bis 193 des Strafvollzugsgesetzes – StVollzG). Diese Kernstücke des damaligen Reformkonzepts sind allerdings bis heute nicht umgesetzt. Die Vorschriften sollten durch ein besonderes Bundesgesetz in Kraft gesetzt werden (§ 198 Absatz 3 StVollzG), was aber mit Verweis auf die Belastung der Länderhaushalte nie geschehen ist.«<br />
<br />
An dieser Stelle wird sich nun der eine oder andere daran erinnern, dass das schon mal Thema war in diesem Blog. Bereits im Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2016/08/182.html" target="_blank">USA: Gefängnisse als lukrative Profitquelle, Reformimpulse des Bundes und das Aufbegehren einiger Insassen. Und bei uns?</a> vom 25. August 2016 wurde die Problematik der bis heute nicht realisierten, in den 1970er Jahren in Aussicht gestellten Rentenversicherungspflicht angesprochen und erläutert. Der Hintergrund für die jahrzehntelange Hängepartie ist zum einen die schnöde Tatsache, dass bei einer sozialversicherungsförmigen Absicherung der arbeitenden Strafgefangenen in der Rentenversicherung die Bundesländer den Arbeitgeber-Anteil an den Beiträgen entrichten müssten. Das wollen die sich sparen.<br />
<br />
Aber immer wieder wird das Thema aufgerufen. So hat der Deutsche Verein für öffentlich und private Fürsorge im Juni 2016 <a href="https://www.deutscher-verein.de/de/empfehlungenstellungnahmen-2016-empfehlungen-des-deutschen-vereins-zur-einbeziehung-von-strafgefangenen-in-die-gesetzliche-rentenversicherung-2285,842,1000.html" target="_blank">Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung</a> verabschiedet und veröffentlicht, die sich genau auf diesen vor über dreißig Jahren im Gesetz verankerten Punkt der Einbeziehung in die Rentenversicherung (§§ 190, 198 Abs. 3 StVollzG) beziehen.<br />
<br />
Auch in den Medien wird das immer wieder mal aufgegriffen - so am 8. Mai 2018 in dem Beitrag <a href="https://www.zdf.de/politik/frontal-21/billigloehne-fuer-gefangene-100.html" target="_blank">Billiglöhne für Gefangene</a> des Politikmagazins "Frontal 21" (ZDF): »In Deutschland gibt es rund 64.000 Gefangene in Justizvollzugsanstalten - die meisten von ihnen sind verpflichtet zu arbeiten. Eigentlich soll das der Resozialisierung dienen, aber inzwischen ist die Arbeit von Gefangenen vor allem ein gutes Geschäft. Zum einen profitieren Unternehmen, weil sie kostenoptimierend produzieren können, zum andern verdient daran auch der Staat. Nach Frontal 21-Recherchen erwirtschafteten die Bundesländer allein 2017 insgesamt rund 168 Millionen Euro mit der Arbeit von Gefangenen.«<br />
<br />
Das ist die eine Seite - die der Gefangenen wird aber auch angesprochen: »Doch während Wirtschaft und Staat profitieren, sind die Gefangenen doppelt gestraft: Ihr Lohn für teils hochqualifizierte Arbeit beträgt im Schnitt nur ein bis drei Euro am Tag. Doch noch viel härter trifft sie, dass nichts in die Rentenkasse eingezahlt wird, was je nach Länge der Haftstrafe zu großen Lücken führen kann. Seit Jahrzehnten versuchen Bund und Länder eine Regelung zu finden, ohne Erfolg.«<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgOfolSqO1XGTMYvEQYFu7y_Q29ADY4hcRPBSCgrIr6h28324IHeJY-Y3ryTS9wOV7LcU9eWeGAf_axE1YpTuQdrtGh7Lf7Dhxqak7G318vcVvPU9kVzdicTdkVHGOrnHxfqYZVX-Zbe4Xb/s1600/Strafgefangene+Verdienste+2016.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="914" data-original-width="650" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgOfolSqO1XGTMYvEQYFu7y_Q29ADY4hcRPBSCgrIr6h28324IHeJY-Y3ryTS9wOV7LcU9eWeGAf_axE1YpTuQdrtGh7Lf7Dhxqak7G318vcVvPU9kVzdicTdkVHGOrnHxfqYZVX-Zbe4Xb/s320/Strafgefangene+Verdienste+2016.jpg" width="228" /></a></div>
<br />
Nun muss man sich aber auch klar machen, über welche Beträge wir im bestehenden System der Gefängnisarbeit sprechen, also die Verdienste der arbeitenden Strafgefangenen. Der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen kann man entnehmen, dass sich für das Jahr 2016 folgende Beträge ergeben haben:<br />
<br />
»Tagessätze zwischen 9,41 Euro und 15,69 Euro und Stundensätze zwischen 1,18 Euro und 1,96 Euro. Der durchschnittliche Verdienst eines beschäftigten Gefangenen betrug demgemäß 12,55 Euro/Tag und 1,58 Euro/ Stunde.«<br />
<br />
Es sollte klar sein, dass sich selbst bei einer seit vielen Jahren überfälligen Rentenversicherungspflicht angesichts dieser Stundenlöhne im "Ein-Euro-Bereich" keine wirkliche Rente machen lässt. Die setzt ganz andere Verdienste als Beitragsgrundlage voraus. Das Problem haben wir doch schon bei den Niedriglöhnern immer wieder thematisiert. Und wenn selbst langjährige Mindestlöhner unter dem Grundsicherungsniveau hängen bleiben, dann wird das bei vielen Gefangenen ohne Zweifel in die gleiche Richtung gehen müssen. Irgendwie ein frustrierender Befund. Denn die Forderung, die Strafgefangenen für ihre Arbeit mit dem Mindestlohn zu vergüten, wird zwar erhoben (beispielsweise von der <a href="https://ggbo.de/" target="_blank">Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation</a>), aber derzeit findet diese Forderung keine Resonanz. Und selbst mit dem derzeitigen Mindestlohn wäre keine Rente zu erwirtschaften, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegen würde.<br />
<br />
Uwe Romanski hat in seinem Artikel <a href="https://www.dia-vorsorge.de/gesetzliche-rente/strafgefangene-schuld-und-suehne-bis-zur-rente/" target="_blank">Strafgefangene: Schuld und Sühne bis zur Rente?</a> nicht nur die Rentenversicherungs-Problematik aufgegriffen, sondern auch auf ein echtes Dilemma hingewiesen:<br />
<br />
»Die vorherrschende Begründung für das derzeitige Vorgehen klingt paradox. Sie begründet den Ausschluss Strafgefangener von der Rentenversicherung nämlich mit der fehlenden Freiwilligkeit in öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen. Diese wiederum gilt jedoch laut Sozialgesetzbuch als Grundmerkmal einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Somit verhindert eine gesetzlich gewollte Arbeitspflicht eine gesetzlich mögliche Rentenversicherungspflicht.«<br />
<br />
Aber schlussendlich wieder zurück zu der Anfrage der Grünen und der Antwort der Bundesregierung. Markus Kurth, der rentenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, hat eine <a href="http://www.markus-kurth.de/assets/uploads/180316_Kurzauswertung_KA_Strafgefangene_und_Rentenversicherung.pdf" target="_blank">eigene Auswertung</a> der Antwort der Bundesregierung vorgenommen. Darin findet man diese Hinweise:<br />
»Die ... im Strafvollzug erreichten „Arbeitsentgelte“ sind mit Blick auf die Alterssicherung ungenügend, insofern bei der Rentenberechnung ein Verdienst in Höhe des tatsächlich erzielten Einkommens angesetzt wird.« Das leuchtet ein - und sogleich taucht natürlich die Frage auf: Was wären die Alternativen? Dazu berichtet Markus Kurth mit einem besonderen Blick auf die Arbeits- und Sozialministerkonferenz, wo das ein Thema war:<br />
<br />
»Ein Vorschlag der Diskussion ... ist der einer Einführung einer fiktiven Beitragsbemessungsgrundlage in Höhe von 20 bis 30 Prozent der sozialrechtlichen Bezugsgröße (§ 18 SGB IV), die dem Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung im vorvergangenen Kalenderjahr entspricht (vgl. Frage 12; Werte für 2018: Westen: 36.540 Euro p.a., Osten: 32.340 Euro p.a.).«<br />
<br />
Und was sagt die Bundesregierung dazu?<br />
<br />
Bei der Beitragsbemessung müssten „Wertungswidersprüche in Bezug auf andere Versichertengruppen vermieden werden“. Die Bundesregierung meint damit mutmaßlich, dass eine Besserstellung insbesondere gegenüber folgenden Gruppen verhindert werden müsse: Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen (zugrundgelegt wird hier ein Wert von 80 Prozent der Bezugsgröße), Wehrdienstleistende (60 Prozent), Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohnbereich. Gleichzeitig müssten den nicht-beitragsäquivalenten Rentenleistungen (etwa Erwerbsminderungsrenten und Reha-Leistungen) angemessene Rentenbeiträge gegenüberstehen.«<br />
Fazit: Der Bund argumentiert, dass er die Meinungsbildung der Bundesländer abwarte - »wobei sie den Zeitpunkt des Endes der Verhandlungen nicht absehen könne« -, was angesichts der seit Jahrzehnten laufenden Meinungsbildung nichts anderes bedeutet als das nichts passieren wird.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-84796785233677363442018-05-17T23:52:00.000+02:002018-06-09T11:34:14.335+02:00Immer mehr kranke Arbeitnehmer werden in die Rente abgeschoben. Eigentlich sollte es anders sein. Ist es aber nichtEs gibt so einfache Grundsätze, hinter denen nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftlich sinnvolle Logik steht. "Rehabilitation vor Rente" ist so ein Leitsatz, dessen Befolgung mehr als gut begründet wäre. Bevor die Menschen in den vorzeitigen Rentenbezug abgeschoben werden, sollte man möglichst alles versuchen, um sie nach einer Erkrankung oder einem Unfall wieder in das Erwerbsleben einzugliedern. Selbst wenn man das gar nicht aus individueller Sicht betreibt, gibt es gute volkswirtschaftliche Argumente für ein solches Vorgehen.<br />
<br />
»Insgesamt sieben Institutionen in Deutschland haben die Aufgabe, gesundheitliche Einschränkungen im Vorfeld zu vermeiden, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten bzw. wiederherzustellen, die Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern sowie eine möglichst selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Zu diesen Institutionen gehören u. a. die Deutsche Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit, die Krankenkassen und die Träger der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen.<br />
<br />
Mit Blick auf den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit kommt diesen genannten Rehabilitationsträgern eine besondere Rolle zu. Denn dass sich Rehabilitation auch volkswirtschaftlich rechnet, haben verschiedene Untersuchungen immer wieder eindrücklich belegt.«<br />
<br />
So beginnt eine Kleine Anfrage der Grünen unter der Überschrift "Rehabilitation als Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit" vom 20.04.2018 (Bundestags-Drucksache <a href="http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/017/1901789.pdf" target="_blank">19/1789</a>). Darin wird auch darauf hingewiesen: »Um dem Grundsatz „Reha vor Rente“ Rechnung zu tragen, sind nach Auffassung der fragestellenden Fraktion ... weitere Anstrengungen zu unternehmen. So ist beispielsweise nicht zufriedenstellend, dass weniger als 50 Prozent der Erwerbsminderungsrentnerinnen und Erwerbsminderungsrentner zuvor eine Rehabilitationsmaßnahme in Anspruch genommen haben.« Wie wir gleich sehen werden, ist es sogar noch schlimmer.<br />
<a name='more'></a><br />
Nun liegt die Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage der Grünen vor. Sie wurde als Bundestags-Drucksache <a href="http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/020/1902041.pdf" target="_blank">19/2041</a> vom 08.05.2018 veröffentlicht. Ein gute Zusammenfassung liefert dieser Artikel von Peter Thelen: <a href="http://app.handelsblatt.com/my/politik/deutschland/erwerbsminderung-immer-mehr-kranke-arbeitnehmer-werden-in-die-fruehrente-geschickt/22571762.html?social=tw-hb_hk-li-ne-or-&ticket=ST-298066-Q57ssiXzv2AaJ0bRfDVs-ap2" target="_blank">Immer mehr kranke Arbeitnehmer werden in die Frührente geschickt</a>. Seine wichtigste Erkenntnis aus der Antwort der Bundesregierung: »Zwar gibt die Rentenversicherung immer mehr für Rehabilitation aus. Seit 2008 stiegen die Ausgaben um mehr als ein Fünftel auf 6,4 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Trotzdem landen immer noch die meisten Menschen in einer Frührente, ohne dass vorher versucht wurde, sie mit einer medizinischen Reha davor zu bewahren.«<br />
<br />
In der Anfrage der Grünen war schon die Rede davon, dass weniger als die Hälfte aller Erwerbsminderungsrentner zuvor eine Reha-Maßnahme bekommen haben. Das weniger als die Hälfte wird nun in der Antwort der Bundesregierung weiter nach unten getrieben:<br />
<br />
»Weniger als 30 Prozent der Arbeitnehmer, die 2016 erstmals eine Erwerbsminderungsrente erhalten haben, bekamen vorher eine solche Kur. In Zahlen sind das 48.744 zu 173.996.«<br />
<br />
Dabei sprechen die Daten hinsichtlich derjenigen, die eine Reha-Maßnahme in Anspruch nehmen konnten, eine ganz eigene Sprache:<br />
<br />
»Nur 15 Prozent der Arbeitnehmer, die 2013 an einer Reha teilgenommen haben, schieden anschließend aus dem Erwerbsleben aus.«<br />
<br />
Acht Prozent erhielten eine Erwerbsminderungsrente, sechs Prozent eine Altersrente, und ein Prozent verstarb. „Bei dem weitaus größten Anteil der Rehabilitanden wird das Ziel einer dauerhaften Erwerbsfähigkeit aber erreicht“, heißt es in der Antwort der Regierung. Nämlich bei 85 Prozent.<br />
<br />
»Ihnen bleibt auch erspart, dass sie wegen des vorzeitigen Rentenbeginns im Alter mit weniger Geld auskommen müssen, als wenn sie bis zur regulären Altersgrenze weitergearbeitet hätten. Die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente lag 2016 bei 704 Euro – trotz bereits beschlossener Verbesserungen.«<br />
<br />
Wobei man zu den hier angesprochenen Verbesserungen einschränkend sagen muss, dass die nur die jeweils zukünftigen Erwerbsminderungsrentner betreffen, die Bestandsfälle sind in der Vergangenheit immer leer ausgegangen - vgl. dazu ausführlicher den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/05/wie-weiter-mit-der-erwerbsminderungsrente.html" target="_blank">Wie weiter mit der Erwerbsminderungsrente? Die Bundesregierung will die verbessern, aber nur für die Zukunft und wieder nur in kleinen Schritten</a> vom 15. Mai 2017.<br />
<br />
Allein 2016 gab die Rentenversicherung 18 Milliarden Euro für Erwerbsminderungsrenten aus. Es würde mithin auch sie entlasten, wenn Arbeitnehmer mit Gesundheitsproblemen früher Hilfe bekämen. Aber wieder werden wir Zeugen, dass Prävention und Rehabilitation zwar in Sonntagsreden gehuldigt wird, aber in der praktischen Realität hinten runter fallen.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-34433654060252429252018-05-16T23:47:00.000+02:002018-06-09T11:35:58.138+02:00Die Jugendämter auf verlorenem Posten? Eine neue Studie zu einem alten ProblemSchon seit Jahren eine never-ending-story: Die Personalnöte in vielen Jugendämtern - und das bei steigenden Fallzahlen sowie Aufgaben, die nicht selten mit vielen Emotionen und Aggressionen verbunden sind. Zugespitzt formuliert: Selbst unter Normalbedingungen kann das Jugendamt nur "falsch" handeln. Nehmen wir das Beispiel Kinderschutz. Die einen beklagen, dass die Kinder zu spät oder gar nicht aus Familien, in denen sie Schaden nehmen, herausgenommen werden. Die anderen titulieren die Jugendämter als "Kinderklaubehörde" und behaupten, ganze Familien werden ungerechtfertigterweise auseinandergerissen.<br />
<br />
Unabhängig von solchen extremen Positionen kann man festhalten, dass es sich um eine schwierige, belastende und überaus fordernde Arbeit handelt, die in den Jugendämtern, vor allem in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD), geleistet werden muss. Und das unter häufig überaus problematischen Rahmenbedingungen.<br />
<br />
Ein Hotspot des seit Jahren immer wieder beklagten Fachkräftemangels und der schieren Personalnot sind die Jugendämter in Berlin. Jede achte Stelle ist nicht besetzt, in manchen Bezirken sogar jede fünfte. In den sozialen Diensten, die auch für den Kinderschutz zuständig sind, fehlen rund 100 Mitarbeiter. Das wirkt sich nicht nur auf die Familien, sondern auch direkt auf die Schulen aus. „Das Jugendamt kann sich nicht kümmern“, ist längst eine feste Redewendung unter Schulleitern, wenn es beispielsweise um renitente Schwänzer, Störer oder Schulabbrecher geht. Das ist nicht neu, sondern man kann das diesem Beitrag entnehmen, der hier am 27. Januar 2017 veröffentlicht wurde: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/01/die-groen-fehlen-die-kleinen-bleiben.html" target="_blank">Die Großen fehlen, die Kleinen bleiben auf der Strecke. Personalnot (nicht nur) in den Jugendämtern in Berlin</a>. Und im März dieses Jahres berichtete Susanne Vieth-Entus in ihrem Artikel <a href="https://www.tagesspiegel.de/berlin/personalnot-in-berlins-jugendaemtern-immer-mehr-gefaehrdete-kinder-immer-weniger-kinderschuetzer/21082474.html" target="_blank">Immer mehr gefährdete Kinder, immer weniger Kinderschützer</a> aus der Hauptstadt: »Die Zahl der gemeldeten Kinderschutzfälle hat sich seit 2012 verdoppelt. Doch die Jugendämter leiden unter Personalmangel. Jetzt schlagen die Mitarbeiter Alarm.«<br />
<a name='more'></a><br />
Diesem Artikel kann man - für Berlin - auch Zahlen entnehmen, die den Kernbereich des Kinderschutzes betreffen und die in einer neuen Studie nun bundesweit thematisiert werden:<br />
<br />
»Der bereits bestehende Personalmangel im Kinderschutz verschärft sich weiter, weil immer mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung gemeldet werden. Allein zwischen 2012 und 2016 hat sich die Zahl der sogenannten Gefährdungsmeldungen von knapp 8.800 auf 15.400 fast verdoppelt.<br />
<br />
Der drastische Anstieg gilt auch für die Fälle von latenter oder akuter Kindeswohlgefährdung. In diesem Bereich stieg die Zahl der Meldungen von 4.000 auf mehr als 8.000. Aktuell sind etwa 15 Prozent der Stellen nicht besetzt. Dies führt dazu, dass sich Mitarbeiter um mehr als 100 statt der angestrebten 65 Fälle kümmern müssen.«<br />
<br />
Das <a href="https://www.berlin.de/ba-mitte/politik-und-verwaltung/aemter/jugendamt/" target="_blank">Jugendamt Berlin-Mitte</a> hat nun gemeinsam mit der <a href="http://www.kindervertreter.de/de/" target="_blank">Deutschen Kinderhilfe</a> eine Studie in Auftrag gegeben, wie es bundesweit aussieht. Die Ergebnisse wurden am 14. Mai 2018 der Öffentlichkeit vorgestellt. Petra Boberg berichtet darüber in ihrem Artikel <a href="http://www.tagesschau.de/inland/jugendamt-kindesmissbrauch-101.html" target="_blank">Studie der Hochschule Koblenz: Wenn Eltern ihre Kinder misshandeln</a>:<br />
<br />
»13.355 Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) in Deutschland sind bei den Jugendämtern angestellt - und etlichen von ihnen fehlt es an Zeit, Wissen, Raum und oftmals auch Erfahrung. Das belegt eine repräsentative Studie der Sozialwissenschaftlerin ... Kathinka Beckmann. Die Professorin an der Hochschule Koblenz hat deutschlandweit 652 Mitarbeiter der Allgemeinen Sozialen Dienste befragt.«<br />
<br />
Die "Studie zu den Arbeitsrealitäten in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter" wurde auch vor der Bundespressekonferenz in Berlin <a href="http://www.kindervertreter.de/downloads/Pressemappe%20PK%20Studie%20ASD.pdf" target="_blank">vorgestellt</a> und hat eine enorme Resonanz in den Medien erfahren. Hier nur eine kleine Auswahl: <a href="https://www.tagesspiegel.de/berlin/studie-im-auftrag-von-berlin-mitte-ueberforderung-der-jugendaemter-beeintraechtigt-schutz-der-kinder/22134668.html" target="_blank">Überforderung der Jugendämter beeinträchtigt Schutz der Kinder</a>, so der Tagesspiegel. Die FAZ berichtet unter der Überschrift <a href="http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/studie-zeigt-jugendaemter-in-deutschland-sind-ueberfordert-15589056.html" target="_blank">Soziale Dienste der Jugendämter überfordert</a>. »Seit Jahren schon sind die Jugendämter überfordert mit der wachsenden Zahl problematischer Familien. Die Fehler liegen nicht bei den Mitarbeitern, sie liegen im System«, so Ulrike Heidenreich in ihrem Beitrag <a href="http://www.sueddeutsche.de/politik/jugendaemter-hilflos-in-die-katastrophe-1.3980238" target="_blank">Hilflos in die Katastrophe</a>, der in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. Begleitet wurde das im Fernsehen - beispielsweise mit der Doku <a href="http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/wenn-eltern-ihre-kinder-misshandeln-folge-3-100.html" target="_blank">Wenn Eltern ihre Kinder misshandeln</a> als Teil 3 der Sendereihe "Was Deutschland bewegt" sowie im Radio, so mit der Hintergrund-Sendung <a href="http://www.deutschlandfunk.de/offene-baustellen-im-jugendamt-kinder-staerken-aber-wie.724.de.html?dram:article_id=417812" target="_blank">Offene Baustellen im Jugendamt: Kinder stärken - aber wie?</a> des Deutschlandfunks.<br />
<br />
Was genau hat man sich in der Studie angeschaut? Dazu <a href="http://www.kindervertreter.de/downloads/Pressemappe%20PK%20Studie%20ASD.pdf" target="_blank">aus den Ausführungen</a> der verantwortlichen Wissenschaftlerin Kathinka Beckmann vor der Bundespressekonferenz:<br />
<br />
Als <b>Zielsetzung</b> der Studie wird angegeben, eine Ist-Zustands-Beschreibung der beruflichen Realität der Fachkräfte zu liefern und zwarmittels einer Analyse der Struktur- und Prozessqualität der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) der 563 Jugendämter in Deutschland. Zur <b>Datengrundlage</b> erfahren wir, dass es sich um eine Stichprobe handelt in Form einer Befragung von 175 der 563 Jugendämter, erreicht wurden darüber 652 von 13.355 ASDlern, die den Fragebogen mit 120 Variablen in drei Befragungswellen zwischen März und August 2017 ausgefüllt haben. Zudem wurden vertiefende Leitfadeninterviews mit zwölf Sozialarbeitern aus unterschiedlichen Bundesländern durchgeführt.<br />
<br />
Zu den Ergebnissen erfahren wir - hier konzentriert auf drei Punkte:<br />
<ul>
<li>Immer wieder die <b>Zeit</b> als zentrale Problemstelle: »Aktuell verantworten laut Kinder- und Jugendhilfestatistik insgesamt 13.355 ASD-Fachkräfte bundesweit rund 1,05 Millionen HzE, also ambulante und stationäre Maßnahmen. Hinzu kommen für die Sozialarbeitenden vor Ort die Durchführung von Inobhutnahmen, die Fallfederführung in allen Kinderschutzfällen sowie die Trennungs- und Scheidungsberatung. Auch wenn in vielen Jugendämtern in den letzten Jahren Stellen geschaffen worden sind, so geht die Fallzahlsteigerung und die damit verbundene Arbeitsverdichtung in den meisten um die Zuwächse hinaus. Eine Fallzahl von 35 laufenden Fällen ab Einsatz einer HzE hält die <a href="http://www.bag-asd-ksd.de/" target="_blank">Bundesarbeitsgemeinschaft der ASD/KSD</a> für eine Vollzeitstelle für professionell angemessen - das Forscherteam hat jedoch in vielen ASD eine sehr viel höhere Fallzahlquote (meist zwischen 50 bis 100 Fällen, in Ausnahmen auch weit über 100) angetroffen, was mit weniger Zeit vor Ort und für wichtige Gespräche mit den Kindern und Familien zwecks Fallverstehen einhergeht. Neben der Fallzahlbelastung benennen die Befragten fast ausnahmslos den gestiegenen Dokumentationsumfang als problematisch. Die Studie veranschaulicht, dass die Fachkräfte zwei Drittel ihrer Zeit mit Dokumentation am Schreibtisch verbringen statt in Gesprächen mit ihren Adressatinnen und Adressaten. Nicht allein der Umfang ist als problematisch einzustufen, viel alarmierender ist, dass drei Viertel der Befragten der Auffassung sind, dass die Dokumentation vor allem der eigenen rechtlichen Absicherung dient und weniger der professionellen Falleinschätzung.« </li>
<li>Neben der Zeit legt die Studie auch den Finger auf die Wunde <b>Raum</b>: »Das Forscherteam hat auch die räumlich-technische Ausstattung der ASD in den Blick genommen und ist in vielen auf eine unzureichende Ausstattung gestoßen. Kernaufgabe im ASD ist nicht nur das Wächteramt im Kinderschutz, sondern vor allem in familiären Konfliktsituationen zu beraten und die Betroffenen in spezifische Hilfe- und Unterstützungsangebote zu vermitteln. Bei genauerer Betrachtung wird offensichtlich, dass es in der Arbeit im ASD meist um sensible Themen und damit verbunden um sensibel zu führende Gespräche zwischen den Fachkräften und Adressatinnen geht. Die beteiligten Gesprächspartner brauchen einen geschützten Rahmen. Jedoch sehen sich gut ein Drittel der ASDler mit dem Problem konfrontiert, dass sie diesen geschützten Rahmen nicht bieten können, da sie kein Einzelbüro haben und viele auch nicht in einen Besprechungsraum ausweichen können. Zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang auch die unzureichende Ausstattung der pädagogischen Fachkräfte mit Diensthandys, da nur ein ein knappes Drittel der Befragten über ein solches verfügt. Dieser Umstand führt u.a. zu der vielfach beklagten schlechten Erreichbarkeit für die Adressatinnen und Adressaten.«</li>
<li>Und das <b>Personal</b>, nicht nur als quantitative, sondern vor allem als qualitative Größe: »In allen Feldern der Sozialen Arbeit ist seitens der Mitarbeitenden Emotionsarbeit zu leisten, doch die Arbeit im ASD unterscheidet sich vor allem durch die Komplexität des Handlungsauftrags von anderen Settings. Die einzelne Fachkraft muss bei oft nur begrenzten Einblicken in die Situation in der Lage sein, Zusammenhänge und Wechselwirkungen problematischer Lebensbedingungen von Kindern und ihren Familien zu verstehen, um auf dieser Grundlage Hilfestrategien zu entwickeln. Die ASD-Fachkräfte eröffnen oder verweigern dem Adressatenkreis sozialstaatliche Leistungen, sie ermöglichen insbesondere Kindern Schutz vor Gefahren und lösen in diesem Zusammenhang massive Eingriffe in die Privatsphäre von Familien aus. Die Einschätzung von Situationen ist also Kerngeschäft des ASD und deshalb werden dort bestmöglich qualifizierte Mitarbeiter benötigt. In diesem Kontext sind die Befunde zur Einarbeitungssituation alarmierend, da 32% der ASD kein Einarbeitungsmodell haben und bei 56% die Einarbeitungszeit kürzer als drei Monate ist. Hier stellt sich die Frage, wie die durchaus vorhandenen erfahrenen Kolleginnen und Kollegen die Berufseinsteigenden angesichts der vorgefundenen diffizilen Einarbeitungssituation adäquat vorbereiten können?«</li>
</ul>
Ganz offensichtlich haben wir es hier mit multiplen Systemproblemen zu tun und das lenkt natürlich die Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Zuständigkeit und der Verantwortlichkeit. Für die Ausstattung der Jugendämter und damit des Allgemeinen Sozialen Dienstes sind die Städte verantwortlich, an die das jeweilige Jugendamt angebunden ist. Es sei klar, dass Städte, die kein Geld hätten, kein weiteres Personal einstellen könnten, so Sozialwissenschaftlerin Beckmann. "Die Sozialarbeiter im ASD werden durch die Strukturen behindert, wirklich professionelle pädagogische Arbeit so zu leisten, wie das Kinder- und Jugendhilfegesetz es sich 1991 auf die Fahnen geschrieben hat." Dort ist klar geregelt, dass die Hilfen für Kinder immer bedarfsgerecht sein müssen. "Durch die Anbindung an die kommunale Kassenlage, das haben 54 Prozent der Befragten bestätigt, werden Entscheidungen nicht nur nach pädagogischen, sondern häufig nach finanziellen Gesichtspunkten getroffen."<br />
<br />
Zum Thema Finanzierung <a href="http://www.kindervertreter.de/downloads/Pressemappe%20PK%20Studie%20ASD.pdf" target="_blank">äußert</a> sich Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, so:<br />
<br />
»Die knappen Kassen vieler Kommunen und die 2009 gesetzlich verankerte Schuldenbremse verpflichten viele Kommunen zum Sparzwang. Die Einführung betriebswirtschaftlicher Konzepte und Vokabulare wie Kunde, Wettbewerb und Produkt beeinflussen die berufliche Praxis, die Arbeitsbedingungen sowie die Denk- und Handlungsstrukturen der Fachkräfte. Diese geraten so unter Druck, die fiskalische Haushaltssituation und die Budgetvorgaben maßgeblich bei der Wahl der Hilfemaßnahmen zu berücksichtigen ... Bundes- und Landesgesetzgeber haben den Kommunen in wachsendem Umfang Aufgaben übertragen, ohne gleichzeitig für eine entsprechend angemessene Finanzierung zu sorgen. Zusätzlich hat der Bund sein Sparziel an die Kommunen weitergegeben ... Das derzeitige System spaltet Kommunen in arme und reiche Städte bzw. Landkreise. Welche Hilfe Kinder und Jugendliche erhalten, darf jedoch nicht von ihrem Wohnort bestimmt werden.«<br />
<br />
Eine bekannte und von vielen sicher geteilte Problembeschreibung. Zur Finanzierung sei hier auf diese Zahlen vom Deutschen Städte- und Gemeindebund verwiesen, die Petra Boberg <a href="http://www.tagesschau.de/inland/jugendamt-kindesmissbrauch-101.html" target="_blank">zitiert</a>:<br />
<br />
»Allein im Jahr 2015 seien die öffentlichen Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe auf knapp 41 Milliarden Euro gestiegen - so viel wie nie zuvor, rechnet der Interessenverband der Kommunen vor. Davon fließen aber bundesweit nur 7,3 Milliarden in die Hilfen zur Erziehung, also die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Die restlichen Milliarden fließen vor allem in die Kitas. Eine "erhebliche Belastung der Kommunalhaushalte", so der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Er fordert: Der Bund solle sich an den steigenden Kosten beteiligen, da ansonsten die Kommunen bei den weiter steigenden Kosten überfordert wären.«<br />
<br />
Hier wird ein wichtiger Punkt angesprochen, der wichtig ist zum vollständigen Verständnis der Studienergebnisse: Denn die Jugendämter stehen für den Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, also die kommunale Ebene, und der ist eben nicht nur zuständig für die Hilfen zur Erziehung und den Kinderschutz, sondern auch und gerade für die Kindertageseinrichtungen sowie für die anderen Angebote aus dem Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII), von der Jugendsozialarbeit bis zu dem so wichtigen, aber in der Hierarchie des unter Knappheitsbedingungen zu leistenden Aufgaben am unteren Ende platzierten Bereich der Prävention und der niedrigschwelligen Hilfen.<br />
<br />
Mit Blick auf die vom Deutschen Städte- und Gemeindebund richtigerweise angemahnten <b>Reform der Finanzierungsarchitektur der Kinder- und Jugendhilfe</b> sei an dieser Stelle auf meinen schon vor vielen Jahren entwickelten und zur Diskussion gestellten Vorschlag einer wesentlich stärkeren und regelgebundenen Bundesfinanzierung der Kosten der Kindertagesbetreuung hingewiesen - dem "KiTa-Fonds" (vgl. dazu <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/search/label/KiTa-Fonds" target="_blank">diese Blog-Beiträge</a> sowie ausführlicher bereits Sell, S. (2014): <a href="https://opus4.kobv.de/opus4-hs-koblenz/files/74/KuJ2014-07.pdf" target="_blank">Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen. Das Modell eines „KiTa-Fonds“ zur Verringerung der erheblichen Unter- und Fehlfinanzierung der Kindertagesbetreuung in Deutschland</a>. Remagener Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 07-2014, Remagen.<br />
<br />
Mit einer substanziellen (und übrigens hinsichtlich der quantifizierbaren Nutzeneffekte auch gut begründbaren) Entlastung der Kommunen, die (noch) die Hauptfinanziers der Kindertagesbetreuung in Deutschland sind, würde erhebliche haushälterischer Druck aus diesem Themenfeld genommen werden können. Verbunden werden müsste aber ein solcher Schritt aufgrund der bekannten Umfinanzierungen im föderalen Dickicht durch klare gesetzgeberische Vorgaben beispielsweise hinsichtlich der Fallzahlschlüssel in den Jugendämtern. Viel Stoff für Diskussionen.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-64974100727428268212018-05-14T23:49:00.000+02:002018-06-09T11:37:05.208+02:00Bremen als Vorreiter. Bei der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Und das in einer Branche, die es wirklich nötig hat<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiQorPyDRT2JhvAChal4nrem0TpLKmoHWVS5TgYVJft-GFFOuVxRMD6oGyZQKWC3UuWXvxmFwKXiCQIWvgXPAQYRec_Yq3iF4EeTxwjJsFaWzw_Rsn9PapJ9mXaBzn-aQG5O2Ucgdj9QKi1/s1600/Neue+allgemeinverbindliche+Tarifvertra%25CC%2588ge+1980-2015.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="507" data-original-width="1024" height="158" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiQorPyDRT2JhvAChal4nrem0TpLKmoHWVS5TgYVJft-GFFOuVxRMD6oGyZQKWC3UuWXvxmFwKXiCQIWvgXPAQYRec_Yq3iF4EeTxwjJsFaWzw_Rsn9PapJ9mXaBzn-aQG5O2Ucgdj9QKi1/s320/Neue+allgemeinverbindliche+Tarifvertra%25CC%2588ge+1980-2015.jpg" width="320" /></a></div>
<br />
Eine der ganz großen, wenn nicht die zentrale tarifpolitische Herausforderung besteht aus der in den vergangenen Jahren beobachtbaren Tarifflucht zahlreicher Arbeitgeber. Das hat bis vor kurzem zu einer sinkenden Tarifbindung geführt. Und dann gibt es für einige Gewerkschaften ganz besonders das Problem einiger Branchen, in denen von jeher eine nur kleine Minderheit überhaupt an Tarifverträge gebunden ist - wobei es sich hierbei vor allem um bestimmte Dienstleistungsbranchen handelt, in die sich in den vergangenen Jahren aber der Schwerpunkt des Beschäftigungswachstums verlagert hat. Daraus ergeben sich Folgeprobleme, die man beispielsweise aktuell im Bereich der Altenpflege studieren kann. Viele Pflegeheime unterliegen keiner Tarifbindung und ein anderer Teil eigenen Regelwerken, den Arbeitsvertragsrichtlinien der Kirchen, die aber formal keine Tarifverträge sind, weil die kirchlich gebundenen Träger hier ein Sonderarbeitsrecht in Anspruch nehmen können, das beispielsweise einen von Gewerkschaften organisierten Arbeitskampf ausschließt.<br />
<a name='more'></a><br />
Aber in der <b>Altenpflege</b> soll ja nun alles besser werden - hat sich doch die Große Koalition darauf verständigt, dafür zu sorgen, dass die Pflegekräfte nach Tarif bezahlt werden sollen, um eine wichtige und dringend erforderliche Verbesserung eines Teils der Arbeitsbedingungen zu erreichen. Allerdings steckt der Teufel bekanntlich im Detail. Diese an sich lobenswerte Absicht wird nur funktionieren, wenn ein Tarifwerk für allgemeinverbindlich erklärt wird. Aber um das zu erreichen, sind einige wesentliche Voraussetzungen notwendig, neben der Tatsache, dass es überhaupt ein Tarifwerk gibt, das flächendeckend ausreichend verbreitet ist und einer halbwegs ausreichenden Zahl an gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten müsste auch der Tarifausschuss, in dem Arbeitgeber und Gewerkschaften sitzen, der Allgemeinverbindlicherklärung zustimmen. An anderer Stelle wurde ausführlich dargelegt, warum das gerade in der Altenpflege derzeit erhebliche, auf den ersten Blick unüberwindbare Hürden sind: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/02/tariflohn-fur-alle-in-der-altenpflege.html" target="_blank">Tariflohn für alle Pflegekräfte in der Altenpflege: SPD und Union sagen: kommt. Die anderen fragen sich: wie denn?</a><br />
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Aber auch für andere Branchen, in denen Millionen Arbeitnehmer beschäftigt sind, wird immer wieder der Ruf nach einer Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen laut, man denke hier nur an den <b>Einzelhandel</b>, wo wir übrigens eine solche Allgemeinverbindlichkeit bis zum Jahr 2000 hatten, deren Aufhebung dann das Tor zu dem geöffnet hat, was wir heute beklagen - Lohndumping und Kostenwettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/05/allgemeinverbindlichkeit-als-rettungsanker.html" target="_blank">Tarifbindung mit Schwindsucht und die Allgemeinverbindlichkeit als möglicher Rettungsanker, der aber in der Luft hängt</a> vom 9. Mai 2017).<br />
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Aber hier soll es nicht um die Altenpflege gehen und auch nicht um den Einzelhandel - sondern um eine Branche, in der es ebenfalls einen erheblichen Handlungsbedarf gibt, was die Arbeitsbedingungen und darunter die Löhne angeht: das <b>Hotel- und Gastgewerbe</b>. Dass wir es hier mit zuweilen hoch problematischen Arbeitsbedingungen zu tun haben, muss nicht wirklich weiter ausgeführt werden. Und das hier in vielen Unternehmen teilweise Niedrigstlöhne gezahlt werden, ist sicher auch hinreichend bekannt.<br />
Und schaut man sich den gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Beschäftigten im Hotel- und Gastgewerbe an, dann wird man hier sicher ganze Landstriche finden können, in denen Mitglieder der <a href="https://www.ngg.net/" target="_blank">Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)</a> wenn, dann nur in Spurenelementen vertreten sind. Was nicht ausschließlich, aber eben auch diesen Befund erklären kann: Laut der Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes sind beispielsweise im Gastgewerbe 77 Prozent der Beschäftigten in Betrieben tätig, die nicht nach Tarif vergüten.<br />
<br />
Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick nach <b>Bremen</b>. »Das Gastgewerbe im Land Bremen ist eine wachsende Branche. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze um fast 50 Prozent gestiegen. Aktuell sind fast 10.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bremer Gastgewerbe tätig. Hinzu kommen mehr als 10.000 Minijobberinnen und Minijobber.« So die Arbeitnehmerkammer Bremen in ihrem Beitrag <a href="https://www.arbeitnehmerkammer.de/service/presse/pressemitteilungen/hoehere-loehne-fuer-alle-beschaeftigten-im-bremer-gastgewerbe.html" target="_blank">Gutes Ergebnis: Höhere Löhne für alle Beschäftigten im Bremer Gastgewerbe</a>. Aber ein genauerer Blick auf die Branche trübt die quantitative Erfolgsstory, wenn man solche Informationen zur Kenntnis nehmen muss:<br />
<br />
»Trotz dieser Wachstumsdynamik ist die Einkommenssituation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bislang prekär: Das Durchschnittseinkommen eines Vollzeitbeschäftigten im Gastgewerbe ist im Branchenvergleich mit 2.080 Euro brutto monatlich mit Abstand am niedrigsten. Fast drei Viertel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten zum Niedriglohn, dies übertrifft selbst Branchen wie die Wach- und Sicherheitsdienstleistungen oder die Leiharbeit. Ein existenzsicherndes Einkommen lässt sich im Gastgewerbe selbst mit einer Vollzeitbeschäftigung oft nicht erzielen. 13 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten müssen ihr Einkommen durch staatliche Unterstützung aufstocken.«<br />
<br />
Und für viele im Gastgewerbe in Bremen tätigen Menschen ist die Realität eine Bezahlung an der Lohnuntergrenze: »Der Mitgliederbefragung "Koordinaten der Arbeit" zufolge, die die Arbeitnehmerkammer 2017 durchgeführt hat, verdient fast jeder dritte Beschäftigte im Gastgewerbe den Mindestlohn (18,5 Prozent) oder sogar weniger (12,6 Prozent). Auch dieser Wert ist im Branchenvergleich mit Abstand am schlechtesten.«<br />
<br />
Vor diesem Hintergrund wird man die besondere Bedeutung der folgenden Nachricht verstehen: Unter der auf den ersten Blick unscheinbar daherkommenden Überschrift <a href="https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-wirtschaft_artikel,-neuer-tarifvertrag-in-bremens-hotel-und-gaststaettengewerbe-_arid,1729900.html" target="_blank">Neuer Tarifvertrag in Bremens Hotel- und Gaststättengewerbe</a> berichtet Stefan Lakeband: »Der Tarifvertrag der Branche ist künftig für alle Betriebe verbindlich.«<br />
<br />
»Darauf haben sich die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und der Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) in der Hansestadt geeinigt. Ihr gemeinsam geschlossener Entgelttarifvertrag aus dem vergangenen Jahr soll bald nämlich nicht mehr nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten, die in einem Dehoga-Betrieb arbeiten, sondern für die gesamte Branche in der Hansestadt.«<br />
<br />
Von dem Entgelttarifvertrag, der am 1. April 2017 in Kraft getreten ist, haben bislang nur Beschäftigte profitieren können, deren Arbeitgeber tarifgebunden sind - die vielen anderen hingegen nicht. Bislang war es nicht-tarifgebundenen Arbeitgebern möglich, ihren Beschäftigten nur den gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro zu bezahlen. Dadurch, dass der Wirtschaftssenator den Tarifvertrag der beiden Parteien nun für allgemeinverbindlich erklärt hat, wird sich das ändern.<br />
<br />
Künftig muss jeder Beschäftigte in Hotels oder der Gastronomie mindestens 9,56 Euro bekommen. Wer eine Fachausbildung hat, für den liegt die Mindestgrenze in Bremen bei 11,51 Euro, berichtet Lakeband in seinem Artikel.<br />
<br />
„Es ist das erste Mal, dass ein ganzer Tarifvertrag allgemeinverbindlich erklärt wurde“, wird Iris Münkel zitiert, Gewerkschaftssekretärin bei der NGG. Das Land Bremen nehme damit eine bundesweite Vorreiterrolle ein.<br />
<br />
Nun könnte man meinen, dass die Arbeitgeber lautstark protestieren gegen diesen Zwangseingriff in die Tarifautonomie. Nun kann man gerade an diesem Beispiel sehen - "die" Arbeitgeber gibt es eben nicht. Es gibt solche und andere. Die Arbeitgeber, die im Arbeitgeberverband Dehoga zusammengeschlossen sind, begrüßen sogar die Maßnahme (die sie ja auch in Form eines gemeinsamen Antrags mit auf den Weg gebracht haben):<br />
<br />
»Beim Dehoga in Bremen wird die Allgemeinverbindlichkeit ebenfalls positiv gesehen. „Unseren Mitgliedbetrieben wird ein wesentlicher Wettbewerbsnachteil genommen“, sagt Hauptgeschäftsführer Thomas Schlüter. Durch die steigende Zahl an Betriebe ohne Tarifbindung sei es zu Verzerrungen am Markt gekommen. Denn diese Unternehmen hätten ihren Mitarbeitern weniger zahlen müssen und hätten somit auch ganz anders kalkulieren können.«<br />
<br />
Und Lakeband weist noch auf einen weiteren ökonomischen Aspekt hin, der für die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags spricht, gerade in den heutigen Zeiten: »Der Dehoga und die NGG hätten den Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit aber auch aus einem anderen Grund gestellt: Sie hoffen, das Hotel- und Gastgewerbe dadurch attraktiver zu machen.«<br />
<br />
Und auch das sei hier hervorgehoben: »Nach dem Antrag von Dehoga und NGG bei Wirtschaftssenator Martin Günthner (SPD) hat dieser der Allgemeinverbindlichkeit zugestimmt. Das letzte Wort hatte allerdings der Tarifausschuss in Bremen, der aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern besteht. Nach zwei Verhandlungsrunden hat die Kommission dem Antrag vergangene Woche dann zugestimmt.« Im Bremer Fall hat sich also der Tarifausschuss (in diesem Fall auf der Landesebene) für die Allgemeinverbindlicherklärung ausgesprochen.<br />
<br />
Genau das ist aber in den meisten anderen Fällen das Nadelöhr, durch das selbst gemeinsam von den betroffenen Gewerkschaften und Branchen-Arbeitgebern gestellte Anträge nicht durchkommen, denn in den Tarifausschüssen sitzen andere Arbeitgebervertreter und wenn die aus ideologischen Gründen grundsätzlich gegen mehr Allgemeinverbindlichkeit sind, dann können sie das im Tarifausschuss - selbst wenn "unten" Einigkeit besteht und Handlungsbedarf vorgetragen wird - mit ihren Stimmen im Ausschuss blockieren, denn die Mehrheit muss zustimmen, so dass die Arbeitgeberseite über eine strukturelle Blockadeoption verfügt. Dass sie die auch genutzt haben, hat sich in den vergangenen Jahren in einer deutlich rückläufigen Zahl an neuen Allgemeinverbindlicherklärungen (siehe die Abbildung am Anfang des Beitrags) manifestiert. Genau an dieser Stelle hätte die neue Große Koalition ansetzen müssen bei der Vereinbarung der Vorhaben im Koalitionsvertrag. Nur findet man dazu im Koalitionsvertrag - nichts. Rein gar nichts. Das habe ich bereits in dem Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/01/umrisse-einer-groko-neu-teil-1-arbeitsmarkt.html" target="_blank">Umrisse einer GroKo neu. Teil 1: Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht</a> vom 13. Januar 2018 entsprechend kritisiert.<br />
<br />
Insofern können wir die neue Entwicklung in Bremen in zweierlei Hinsicht bilanzieren: "Die beschlossene Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist ein wichtiger Meilenstein, um Lohndumping zu verhindern und die Branche attraktiver für Fachkräfte zu machen", so die Bewertung von Ingo Schierenbeck, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen.<br />
<br />
Und vielleicht noch weitaus bedeutsamer: "Dies kann eine Blaupause für andere Branchen sein."Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-52044194180510441612018-05-13T23:49:00.000+02:002018-06-09T13:31:26.723+02:00Soziale Selektivität der Hochschulen: Beim "Bildungstrichter" kommen von denen, die oben reinkommen, unten teilweise nur ganz wenige raus. Und man muss sich hier unten als oben denkenDer "Bildungstrichter" wird seit vielen Jahren immer wieder gerne zur Illustration der Tatsache verwendet, dass der Zugang zu Bildungseinrichtungen, vor allem zu den Hochschulen und der dort stattfindenden akademischen Ausbildung, eben nicht gleichverteilt ist über die jungen Menschen. Vor allem ist der Zugang zu diesen Bildungseinrichtungen eben nicht unabhängig vom Elternhaus, aus dem sie kommen.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgQil5N84DrFBfsZrZ3DrErOIuHQfxHPw0FiMCxeHrS8GxKjX9Up202XqfJFZpv_mrHpQHV1fNZvhCLi9HPtj4PtDRFMSKmdxsZvDUFc4j7AAmZKRCzpQWLQAYbgjlWwKxA6gIsnLtw-x5t/s1600/Bildungstrichter+2012.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="730" data-original-width="425" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgQil5N84DrFBfsZrZ3DrErOIuHQfxHPw0FiMCxeHrS8GxKjX9Up202XqfJFZpv_mrHpQHV1fNZvhCLi9HPtj4PtDRFMSKmdxsZvDUFc4j7AAmZKRCzpQWLQAYbgjlWwKxA6gIsnLtw-x5t/s320/Bildungstrichter+2012.jpg" width="186" /></a></div>
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Eine der Kernaussagen, die man beispielsweise auf den Seiten des Deutschen Studentenwerks (DSW) finden kann, <a href="https://www.studentenwerke.de/de/content/mehr-chancengleichheit" target="_blank">liest sich so</a>:<br />
<br />
»Deutschlands Hochschulsystem ist geprägt von starker sozialer Selektivität. Das zeigt der „Bildungstrichter“ aus der 20. Sozialerhebung: Von 100 Akademiker-Kindern studieren 77. Von 100 Kindern aus Familien ohne akademischen Hintergrund schaffen hingegen nur 23 den Sprung an die Hochschule.«<br />
<a name='more'></a><br />
<div>
Die Zahlen beziehen sich auf die erwähnte <a href="http://www.sozialerhebung.de/sozialerhebung/archiv/soz_20_haupt" target="_blank">20. Sozialerhebung</a> des DSW, die im Sommersemester 2012 durchgeführt und deren Ergebnisse dann 2013 veröffentlicht wurden. Die Sozialerhebung wird seit über 60 Jahren im Abstand von drei Jahren durchgeführt und bildet die soziale und wirtschaftliche Lage der Studierenden in Deutschland als jeweilige Momentaufnahme ab. Es handelt sich um eine Stichprobenerhebung. So basieren die Ergebnisse aus dem Jahr 2012 auf mehr als 15.000 ausgewerteten Fragebögen, die deutsche Studierende und studierende Bildungsinländer/innen von 227 deutschen Hochschulen ausgefüllt haben. Nun könnte man - nicht ohne Grund - an der Tatsache herummäkeln, dass die wirtschaftliche und soziale Situation der Studierenden in Deutschland auf der Basis einer solchen Stichprobe ermittelt wird - mit all den bekannten Einschränkungen, die damit verbunden sind.<br />
<br />
Nicht nur in diesem Zusammenhang ist es interessant, einen Blick zu werfen auf die Ergebnisse der letzten Sozialerhebung, die 2016 stattgefunden hat und die 2017 veröffentlicht wurde: die <a href="http://www.sozialerhebung.de/sozialerhebung/" target="_blank">21. Sozialerhebung</a>. Denn dort finden wir im <a href="http://www.sozialerhebung.de/archiv/soz_21_haupt" target="_blank">Hauptbericht</a> diese Hinweise:<br />
<br />
»Mit der 21. Sozialerhebung wurden zahlreiche Neuerungen umgesetzt ... Bis zur 20. Auflage war die Sozialerhebung eine schriftliche Befragung, d. h. die Studierenden erhielten den Papierfragebogen per Post. Die Befragung im Rahmen der 21. Sozialerhebung erfolgte erstmals als Online-Survey, zu dem die Studierenden per E-Mail eingeladen wurden. Diesem radikalen Methodenwechsel waren drei Online-Testbefragungen im Rahmen der 18., 19. und 20. Sozialerhebungen vorangestellt. Ein Hauptergebnis dieser Tests bestand in der Gewissheit, dass die vergleichsweise komplexe und auf präzise Angaben angewiesene Untersuchungsreihe auch als Online-Befragung zu vergleichbaren und belastbaren Befunden führt.<br />
<br />
Die Umstellung auf eine Online-Erhebung wurde genutzt, um die Stichprobe nennenswert zu vergrößern. Das hatte zum Ziel, auch kleinere Gruppen Studierender in für Analysen ausreichender Fallzahl einzubeziehen ... Für die 21. Sozialerhebung wurde jeder sechste Studierende, d. h. 16,7 Prozent aller Studierenden der Grundgesamtheit, in die Stichprobe aufgenommen ... Die ca. 400.000 Studierenden der Stichprobe erhielten von ihrer Hochschule eine E-Mail-Einladung mit einem individuellen, passwortgeschützten Hyperlink zum Online-Survey.«<br />
<br /></div>
</div>
Das Deutsche Studentenwerk <a href="https://www.studentenwerke.de/de/content/sozialerhebung-des-deutschen-studentenwerks" target="_blank">berichtet</a> über die neue Befragung und zur Teilnahme daran:<br />
<br />
»Im Sommer 2016 wurden 400.000 Studierende von ihren Hochschulen zur Teilnehme an der erstmalig online durchgeführten Befragung aufgefordert, um die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland erfassen zu können. Das sind etwa 17% der zurzeit 2,8 Millionen Studierenden. Die Beteiligung war mit mehr als 60.000 zurückgesandten Umfragebögen so hoch wie noch nie – an der letzten Befragung 2012 nahmen rund 16.000 Studierende teil.«<br />
<br />
Aber wieder zurück zu dem hier relevanten Thema "Bildungstrichter". Denn wenn das Gewohnte fehlt, dann fällt das bekanntlich besonders auf. So hat Jan-Martin Wiarda am 3. Juli 2017 angesichts der Veröffentlichung der neuen Sozialerhebung unter der Überschrift <a href="https://www.tagesspiegel.de/wissen/wiarda-wills-wissen-soziale-gerechtigkeit-blamiert-auch-ohne-bildungstrichter/20008788.html" target="_blank">Soziale Gerechtigkeit: Blamiert auch ohne Bildungstrichter</a> ausgeführt:<br />
<br />
»Kai Gehring vermutete Vertuschung. „BMBF beseitigt Beleg für Bildungsspaltung“, twitterte der grüne Hochschulexperte. „Angst vor bad news?“ Der „Beleg“, den Gehring in der vergangene Woche erschienen Sozialerhebung vermisste, war der so genannte Bildungstrichter. Was er zeigt: Wie groß die Chance von Grundschulkindern ist, den Weg an die Hochschule zu schaffen. In der 20. Sozialerhebung von 2012 fiel er so aus: Haben die eigenen Eltern studiert, steigen die Aussichten auf ein Studium auf das Dreieinhalbfache.<br />
<br />
Wie stark die Schieflage in der 21. Sozialerhebung ausgefallen wäre? Man kann es sich aus den vom Deutschen Studentenwerk veröffentlichten Daten zusammenreimen, doch die plakative Grafik fehlte. Methodische Gründe führt das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), das die Studie durchgeführt hat, an und verspricht das Comeback des Trichters zu gegebener Zeit. Und Johanna Wanka (CDU), deren Ressort die Sozialerhebung finanziert? Beteuert, es habe keinen politischen Einfluss gegeben.«<br />
<br />
Dennoch könne man, so Wiarda im vergangenen Jahr, einen bedenklichen Befund aus den Zahlen zusammensuchen: »52 Prozent der Studierenden stammten 2016 aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil studiert hat, nochmal zwei Prozentpunkte mehr als 2012. Immerhin!, könnte man jetzt sagen, bleibt doch fast die Hälfte Nicht-Akademikerkinder. Und man könnte hinzufügen: Ist ja auch logisch. Je mehr Leute studieren, desto mehr Akademikerkinder gibt es. Doch wer so denkt, hat es nicht kapiert. Laut einer anderen Studie, dem Bildungsbericht, haben nur 28 Prozent der Menschen zwischen 40 und 59, also die Elterngeneration von Erstsemestern, einen Studienabschluss. Es sind diese 28 Prozent, deren Kinder mehr als die Hälfte der Studienplätze besetzen.«<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj6rW5BmJc3eRTKPoN9FIMZkgjseut6g8iJCp0ajPUQgOu_xgDu_Q19eIEhBAr0RGH4x1nKy_Is5Oii9hDx3GtDeFssMZBa1xNunm4MgbDIgkOeWKQ2w0HoIPuaD6bzby13BsfUuXXV-4nv/s1600/Bildungstrichter+2016.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="609" data-original-width="1242" height="197" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj6rW5BmJc3eRTKPoN9FIMZkgjseut6g8iJCp0ajPUQgOu_xgDu_Q19eIEhBAr0RGH4x1nKy_Is5Oii9hDx3GtDeFssMZBa1xNunm4MgbDIgkOeWKQ2w0HoIPuaD6bzby13BsfUuXXV-4nv/s400/Bildungstrichter+2016.jpg" width="400" /></a></div>
<br />
Aber alles ist eine Frage der Zeit: Fast ein Jahr später, am 9. Mai 2018, veröffentlichte das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) diese Pressemitteilung mit der nicht wirklich überraschenden Botschaft: <a href="http://www.dzhw.eu/aktuell/presse/ganze_pm?pm_nr=1523" target="_blank">Bildungstrichter: Die Aufnahme eines Hochschulstudiums hängt stark von der Bildung der Eltern ab</a>. Dort müssen wir diese höchst problematischen Ungleichheitsrelationen zur Kenntnis nehmen: »Die Bildungschancen sind in Deutschland nach wie vor sehr ungleich verteilt und hängen immer noch stark vom Bildungshintergrund des jeweiligen Elternhauses ab. Nur 12 Prozent der Kinder, deren Eltern über keinen beruflichen Abschluss verfügen, gehen nach dem Schulabschluss an eine Hochschule. Sobald allerdings mindestens ein Elternteil über einen Berufsabschluss verfügt, steigt der Anteil der Kinder, die studieren gehen, bereits auf 24 Prozent. Hat mindestens ein Elternteil zusätzlich das Abitur als höchsten Schulabschluss erworben, beträgt die Hochschulbeteiligung schon 48 Prozent eines Jahrgangs.«<br />
<br />
Gleich am Anfang der Pressemitteilung und anschlussfähig an die Kernaussage der vorletzten Sozialerhebung (vgl. dazu das Zitat am Anfang dieses Beitrags) findet man diese Relationen:<br />
<br />
»Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien beginnen statistisch gesehen 79 ein Hochschulstudium. Bei Nicht-Akademiker Familien schaffen gerade einmal 27 von 100 Kindern den Sprung an eine Hochschule.«<br />
<br />
Natürlich fragt man sich, was diese konstant ausgeprägte Spaltung erklären kann. Dazu werden die Wissenschaftler, die den Bericht erstellt haben, so zitiert:<br />
<br />
»Die Ursachen für diese Chancenungleichheit sind vielfältig. Beim Durchlaufen des deutschen Bildungssystems müssen an mehreren Stellen Entscheidungen zum weiteren Bildungsverlauf eines Kindes getroffen werden, so zum Beispiel beim Übergang von der Grundschule zur Realschule oder dem Gymnasium. „Familien mit geringerem Bildungshintergrund tendieren häufig dazu, die Kosten für höhere Bildung zu überschätzen und Bildungserträge zu unterschätzen, ungeachtet des vielleicht hohen Bildungspotentials ihres Kindes“, erläutert Nancy Kracke, eine Autorin der Untersuchung, eine Ursache für die Chancenungleichheit. Anders verhält es sich bei bildungsnäheren Elternhäusern, die mehr Ressourcen zur gezielten Förderung ihrer Kinder einsetzen können und bei denen ein höherer Bildungsabschluss als Teil der Sicherung des eigenen sozialen Status der Familie angesehen wird. So findet beim Durchlaufen des Bildungssystems bei jeder Entscheidung eine erneute Selektion statt, die von der Bildungsnähe des Elternhauses beeinflusst wird.«<br />
<br />
Im Detail kann man die Ergebnisse in dieser Veröffentlichung nachlesen:<br />
<br />
Nancy Kracke, Daniel Buck und Elke Middendorff (2018): <a href="http://www.dzhw.eu/pdf/pub_brief/dzhw-brief_03_2018.pdf" target="_blank">Beteiligung an Hochschulbildung. Chancen(un)gleichheit in Deutschland</a>. DZHW-Brief 03./2018, Hannover Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Mai 2018<br />
<br />
Ein wichtiger vergleichender Befund: Seit 2005 hat sich der Anteil von Studierenden, deren Eltern nicht schon an der Hochschule waren, damit kaum verändert - auch wenn die Gesamtzahl der Studierenden im gleichen Zeitraum deutlich gestiegen ist.<br />
<br />
Die Ergebnisse »sind dramatisch – aber das waren sie auch schon 2012. Warum also wurde die Veröffentlichung des Bildungstrichters verschoben? Das DZWH führte vergangenes Jahr "methodische Gründe" an, doch zeigt sich der Bildungstrichter nun im Großen und Ganzen methodisch unverändert. Schon im Juni hatten die Forscher denn auch das Comeback des Trichters zu gegebener Zeit versprochen. Und das Ressort der damaligen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) hatte seinerseits beteuert, es habe keinerlei politischen Einfluss genommen. Nun ist seit gut zwei Monaten allerdings eine neue Ministerin, Anja Karliczek, im Amt. Gibt es da wirklich keinen Zusammenhang?« So Jan-Martin Wiarda in seinem Blog-Beitrag <a href="https://www.jmwiarda.de/2018/05/09/exklusive-veranstaltung/" target="_blank">Exklusive Veranstaltung</a> vom 9. Mai 2018. Seine Bewertung: »So oder so sind die neuen Ergebnisse besonders peinlich angesichts des extremen Anstiegs der Studentenzahlen in den vergangenen 15 Jahren. 2005 studierten 1,96 Millionen Menschen in Deutschland, 2016 waren es 2,80 Millionen – ein Zuwachs von über 40 Prozent. Doch von dem profitierte offenbar vor allem eine Gruppe: die Kinder der Bildungsbürger.«<br />
<br />
Und bislang bewegen wir uns nur auf der ganz großen Ebene mit dem Blick auf die ganz großen Zahlen. Die Befunde würden hinsichtlich der sozialen Selektivität noch weitaus erschreckender daherkommen, wenn man einzelne Studiengänge betrachten würde. So beispielsweise die Zusammensetzung der Studierenden in der Medizin, wo man immer stärker eine Art "Vererbung" des Berufes beobachten kann.<br />
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Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-52688452668101970602018-05-09T14:43:00.001+02:002018-06-09T13:34:40.915+02:00Nur die Harten kommen in den Garten der Deutschen Post. Über ein "Entfristungskonzept" und eine in Teilen verlogene, ansonsten verkürzte DebatteBlöd gelaufen für die Deutsche Post in Zeiten, in denen es sowieso eine kontroverse Debatte über Sinn und Unsinn befristeter Arbeitsverträge gibt und darunter vor allem der sachgrundlosen Befristungen. Da selektiert man das Personal beim Übergang von einer befristeten in eine entfristete Beschäftigung und die Kriterien werden der Öffentlichkeit in zahlreichen Presseberichten serviert. Und dann kommt so was dabei raus: <a href="http://www.fr.de/wirtschaft/arbeit-soziales/arbeitsrecht-post-entfristung-von-arbeitsvertraegen-abhaengig-von-krankheitstagen-a-1500701" target="_blank">Post: Entfristung von Arbeitsverträgen abhängig von Krankheitstagen</a>. Darin findet man diese Hinweise:<br />
<br />
»Niederlassungsleiter (haben) von der Konzernspitze ein sogenanntes Entfristungskonzept erhalten, an dass sie sich halten sollen. Darin heißt es demnach, dass Mitarbeiter in zwei Jahren nicht häufiger als sechsmal krank gewesen sein dürfen beziehungsweise nicht mehr als 20 Krankheitstage angehäuft haben.<br />
Weiter schreibe die Post vor, dass der Mitarbeiter „höchstens zwei selbstverschuldete Kfz-Unfälle mit einem maximalen Schaden von 5000 Euro“ verursachen darf. Zudem dürfen Postboten in drei Monaten nicht mehr als 30 Stunden länger für ihre Touren gebraucht haben als vorgesehen.«<br />
<br />
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Die Deutsche Post selbst spricht von einer „verantwortungsbewussten“ Entfristungspolitik, außerdem bewege man sich im geltenden rechtlichen Rahmen. Über den ersten Punkt kann man sich trefflich streiten, der zweite Aspekt stimmt - wenn denn der Betriebsrat dem Konzept zugestimmt hat, so die Einschätzung von Arbeitsrechtlern. An anderer Stelle wird aus der Post <a href="http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/befristung-post-richtlinien-unter-krankheits-durchschnitt-15578431.html" target="_blank">berichtet</a>, die „Arbeitnehmerseite sei mit im Boot“ – die Betriebsräte hätten den grundlegenden Kriterienkatalog abgesegnet.<br />
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Zur Einordnung der Dimensionen: »Innerhalb des letzten Jahres habe die Post rund 9.000 befristete Arbeitsverhältnisse in unbefristete überführt. Wie viele Mitarbeiter insgesamt befristete Verträge haben, wollte der Konzern auf Anfrage nicht mitteilen.«<br />
<br />
Im Grunde steht das "Entfristungskonzept" der Post, das nun an die Öffentlichkeit gespült worden ist, stellvertretend zum einen für die Nutzung der bestehenden rechtlichen Möglichkeit, sachgrundlos und (noch) mehrmals einen Arbeitsvertrag (noch) zwei Jahre lang zu befristen, als verlängerte Probezeit, in der man einen neuen Beschäftigten lange genug testen und ausprobieren kann, bevor man ihn dann vielleicht unbefristet übernimmt. Die gesetzliche Probezeit von sechs Monaten kann so ganz erheblich erweitert werden und zugleich kann man davon ausgehen, dass sich die Beschäftigten in der Zeit ganz besonders anstrengen werden, wenn in die Option einer Entfristung in Aussicht gestellt wird. Zum anderen kann man sich betriebswirtschaftlich gesehen von identifizierten "Minderleistern" rechtzeitig wieder trennen. Das Konzept der Post setzt dabei die Schwerpunkte auf Krankheitsausfälle (die in den ersten sechs Wochen den betrieblich unangenehmen Fall der Lohnfortzahlung auslösen) sowie die Leistung im engeren Sinne (zum einen die Schäden am Fuhrpark wie auch der Zeitbedarf für die Erbringung der Arbeitsleistung).<br />
<br />
Und es ist nicht so, dass sich die Post versteckt. So wird ein Sprecher der Deutschen Post mit diesen Worten <a href="http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brief-und-paketboten-krank-sein-bei-der-post-besser-nicht-1.3969098" target="_blank">zitiert</a>: "Man hat als Arbeitgeber ein ganz gutes Gefühl dafür, ob jemand von seiner Arbeitseinstellung dazu neigt, Krankheit anzumelden, obwohl man weiß, dass der kerngesund ist." Wenn aber ein Zusteller etwa nach einem Unfall öfter zum Arzt müsste, habe man dafür Verständnis. Also angeblich.<br />
<br />
Und das Unternehmen bekommt durchaus Schützenhilfe von außen - so beispielsweise von Michael Henn, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Stuttgart und Präsident des Verbands deutscher Arbeitsrechtsanwälte, der in dem Interview unter der Überschrift "Geschwindigkeit und Unfallfreiheit sind legitime Kriterien"so zitiert wird:<br />
<br />
»... ich persönlich kann die Aufregung gerade auch nicht ganz nachvollziehen. Die Idee hinter den Kriterien, die Arbeitsqualität zu messen, ist nicht nur legal, sondern für mein Empfinden auch moralisch vertretbar. Wie sinnvoll zum Beispiel die konkrete 30-Stunden-Regel der Post ist, kann ich zwar nicht beurteilen. Aber bei Zustellern sind Geschwindigkeit und Unfallfreiheit für mich legitime Kriterien, um die Arbeitsqualität zu messen und über eine Übernahme zu entscheiden.«<br />
<br />
Gewisse Zweifel lässt er bei der Krankheitsdimension erkennen, nicht hinsichtlich der grundsätzlichen Eignung als Selektionskriterium, sondern aufgrund der konkreten Operationalisierung: »Die Post schreibt pauschal: Beschäftigte sollen nicht mehr als 20 Krankheitstage in zwei Jahren haben. Da ist keine Rede von Arbeitsunfällen. Was ist aber zum Beispiel, wenn ein Mitarbeiter durch einen solchen Arbeitsunfall krank wird und länger ausfällt? Wird das auch eingerechnet in diese 20 Krankheitstage? Das wäre meiner Meinung nach ein unfaires Kriterium ... Aber: Wenn jemand jede dritte Woche montags einen Schnupfen hat, erscheint es mir legitim, als Arbeitgeber darüber nachzudenken, ob man diese Person weiterbeschäftigen will.«<br />
<br />
Bastian Benrath hat in seinem Artikel <a href="http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/befristung-post-richtlinien-unter-krankheits-durchschnitt-15578431.html" target="_blank">Postboten dürfen nur unterdurchschnittlich oft krank sein</a> folgende Frage aufgeworfen: Wie oft werden Menschen im Jahr durchschnittlich krank? Und wie steht diese Zahl im Verhältnis zu den Vorgaben der Post?<br />
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»Nach Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums häuften die gesetzlich versicherten Arbeitnehmer in Deutschland im Jahr 2016 insgesamt mehr als 561 Millionen Fehltage an, an denen sie krankgeschrieben waren. Teilt man das durch knapp 38,5 Millionen arbeitende Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen (also ohne Rentner und mitversicherte Familienangehörige), kommt man auf gerundet 14,62 Arbeitstage, die ein gesetzlich Versicherter im Durchschnitt krankgeschrieben war.<br />
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Die Zahl ist ein Durchschnittswert, wird also von Einzelnen, die lange krank geschrieben waren, nach oben verzerrt. Andererseits sind darin aber auch nur Fehltage einbezogen, die Beschäftigte krankgeschrieben waren – einzelne, an denen sie sich ohne Attest krankgemeldet haben, kommen hinzu.<br />
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Die Post verlangt in zwei Jahren nicht mehr als 20 Krankheitstage – was maximal zehn Krankheitstagen im Jahr entspricht. Das heißt: Die Post verlangt von ihren Mitarbeitern, unterdurchschnittlich oft krank zu sein.«<br />
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»Die Argumente der Post werden noch ein wenig dünner, wenn man sich Statistiken für einzelne Krankenkassen oder Berufsgruppen anschaut, die allesamt über dem errechneten Durchschnitt liegen: Barmer-Versicherte in Sachsen waren im vergangenen Jahr durchschnittlich 19 Tage krank, Handwerker in Thüringen 21,4 Tage. Berliner Polizisten fehlten im Jahr 2016 sogar durchschnittlich 49 Kalendertage – was in etwa 35 Arbeitstagen entspricht.«<br />
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Die kritischen Reaktionen auf das Entfristungskonzept der Post vor allem aus der Politik ließen nicht lange auf sich warten, wie beispielsweise Kristiana Ludwig in ihrem Artikel <a href="http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brief-und-paketboten-krank-sein-bei-der-post-besser-nicht-1.3969098" target="_blank">Krank sein bei der Post? Besser nicht</a> berichtet: Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Union, Peter Weiß, kritisiert die Kriterien der Post. "Ich finde, einer modernen Personalführung ist das nicht würdig". Und die Grünen-Sprecherin für Arbeitnehmerrechte, Beate Müller-Gemmeke, wird mit dieser Bewertung zitiert: "Diese Kriterien sind völlig menschenverachtend und sittenwidrig, und das bei einem Unternehmen, an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist".<br />
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Der letzte Punkt verweist auf diesen Tatbestand: Die Deutsche Post ist eine Aktiengesellschaft. Der Bund hält über die staatseigene KfW Bankengruppe rund 20,6 Prozent der Aktien und ist damit größer Einzelaktionär. Und von dieser Seite kam auch eine Reaktion:<br />
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»Bundesfinanzminister Scholz will den Einfluss des Bundes auf das Unternehmen nutzen und diese umstrittene Einstellungspraxis ändern. "Diejenigen, die für uns im Aufsichtsrat sitzen, haben sich vorgenommen, darauf zu reagieren", sagte Bundesfinanzminister Olaf Scholz ... in der ARD-Sendung "Anne Will". Die Einstellungspraxis der Deutschen Post sei "nicht in Ordnung". Die befristete Beschäftigung müsse zurückgedrängt werden - "bei diesem Unternehmen genauso wie bei anderen".«<br />
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Man kann an dieser Stelle irritiert zur Kenntnis nehmen, dass in anderen Zusammenhängen die Bundesregierung als Anteilseigner von Unternehmen immer darauf hinweist, man würde sich gerade nicht in operative Angelegenheiten der Unternehmen einmischen. Aber das sei hier mal dahingestellt.<br />
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Da ist sie also wieder - die seit dem letzten Bundestagswahlkampf im vergangenen Jahr intensiv geführte Debatte über befristete Beschäftigung, vor allem über die sachgrundlosen Befristungen. Vgl. dazu bereits vom 23. Februar 2017 den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/02/abschaffung-befristete-arbeitsvertraege.html" target="_blank">Die befristeten Arbeitsverträge zwischen Schreckensszenario, systemischer Notwendigkeit und Instrumentalisierung im Kontext einer verunsicherten Gesellschaft</a> oder am 15. Juni 2017 der Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/06/nicht-nur-gewerkschaften-sind-gegen-sachgrundlose-befristungen.html" target="_blank">Nicht nur Gewerkschaften sind gegen sachgrundlos befristete Arbeitsverträge. Zugleich werden sie gerne in Anspruch genommen</a>.<br />
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Nun wird sich der eine oder andere in diesen hektischen Zeiten erinnern, dass das Thema sachgrundlose Befristungen doch sowieso gesetzgeberisch angegangen werden soll, folgt man den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag. Genau, über die dabei gezeugte und höchst komplizierte Kompromissgeburt wurde hier am 20. Februar 2018 in diesem Beitrag berichtet: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2018/02/das-dilemma-mit-den-schwellenwerten.html" target="_blank">Die beabsichtigte Einschränkung der sachgrundlosen Befristung und das ewige Dilemma mit den Schwellenwerten</a>.<br />
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Es soll jetzt hier auch nicht weiter eingegangen werden auf die Befristungssünden, die gerade im öffentlichen Dienst zu beobachten sind und die als Befristungen mit Sachgrund nur marginal von den geplanten Restriktionen im Befristungsrecht betroffen sein werden.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiRzEz-kYq6tO9m8jxctsPIbY0B-oN-yE6qxTTDlMyf3lO5bxSGwx0Xw85_xWhhzIUwjeW1Dx6ntEw5OHlFSM_i18_-_nHGakrlhRSBtt3Ivin-dAezrSJQpmCCMSYOhxfwnOL5UEfBJC_C/s1600/Sachgrundlose+Befristungen+Gesetzgebung.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="272" data-original-width="640" height="170" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiRzEz-kYq6tO9m8jxctsPIbY0B-oN-yE6qxTTDlMyf3lO5bxSGwx0Xw85_xWhhzIUwjeW1Dx6ntEw5OHlFSM_i18_-_nHGakrlhRSBtt3Ivin-dAezrSJQpmCCMSYOhxfwnOL5UEfBJC_C/s400/Sachgrundlose+Befristungen+Gesetzgebung.jpg" width="400" /></a></div>
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Hier soll stattdessen der Blick gelenkt werden auf die Entstehungsgeschichte der sachgrundlosen Befristungen als Instrument im Arbeitsrecht, denn das ist noch gar nicht so alt und außerdem war es eingebettet in einen ganz bestimmten Kontext, der heute vergessen scheint. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei das Jahr 1985 und die damaligen Arbeitsmarktprobleme, die im "Beschäftigungsförderungsgesetz" aufgegriffen wurden. Bis dahin waren Befristungen, die über die Probezeit hinausgingen, nur zulässig, wenn ein besonderer sachlicher Grund vorlag. Mit dem neuen Gesetz konnten Arbeitslose zunächst bis zu einem Jahr befristet eingestellt werden. Die Regelung war zunächst bis 1991 befristet, doch wurde es immer wieder verlängert und in den folgenden Jahren wurden die Möglichkeiten der Befristung zudem erweitert. Und zwar befristet ohne irgendeinen Sachgrund. „Für einen Arbeitsuchenden ist eine – wenn auch zunächst nur befristete – Arbeit besser als gar keine Arbeit“, so stand es im Gesetzentwurf zum sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985.<br />
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Man muss das gerade heute wieder in Erinnerung rufen: Die Einführung der Möglichkeit, für einen über die auch damals generell vorhandene gesetzliche Probezeit hinausreichenden Zeitraum von anfangs 18 Monate einen Arbeitnehmer befristet einzustellen, war gebunden an damals Arbeitslose. Das muss im Kontext der damaligen (und heute immer wieder gerne aufgewärmten) Debatte über die angeblichen Restriktionen des deutschen Kündigungsschutzrechts gesehen und eingeordnet werden, dem damals der Vorwurf gemacht wurde, er führe dazu, dass die Unternehmen lieber von einer Einstellung eines Arbeitslosen absehen, weil sie den dann "nicht mehr los werden können". Das wurde schon damals kritisch diskutiert. Aber offensichtlich ging es mit der Ermöglichung einer sachgrundlosen Befristung darum, (angebliche) Einstellungshürden für Arbeitslose zu beseitigen. Über Sinn und Unsinn kann man streiten, aber es läßt sich zweierlei daraus lernen: Im Laufe der Zeit hat sich diese anfangs spezifische Maßnahme generalisiert und wurde zeitlich und personenbezogen ausgedehnt. Und zum anderen ging es auch am Anfang darum, den Arbeitgebern die Option zu eröffnen, Arbeitnehmer weit über die gesetzliche Probezeit "auszuprobieren" und sich dann die "besten" Kandidaten herauszusuchen bzw. die "Risikofälle" ohne möglich kündigungsschutzrechtliche Komplikationen wieder abzustoßen. Genau das macht die Deutsche Post heute auch. Und übrigens der Staat auch. Man denke nur an die Gesundheitsprüfungen vor einer Verbeamtung.<br />
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Die eigentlich zu diskutierende Frage wäre also die nach Sinn und Unsinn der Möglichkeit, eine gesetzliche Probezeit erheblich zu verlängern und in dieser Zeit alle Neueinstellungen auf Herz und Nieren zu prüfen. Wohlgemerkt, alle Neueinstellungen, nicht nur die von Arbeitnehmern. Die Frage lässt sich natürlich ganz unterschiedlich beantworten, je nach Interessen und ideologischem Standpunkt. Der Gesetzgeber scheint sich schon entschieden zu haben: Man will die sachgrundlosen Befristungen nicht abschaffen und zugleich will man den Gegnern entgegenkommen, in dem man die Inanspruchnahme einschränkt mit wieder einmal nicht einfachen Regeln und Schwellenwerten. Nicht Fisch, nicht Fleisch, wieder einmal.</div>
Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-10856326138481364492018-05-07T23:51:00.000+02:002018-06-09T13:36:27.741+02:00Betriebsrenten sind sicher. Also eine sichere Quelle für Besorgnis und düstere Aussichten. Das gefällt den Mehrsäulenverschiebern im Alterssicherungssystem gar nichtIn der Sozialpolitik ist eines sicher - manche Themen, die im öffentlichen Diskurs kurzzeitig von der Berichterstattung aufgegriffen und dann wieder zu den Akten gelegt werden, fressen sich weiter durch die Landschaft, wenn sie denn nicht wirklich bearbeitet werden oder sich auch nicht bearbeiten lassen. Bis sie dann wieder ganz dringlich, weil nicht mehr zu leugnen auf die Tagesordnung gesetzt werden müssen.<br />
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Schauen wir zurück in das Jahr 2016. Am 21. Juni 2016 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2016/06/141.html" target="_blank">Betriebsrenten als Butter in der Sonne? Das wäre ärgerlich für die Finanzindustrie und ihre Hoffnungen auf ein Riester-Substitut. Und Betroffene erleben ihr blaues Wunder</a>. Dort konnte man lesen: »Offensichtlich geht es vielen Betriebsrenten nicht gut - und erst recht nicht denen, die da noch kommen sollen. Nicht wirklich überraschend hat das etwas zu tun mit dem selbst gestandene Volkswirte irritierenden Umfeld einer seit Jahren anhaltenden und auf absehbare Sicht auch weiter vorherrschenden Niedrig-, Null- und sogar Negativzinswelt, in der sich die Kapitaldeckungsvarianten bewegen und absehbar weiter bewegen müssen.« Und dann wurde von den näher kommenden Einschlägen berichtet. Beispielsweise von der nach eigenen Angaben größte Pensionskasse in Deutschland. »Die BVV Versorgungskasse des Bankgewerbes e.V. plant, auf ihrer ordentlichen Mitgliederversammlung am 24. Juni im Hotel Intercontinental in Berlin eine tiefgreifende Änderung der sogenannten Leistungspläne beschließen zu lassen. Das würde für junge Beschäftigte deutlich geringere Ansprüche auf Betriebspensionen bedeuten.« Damals ging es - noch - darum:<br />
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»Anwartschaften auf Rentenzahlungen, die in der Vergangenheit erworben wurden, bleiben bestehen – hingegen sollen die Kunden der Pensionskasse mit den entsprechenden Verträgen für die künftigen Einzahlungen ... im Alter weniger Rente erhalten, als sie bislang eingeplant haben und als vereinbart war.« Es soll fast ein Viertel weniger Rente für die betroffenen Bankmitarbeiter geben, zumindest was die künftigen Einzahlungen betrifft.«<br />
<a name='more'></a><br />
Dabei ging es hier "nur" um die Absenkung der möglichen Betriebsrenten für die Zukunft. Bereits damals aber wurde man mit solchen Warnmeldungen konfrontiert: <a href="http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/niedrigzins-erste-pensionskasse-senkt-betriebsrenten-1.3013717" target="_blank">Erste Pensionskasse senkt Betriebsrenten</a>, so hat Herbert Fromme einen Artikel vom 31. Mai 2016 überschrieben. Der Fromme wird gleich wieder auftauchen. Aber bereits vor gut zwei Jahren konnte man überall die Anzeichen eines größer werdenden Problems erkennen - wenn man denn wollte.<br />
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Nur einen Tag nach dem Beitrag über die "normalen" Pensionskassen musste ein weiterer hier einschlägiger Artikel nachgeschoben werden - der sich mit den Betriebsrenten für eine ganz bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern beschäftigt: Wenn über Betriebsrenten gesprochen wird, dann denken viele Menschen an die zusätzlichen Renten, die an Industriearbeiter ausgezahlt werden oder wenn man das Glück hatte, sein Erwerbsarbeitsleben bei einem der großen Unternehmen des Landes verbracht zu haben, bei denen es in aller Regel eine betrieblicher Altersvorsorge gab und gibt. Aber dieses Zubrot fürs Alter gibt es auch im öffentlichen Bereich für die Nicht-Beamten dort und bei zahlreichen Unternehmen der Sozialwirtschaft, von denen sich viele unter dem Dach der großen Kirchen bzw. ihrer Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie befinden. Da geht es um viele, sehr viele Beschäftigte.<br />
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Und der angesprochene Beitrag vom 22. Juni 2016 wurde so überschrieben: <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2016/06/142.html" target="_blank">Wenn selbst das Beten nicht mehr hilft. Auch die zusätzliche kirchliche Altersversorgung kann (und muss) in schwieriges Fahrwasser geraten</a>. Konkret ging es um die Kirchliche Zusatzversorgungskasse KZVK mit Sitz in Köln. Sie ist die betriebliche Altersversorgung für 1,2 Millionen Beschäftigte im Dienst der katholischen Kirche oder des Sozialträgers Caritas. Derzeit beziehen 154.000 Menschen über sie eine Zusatzrente. Die KZVK ist damit eine der größten Pensionskassen in Deutschland. Und die hatte und hat ein Problem: Bereits für 2014 wurde ein Fehlbetrag von 5,5 Milliarden Euro ausgewiesen. Schuld daran ist vor allem die lange Niedrigzinsphase, unter der auch andere Versorgungskassen leiden, von denen einige tatsächlich inzwischen Leistungen kürzen mussten.<br />
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Und nun erreichen uns erneut Meldungen aus dieser nicht unbedeutenden Säule des Alterssicherungssystems, wieder einmal hat Herbert Fromme in die Tasten gehauen und in der Süddeutschen Zeitung diesen Artikel veröffentlicht: <a href="http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pensionskassen-zehntausende-muessen-um-betriebsrenten-zittern-1.3966376" target="_blank">Zehntausende müssen um Betriebsrenten zittern</a>. Nach seinen Informationen »stehen mindestens zwei Pensionskassen kurz davor, Zahlungen an die aktuellen Betriebsrentner und die Zusagen an die künftigen Empfänger spürbar abzusenken. Eine ganze Anzahl weiterer Pensionskassen muss ebenfalls kämpfen und denkt über Absenkungen nach.« Und auch bei Fromme werden wir daran erinnert, dass das doch schon mal alles Thema war:<br />
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»Hauptursache für die Probleme sind die niedrigen Zinsen. Bereits vor zwei Jahren hat Frank Grund, Exekutivdirektor bei der Finanzaufsicht Bafin, zum ersten Mal vor Problemen der Pensionskassen gewarnt. Seither hat sich nichts verbessert, im Gegenteil. "Die Lage ist heute noch ernster als vor zwei Jahren", sagte Grund, der für die Versicherungsaufsicht zuständig ist. "Ohne zusätzliches Kapital von außen werden einige Pensionskassen nicht mehr ihre vollen Leistungen erbringen können."«<br />
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Offensichtlich zitiert Fromme hier von der Jahrespressekonferenz der <a href="http://www.bafin.de/" target="_blank">Bundesanstalt für </a><br />
<a href="http://www.bafin.de/" target="_blank">Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)</a>, die am 3. Mai in Frankfurt stattgefunden hat. Der <a href="https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Pressemitteilung/2018/pm_180503_jahrespressekonferenz.html" target="_blank">Pressemitteilung</a> der BaFin dazu kann man diese deutlichen Mahnrufe entnehmen:<br />
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»Die Lage der Pensionskassen im Dauerzinstief ist laut Dr. Frank Grund, Exekutivdirektor Versicherungsaufsicht, heute noch ernster als vor zwei Jahren. Bereits auf der Jahrespressekonferenz der BaFin im Mai 2016 hatte Dr. Grund schon auf die Probleme hingewiesen. Und wenn die Zinsen auf dem aktuellen Niveau bleiben, werde sie sich noch weiter verschärfen. „Ohne zusätzliches Kapital von außen werden einige Pensionskassen nicht mehr ihre vollen Leistungen erbringen können“, warnte er.<br />
<br />
Diese Kassen begleite die BaFin besonders intensiv und dränge sie, bei ihren Trägern oder Aktionären rechtzeitig Unterstützung einzufordern. Dr. Grund mahnte, dass alle Verantwortlichen ein Interesse daran haben sollten, Pensionskassen vor einer Schieflage zu bewahren. Nur dann bleibe die betriebliche Altersversorgung ein stabiler Pfeiler der Alterssicherung in Deutschland.«<br />
Wieder zurück zu den Ausführungen des Versicherungsexperten Herbert Fromme: Pensionskassen funktionieren ähnlich wie Lebensversicherer. Aber ihre Lage ist noch schwieriger als die der Lebensversicherer. Warum? »Sie zahlen ausschließlich lebenslange Renten aus und leiden deshalb sowohl unter den niedrigen Zinsen als auch unter der durchschnittlich längeren Lebenszeit.«<br />
<br />
In Deutschland gibt es 137 Pensionskassen, die aktuell 165 Milliarden Euro Kapital für heutige und künftige Betriebsrenten verwalten. Mit einem Drittel von ihnen steht die BaFin in ständigen intensiven Diskussionen, wird Frank Grund von der Finanzaufsicht zitiert. Bei einer nicht genannten Zahl von Pensionskassen, die zusammen 10 Prozent der 165 Milliarden Euro verwalten, sei die Lage sehr ernst.<br />
<br />
Die in Schieflage befindlichen Pensionskassen müssen bei ihren Trägern oder Aktionären rechtzeitig Unterstützung einfordern, so die Finanzaufsicht. Das zentrale Problem: Zwingen kann man die Arbeitgeber nicht.<br />
Denn sie sind nicht zur Rettung der Pensionskassen verpflichtet. Probleme haben vor allem Pensionskassen, bei denen viele verschiedene Arbeitgeber Mitglied sind. So wird von Pensionskassen berichtet, bei denen 70 Arbeitgeber Mitglied sind. Und: Dazu kommen Kassen, bei denen der Arbeitgeber gar nicht mehr existiert.<br />
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Wenn die Pensionskasse nicht mehr kann, sind Leistungskürzungen der letzte Ausweg. Aber dann müssten die Arbeitgeber eigentlich für die Differenz zwischen Zusagen und Zahlungen einstehen, damit die Versorgungsberechtigten die volle zugesagte Leistung erhalten. Das funktioniere hingegen nur, wenn der Arbeitgeber noch existiert und liquide ist.<br />
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Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, wenn man hier so reagiert, wie man das auch aus dem konventionellen Bereich der Lebensversicherer immer wieder hört - man versucht, die Fesseln loszuwerden. Zu den Lebensversicherern vgl. das WDR- Feature <a href="https://www.ardmediathek.de/radio/Dok-5-Das-Feature/Was-aus-der-guten-alten-Lebensversicheru/WDR-5/Audio?bcastId=47040864&documentId=50887410" target="_blank">Was aus der guten alten Lebensversicherung wird</a> vom 18.03.2018: »Die deutschen Lebensversicherungen haben Probleme. Die Garantiesummen sind zwar sicher, doch die Rendite geht immer weiter in den Keller. Einige Anbieter wollen raus aus dem Geschäft. Andere überlegen, ihre Altverträge an Finanzinvestoren zu verkaufen.« Zu den Pensionskassen berichtet Fromme in seinem Artikel entsprechend:<br />
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»Immer mehr Arbeitgeber suchen Wege, um ihre Pensionskassen loszuwerden. In zwei Fällen - die nicht mit den beiden Kassen identisch sind, die ihre Zahlungen reduzieren wollen - haben die Eigner ihre Pensionskassen bereits an den Abwicklungsspezialisten Frankfurter Leben verkauft, der vom chinesischen Investor Fosun kontrolliert wird. Das sind die offene Pensionskasse Pro BAV der Axa und die Prudentia, die Betriebsrenten von C&A-Mitarbeitern verwaltet.«<br />
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Das sind natürlich alles ganz schlechte Neuigkeiten für diejenigen, denen daran gelegen ist, die Betriebsrenten als zweite Säule des Alterssicherungssystems zu stärken, um die selbst produzierten Ausfälle in der ersten Säule wenigstens teilweise kompensieren zu können. Die alte und neue Große Koalition hat hier deutliche Schritte gemacht, um die angesprochenen Risiken und Belastungen der Arbeitgeber zu reduzieren. Nur hat bekanntlich (fast) alles seinen Preis, so auch diese Förderung der "Betriebsrenten" - in Anführungszeichen deshalb, weil es durch die neuere Gesetzgebung im Prinzip zu einer einseitigen Entlastung der Arbeitgeber und einer massiven Risikoverschiebung zuungunsten der Arbeitnehmer gekommen ist, die oftmals über die Institut der Entgeltumwandlung auch noch ihre "Betriebsrenten" schlichtweg selbst finanzieren. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/06/halbierte-betriebsrentenreform.html" target="_blank">Die halbierte Betriebsrentenreform, eine "kommunikative Herausforderung" gegenüber den Arbeitnehmern und das von vielen totgesagte Pferd Riester wird erneut gedopt</a> vom 3. Juni 2017. Das alles übrigens federführend von dem sozialdemokratisch geführten Bundesarbeitsministerium vorangetrieben und gesetzgeberisch umgesetzt. Und auch die Spitzen der Gewerkschaften zeigen an dieser Stelle eine auffallende Nicht-Existenz, als hätten sie ein Schweigegelübde abgelegt. Aber der Beitrag hat wieder einmal belegt - man kann die drei Affen machen, aber das Problem bleibt. Und frisst sich weiter durch das sowieso schon hyperkomplexe Gebilde namens Alterssicherungssystem, wobei das "System" eher ein Euphemismus ist als denn eine Tatsachenbeschreibung.Unknownnoreply@blogger.comtag:blogger.com,1999:blog-6890905834909695621.post-68647177537384748452018-05-06T18:11:00.000+02:002018-06-09T13:40:47.957+02:00Mehr als ein Passungsproblem: Teilzeitarbeit ist defizitär - damit lässt sich im bestehenden System keine Rente machen. Zugleich sollen die Frauen die Rente "retten"Demnächst wird die von der neuen alten Großen Koalition im Koalitionsvertrag beschlossene "Rentenkommission" ihre Arbeit aufnehmen. Das Gremium soll bis zum März 2020 ein Gesamtkonzept für die Alterssicherung ab dem Jahr 2025 vorschlagen. Bis dahin kann man dann immer darauf verweisen, dass ja die Kommission an dem Thema arbeitet.<br />
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Zwischenzeitlich wird aus allen Ecken in den öffentlichen Raum geschossen, was angeblich unausweichlich passieren muss. "Natürlich" geht es dabei wieder einmal um das gesetzliche Renteneintrittsalter. Und da soll es bei der "Rente mit 67" nicht bleiben: <a href="https://www.welt.de/wirtschaft/article175616647/Wir-brauchen-Rente-mit-70-oder-500-000-Zuwanderer-im-Jahr.html" target="_blank">Wir brauchen Rente mit 70 – oder 500.000 Zuwanderer im Jahr</a>, so kommt einer der vielen Artikel aus diesem Lager daher, der sicher nicht zufällig in der apodiktischen Art und Weise der Betitelung auf Abwehrreflexe in weiten Teilen der Bevölkerung gegen solche behaupteten Zuwandererzahlen setzt, um dann die andere angeblich alternativlose Alternative durchsetzen und verankern zu können. Der Artikel stützt sich übrigens auf das <a href="https://www.diw.de/de/diw_01.c.582552.de/themen_nachrichten/gemeinschaftsdiagnose_konjunkturforscher_heben_prognose_leicht_an.html" target="_blank">Frühjahrsgutachten 2018</a> eines Konsortiums von Wirtschaftsforschungsinstituten. Kristina Antonia Schäfer hat das Thema in ihrem Artikel <a href="https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/demografischer-wandel-rente-mit-70-ueberfaellig-oder-ueberfluessig/21197350.html" target="_blank">Rente mit 70: Überfällig oder überflüssig?</a> aufgegriffen:<br />
»Unter Wirtschaftsexperten tobt ein Streit, wie der Kollaps der Rentensysteme abgewendet werden kann. Die einen fordern die Rente mit 70, die anderen halten das für überflüssig - und haben eine Alternative.«<br />
Mit dem Hinweis auf eine Alternative meint sie die Studie <a href="https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_137_2018.pdf" target="_blank">Den demografischen Wandel bewältigen: Die Schlüsselrolle des Arbeitsmarkts</a> von Erik Türk et al., die vor kurzem veröffentlicht wurde. Ein Kernpunkt in der Argumentation der gewerkschaftsnahen Wissenschaftler: Viele gängige Prognosen zum demografischen Wandel und seinen Wirkungen auf die Alterssicherung verharrten ohne Not bei „Katastrophen-Szenarien“, konstatieren die Forscher. Zentrale Gründe dafür: Sie schreiben vermeintlich stabile demografische Trends über Jahrzehnte fort, obwohl es signifikante Änderungen gibt. Dabei gibt es ein enormes Beschäftigungspotenzial, was die Folgen für die Rente erheblich verändern würde, wenn es denn erschlossen werden würde.<br />
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Und in diesem Kontext hier spielen "die" Frauen eine gewichtige Rolle. Dazu berichtet Kristina Antonia Schäfer in ihrem Artikel:<br />
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»Die Hans-Böckler-Stiftung hat exemplarisch durchgerechnet, was passieren würde, wenn die Beschäftigungsquote von Frauen in Deutschland das heutige Niveau Schwedens erreichen würde. Dabei gingen sie von einem schrittweisen Anstieg aus, der erst im Jahr 2050 abgeschlossen wäre. Die Erwerbstätigenquote bei Männern würde dabei von heute 72,8 Prozent auf 78,3 Prozent im Jahr 2040 und 80,6 Prozent im Jahr 2060 steigen. Bei Frauen wäre der Anstieg noch deutlicher, nämlich von heute 57,8 Prozent auf 71,7 Prozent im Jahr 2040 und 76,7 Prozent im Jahr 2060.<br />
<br />
Die Abhängigkeitsquoten würden dadurch deutlich weniger schnell ansteigen. Im „klassischen Szenario“ der demografischen Abhängigkeit würde die Quote bis 2040 um bis zu 75 Prozent und bis 2060 dann sogar um bis zu 86 Prozent ansteigen. Nimmt man hingegen das „Schweden-Szenario“ der ökonomischen Abhängigkeit, so läge der Anstieg nur bei maximal 19 Prozent im Jahr 2040 und 18 Prozent 2060.«<br />
<br />
Dieses kleine Beispiel zeigt nicht nur, wie relativ die relativen Angaben zu Belastungsanstiegen sein können, je nach Modellierung der Parameter. Es verweist auf die offensichtlich vorhandenen Beschäftigungspotenziale gerade mit Blick auf die Frauen. Und die tauchen dann auch wieder auf an einer ganz anderen Stelle, in einer Studie, die vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Auftrag gegeben wurde: <a href="https://www.gdv.de/de/medien/aktuell/hoehere-erwerbsbeteiligung-von-frauen-entlastet-die-beitragszahler-bis-2050-um-190-mrd--euro-31976" target="_blank">Höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen entlastet die Beitragszahler bis 2050 um 190 Mrd. Euro</a>, so ist die Pressemitteilung der Versicherungswirtschaft überschrieben. Das hat man dieser Studie entnommen:<br />
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Oliver Ehrentraut et al. (2018): <a href="https://www.gdv.de/resource/blob/32072/e70edfa9921264adad3fe1f819ec4153/prognos-studie---altersvorsorge-und-frauen---2018-data.pdf" target="_blank">Frauen und Altersvorsorge. Perspektiven und Auswirkungen einer höheren Erwerbsbeteiligung auf die eigenständige Alterssicherung</a>, Freiburg: Prognos AG, April 2018<br />
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Die Versicherungswirtschaft zitiert beispielsweise aus dem Gutachten: »Von einer stärkeren Berufstätigkeit profitieren aber vor allem die Mütter selbst. Nach Berechnungen von Prognos ist die gesetzliche Rente einer Frau, die relativ schnell nach Geburt ihrer zwei Kinder in den Beruf zurückkehrt und bald darauf in Vollzeit arbeitet, um über 50 Prozent höher als die einer Mutter, die die Erziehungszeit für beide Kinder voll ausschöpft und anschließend nur in Teilzeit arbeitet. Eine schnelle Rückkehr in den Beruf lohnt sich besonders für gut ausgebildete Frauen mit einem entsprechend höheren Gehalt.«<br />
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Wenn man die Mechanik der Rentenformel kennt, dann ist das nun kein wirklich überraschendes, sondern ein logisches Ergebnis dieser Formel. Dazu gleich mehr.<br />
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In der Medienberichterstattung hat man die Studie im Auftrag der Versicherungswirtschaft dann beispielsweise kompakt so eingeordnet: <a href="https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/altersvorsorge-wie-frauen-die-rente-retten-sollen/21214612.html" target="_blank">Wie Frauen die Rente retten sollen</a>. »Die Finanzierung des Rentensystems wird immer schwerer. Jetzt sollen die Frauen es richten. Sie könnten davon sogar profitieren.« Ja klar, siehe Rentenformel.<br />
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Denn die Rentenformel basiert konzeptionell und hinsichtlich der materiellen Folgen ganz handfest auf dem Modell einer möglichst langen, mit möglichst wenigen Unterbrechungen absolvierten Vollzeiterwerbsarbeit und die möglichst immer mindestens mit dem durchschnittlichen Verdienst in der Rentenversicherung vergütet. Das wurde hier schon in vielen Beiträgen immer wieder aufgegriffen und beschrieben - vgl. beispielsweise den Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/12/systembedingt-geringverdiener-und-viele-frauen-rentenverlierer.html" target="_blank">Zwangsläufig, weil systembedingt: Geringverdiener und viele Frauen bleiben im deutschen Rentensystem auf der Strecke</a> vom 5. Dezember 2017.<br />
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Teilzeitarbeit, vor allem über viele Jahre und dann auch noch verbunden mit überschaubaren beitragspflichtigen Lohneinkommen ist in der Rentenformel schlichtweg "nicht vorgesehen" bzw. muss isoliert betrachtet zu Rentenansprüchen führen, die unterhalb der Sozialhilfe-Schwelle liegen. Und dass Teilzeitarbeit überwiegend von Frauen ausgeübt wird und das nicht nur, aber doch erheblich im Kontext mit dem gesehen werden muss, was man "Vereinbarkeit von Beruf und Familie" nennt und auf den Tatbestand abstellt, dass es vor allem bzw. immer noch ausschließlich die Mütter sind, die nach der Geburt eines Kindes ihre Erwerbsarbeitszeit reduzieren oder gar längerer Zeit ganz aus dieser aussteigen und später, wenn dann "nur" in Teilzeit wieder einsteigen, sollte hinlänglich bekannt sein.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEistItvhwwYV7wv-JKnoyPIe1ThZVlE4cxsAT7xE9qZaXCT16Jhupk_aVbvuj90ECrUrDDvovGlwfR1sySBUC0PtHUMdU3jLJnYoQa5jyOt8FIZ9ccZSqkeWRzDnhL4grpibfnXtrdNOpuV/s1600/Earnings+Impact+Children.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1070" data-original-width="591" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEistItvhwwYV7wv-JKnoyPIe1ThZVlE4cxsAT7xE9qZaXCT16Jhupk_aVbvuj90ECrUrDDvovGlwfR1sySBUC0PtHUMdU3jLJnYoQa5jyOt8FIZ9ccZSqkeWRzDnhL4grpibfnXtrdNOpuV/s320/Earnings+Impact+Children.jpg" width="178" /></a></div>
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"It's the child, stupid" - so brutal könnte man einen wichtigen Befund hinsichtlich der Frage nach der strukturellen Diskriminierung von Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt, bei der Entlohnung und dementsprechend bei lohnbezogenen Ansprüchen in sozialen Sicherungssystemen wie der Rentenversicherung zusammenfassen. Es gibt ja immer wieder die Diskussion über einen "gender pay gap" in dem Sinne, dass die Frauen für die gleiche Arbeit teilweise mehr als 20 Prozent weniger bekommen - was so nicht richtig ist, was hier an anderer Stelle ausgeführt wurde. Dazu beispielsweise der Beitrag <a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/03/equal-pay-day.html" target="_blank">Wenn aus nicht falschen Zahlen falsche Ableitungen gemacht werden und die strukturellen Probleme unter die Räder der Lagerbildung kommen. Anmerkungen zum "Equal Pay Day"</a> vom 19. März 2017.<br />
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Was aber stimmt ist - gemessen an den Erwerbsarbeitseinkommen - ein bedenklicher und dann lebenslang anhaltender Absturz von Frauen, die ein Kind zur Welt gebracht haben - im Vergleich zu den Männern (von denen einige ja immer auch Väter sind) und auch zu Frauen, die diesen "Einschnitt" nicht in ihrer Erwerbsbiografie aufweisen. Das verdeutlicht die Abbildung. Die ist dieser Studie entnommen:<br />
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Henrik Kleven et al. (2018): <a href="http://www.nber.org/papers/w24219" target="_blank">Children and Gender Inequality: Evidence from Denmark</a>. NBER Working Paper No. 24219, January 2018<br />
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Die Wissenschaftler kommen zu diesem Befund: »The arrival of children creates a gender gap in earnings of around 20% in the long run, driven in roughly equal proportions by labor force participation, hours of work, and wage rates ... we show that the fraction of gender inequality caused by child penalties has increased dramatically over time, from about 40% in 1980 to about 80% in 2013.«<br />
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Und aus Österreich erreicht uns diese vom Arbeitsmarktservice (AMS) herausgegebene Studie, die vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) erarbeitet wurde:<br />
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Christine Mayrhuber (2017): <a href="http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/Studie_Lebenseinkommen%202017_end.pdf" target="_blank">Erwerbsunterbrechungen, Teilzeitarbeit und ihre Bedeutung für das Frauen-Lebenseinkommen</a>, Wien, Oktober 2017<br />
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Martina Maurer und Ina Freudenschuß, beide vom AMS Österreich, haben die Befunde dieser Studie in diesem Beitrag aufgegriffen und mit Blick auf die Alterssicherung zugespitzt: <a href="https://www.awblog.at/teilzeit-keine-pension/" target="_blank">Mit Teilzeit ist keine Pension zu machen</a>: »Jahrelange Teilzeitbeschäftigung hat dramatische Auswirkungen auf das Lebenseinkommen von Frauen. Das zeigt eine neue WIFO-Studie im Auftrag des AMS anhand von mehreren hypothetischen Einkommensverläufen. Die Unterschiede je nach Höhe der (Teilzeit-)Arbeitszeit sind zum Teil beträchtlich. Wichtigster Faktor bei der Höhe des Lebenseinkommens bleibt aber die Berufswahl von Frauen. Fällt ein schlecht bezahlter Beruf und geringe Arbeitszeit zusammen, potenziert sich das in geringen Lebenseinkommen und Pensionen.«<br />
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In der Studie wurden Modellrechnungen durchgeführt, die den Einkommensgap je nach Dauer und Ausmaß von Teilzeitbeschäftigung, Berufsunterbrechungen und Karenzen in absoluten Zahlen darstellen. »Dabei zeigt sich, dass die Auswirkungen von Teilzeitbeschäftigung auf das „Lebenseinkommen“ beträchtlich sind. Mit Lebenseinkommen wird das Erwerbs- und Pensionseinkommen zusammengefasst. Aber es zeigt sich auch: Teilzeitbeschäftigung mit einem höheren Stundenausmaß (z. B. 30 Wochenstunden) bringt bereits deutliche Verbesserungen beim Lebenseinkommen gegenüber Teilzeit mit geringen Wochenstunden (< 25 Wochenstunden).«<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg4nk0JK4yvMEb_8VUuK6tKNOpt5WnlcdG3UGyWig_05svAXK_KvgPE_FGXb71PdIPiiA5dJ6c7AyW-riGanEJpYKDlYeYALfoT28bX4l3RbNIXWqOJjmBqxDup7aW7ExVEN0Nct8CLmWYx/s1600/AMS-Studie+Frauen+und+Pensionen.png" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="720" data-original-width="1552" height="185" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg4nk0JK4yvMEb_8VUuK6tKNOpt5WnlcdG3UGyWig_05svAXK_KvgPE_FGXb71PdIPiiA5dJ6c7AyW-riGanEJpYKDlYeYALfoT28bX4l3RbNIXWqOJjmBqxDup7aW7ExVEN0Nct8CLmWYx/s400/AMS-Studie+Frauen+und+Pensionen.png" width="400" /></a></div>
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»So sinkt das Bruttolebenseinkommen um beträchtliche 600.000 Euro, wenn nach einer zweijährigen Karenz durchgehend 20 Stunden Teilzeit gearbeitet wird, im Vergleich zu einer durchgehenden Vollzeitbeschäftigung nach einer kurzen Karenz- und Teilzeitphase (siehe Grafik). Kommt eine zusätzliche Erwerbsunterbrechung dazu, bis das Kind 15 Jahre alt ist, und wird im Anschluss in Teilzeit gearbeitet, entgehen Frauen (und Familien) durchschnittlich knapp 950.000 Euro brutto.« Dabei werden auch in der österreichischen Studie die enormen Einkommensunterschiede je nach Branche deutlich: »Die Bandbreite der betrachteten Erwerbsverläufe bei 45 Versicherungsjahren reichte von 2,3 Millionen Euro Bruttolebenseinkommen (Technikerinnen) und 1,2 Millionen Euro (Beschäftigte in der Gastronomie). Frauen, die im sogenannten Niedriglohnsektor oder in schlecht bezahlten Berufen tätig sind, haben also allein aufgrund ihrer Berufswahl mit enormen Nachteilen beim Lebenseinkommen zu rechnen.«<br />
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Dabei hatte und hat die expandierende Teilzeitarbeit vor allem der Frauen einen gewichtigen Anteil an der Beschäftigungsexpansion in Österreich (wie auch in Deutschland): »Zwar stieg die Frauenerwerbsquote in den letzten Jahrzehnten enorm an (+16,8 Prozent) und liegt nun bei 71,7 Prozent (Männerwerbsquote 80,7 Prozent, 2016), doch der Großteil dieses Zuwachses erfolgte über Teilzeitbeschäftigungsformen. Die weibliche Teilzeitquote in Österreich liegt mit 47,1 Prozent deutlich über dem EU-28-Schnitt von 31,9 Prozent. Nur in den Niederlanden ist die Teilzeitquote von Frauen höher als in Österreich.«<br />
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Auch das österreichische Renten- bzw. wie es dort heißt Pensionsmodell geht wie die deutsche Rentenformel von einem Arbeitszeit-Normmodell aus, das nur sehr wenige Frauen erfüllen (können). Das hat entsprechende Konsequenzen:<br />
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»Die Folgen langer Teilzeitbeschäftigung und fehlender Versicherungsjahre kumulieren sich und zeigen sich in der Höhe des Pensionsgaps zwischen Frauen und Männern. Der durchschnittliche „Pensionsgap“, also die Unterschiede bei den erworbenen Pensionsansprüchen zwischen Frauen und Männern, ist enorm und lag bei 37 Prozent bei den Pensionsneuzugängen in die Alterspension. Eine langandauernde Teilzeitbeschäftigung von 30 Wochenstunden reduziert die Monatspension um rund 20 Prozent, bei 20 Wochenstunden sind es sogar rund 40 Prozent.«<br />
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Und dabei muss man berücksichtigen, dass das Sicherungsniveau des österreichischen Rentensystems deutlich besser ist als in Deutschland.<br />
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Und hier bei uns trägt die Zunahme der Teilzeitarbeit - vor allem in ihrer eher kurzen Form (also unter 20 Stunden), von der für die Rente desaströsen Form der geringfügigen Beschäftigung mal ganz abgesehen - ganz maßgeblich zu dem von außen beeindruckenden Erfolg der Arbeitsmarktentwicklung, dem deutschen "Jobwunder", bei. Dazu ausführlicher und genauer die Ausführungen in dem Beitrag S<a href="https://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2017/05/dekomposition-erwerbstaetigenzahlen.html" target="_blank">ie wächst und wächst, "die" Beschäftigung. Aber welche eigentlich? Eine Dekomposition der Erwerbstätigenzahlen</a> vom 3. Mai 2017. Dort kann man diesen Passus finden:<br />
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»... auch aktuell entfallen die meisten zusätzlichen Erwerbstätigen auf den Bereich der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeit. Damit wird die langjährige Entwicklung fortgeschrieben. Das hat natürlich Auswirkungen, die sozialpolitisch bedeutsam sind. Und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen hat das eine geschlechterpolitische Dimension, denn Teilzeit ist immer noch primär eine Sache der Frauen. Hinzu kommt, dass Teilzeitarbeit überdurchschnittlich stark in Branchen vertreten ist, in denen wir mit einem niedrigen Lohnniveau konfrontiert sind - und selbst innerhalb der Branchen konnten Studien zeigen, dass es einen Lohnunterschied gibt zwischen Arbeitnehmern in Teil- und Vollzeit ... Sozialpolitisch besonders brisant ist die Tatsache, dass wichtige Teile unseres sozialen Sicherungssystems, von der Arbeitslosenversicherung bis hin (vor allem) zur Rentenversicherung, auf dem Modell der möglichst ohne Unterbrechungen praktizierten Vollzeit-Erwerbsarbeit mit einer (mindestens) durchschnittlichen Vergütung basieren, man denke hier nur an die Mechanik der Rentenformel (vgl. hierzu die §§ 64 ff. SGB VI). In der gesetzlichen Rentenversicherung hat man keine reale Chancen, eigenständig ausreichende Sicherungsansprüche aufzubauen, wenn man "nur" und das über längere Zeiträume Teilzeit arbeitet. In Kombination mit den Merkmalen "Frauen" und "Niedriglöhne" hat man dann - wenn keine anderweitige abgeleiteten ausreichenden Sicherungsansprüche existieren oder diese wegbrechen - eine sichere Quelle zukünftiger Altersarmut.«<br />
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Das ist nun wirklich seit langem bekannt - und (nicht nur) das wäre Grund genug, in einer Rentenkommission auch und gerade über notwendige Systemveränderungen in der Rentenversicherung nachzudenken. Aber so, wie die Kommission zusammengesetzt ist, muss es schon mit dem sozialpolitischen Teufel zugehen, wenn es dazu kommen würde. Querdenker und Experten, die bereit sind, die Systemfrage aufzurufen, die gibt es in der Kommission erkennbar nicht.<br />
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Stattdessen, aber das ist natürlich nur eine angesichts der massiven Verteilungswirkungen zuungunsten der Arbeitnehmer mit niedrigen Einkommen, brüchigen Erwerbsbiografien und weiteren Risikofaktoren frustrierte Hypothese, wird sich am Ende ganz viel um eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters drehen. Aber auch da könnte man sich die Arbeit sparen - wenn viele Leute nur lang genug arbeiten und vor oder wenigstens kurz nach dem dann späteren Renteneintritt versterben, dann haben wir auch kein Rentenproblem mehr.Unknownnoreply@blogger.com