Mittwoch, 15. März 2017

Die imaginären Standardrentner-Werte werden gefoltert, bis sie gestehen. Drohende Altersarmut wird weggerechnet

Die rentenpolitische Diskussion hat in den vergangenen Monaten wieder an Fahrt aufgenommen. Dabei wurde - auch durch Kampagnen aus dem gewerkschaftlichen Lager befeuert - das Augenmerk auf das weiter sinkende Rentenniveau gelenkt. Immer offensichtlicher wird auch dem normalen Bürger, mit was für einer gewaltigen Mechanik er es zu tun bekommt, wenn man sich die bestehende Rentenformel zu Gemüte führt und sie dahingehend befragt, was denn für eine Rente zu erwarten ist, wenn man sie so lässt, wie sie ist und zugleich die vor vielen Jahren beschlossene Absenkung des Rentenniveaus nicht korrigiert. Aber jeder Eingriff im Sinne eines Aufhaltens oder gar einer Umkehrung der Niveauabsenkung würde Geld kosten. Und da überrascht es angesichts eines umlagefinanzierten und aus lohnabhängigen Beiträgen gespeisten Systems nicht, wenn interessierte Kreise genau das verhindern wollen. Da trifft es sich immer gut, wenn man Schützenhilfe aus dem wissenschaftlichen Raum bekommt, die man ins Feld führen kann, wenn es um die erkennbar gestiegene Besorgnis einer zunehmenden Altersarmut aufgrund der Konstruktionsprinzipien der gegenwärtigen gesetzlichen Rentenversicherung geht.

Da passt so eine Botschaft gut ins Konzept: »Das Institut der Deutschen Wirtschaft kommt zum Ergebnis, dass auch bei weiter sinkendem Rentenniveau normale Arbeitnehmer nicht in der Grundsicherung landen«, berichtet Peter Thelen in seinem Artikel Altersarmut – ein Phantom? Das Handelsblatt bezieht sich auf eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.


Es geht dabei um diese Studie:

Jochen Pimpertz (2017): Kosten der schwarz-roten Rentenpolitik – eine Heuristik. Was kosten die zusätzliche Mütterrente und die abschlagfreie Rente mit 63? Reicht die Rente künftig noch über das Grundsicherungsniveau? IW policy paper 3/2017, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft, März 2017

Peter Thelen schreibt dazu in seinem Artikel: Ausgangspunkt sind die um sich greifenden Befürchtungen, »dass bei weiter sinkendem Sicherungsniveau der Rente vor Steuern in Zukunft auch eine „normale“ Erwerbsbiografie in vielen Fällen nicht mehr zu einer gesetzlichen Rente führt, die über das Grundsicherungsniveau im Alter hinausreicht.« Aber er kann Beruhigendes berichten: Das Institut der deutschen Wirtschaft kommt zu dem Ergebnis, dass dem nicht so ist. Wie das?

»Als klassisches Beispiel führt das IW den sogenannten Standardrentner an. Das ist jemand, der 45 Jahre immer ein Durchschnittseinkommen erzielt hat, von dem Rentenbeiträge abgeführt wurden. Ein solcher Arbeitnehmer hat, wenn er in Rente geht, 45 Entgeltpunkte auf seinem Konto. Multipliziert mit dem aktuellen Rentenwert für Westdeutschland von 30,45 Euro ergibt dies derzeit einen Rentenanspruch von 1.370 Euro in Westdeutschland, was einem Rentenniveau vor Steuern von 48,2 Prozent entspricht.
Nach geltendem Recht darf dieses Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent sinken. Wäre diese niedrigere Schwelle heute schon erreicht, käme der Standardrentner nur noch auf 1.222 Euro, rechnet das IW vor. „Für einen Single-Haushalt entspricht die Grundsicherung im Alter derzeit aber lediglich einem Äquivalent an monatlicher Bruttorente von schätzungsweise 850 Euro pro Monat“ schreibt das IW.«

Allein in diesem kurzen Passus sind nun mehrere überaus gut versteckte Fallen enthalten. Die sicherlich wichtigste ist die ominöse Figur des "Standardrentners", einer überaus beliebten Kunstfigur in der Rentenpolitik. Hierbei handelt es sich um einen Arbeitnehmer, der ohne irgendeine Unterbrechung 45 Jahre lang beitragspflichtig beschäftigt war und der in jedem dieser 45 Jahre immer das Durchschnittsentgelt der Gesetzlichen Rentenversicherung verdient und darauf Beiträge gezahlt hat.

Nun muss man sich an dieser Stelle einmal vergegenwärtigen, was das konkret bedeutet, das auch im Artikel zitierte "Durchschnittseinkommen". Im laufenden Jahr 2017 beträgt dieser Wert aktuell 37.103 Euro pro Jahr, das entspricht einem Bruttomonatseinkommen in Höhe von 3.092 Euro. Wenn man also genau diesen Monatsverdienst hat und darauf Beiträge an die Rentenversicherung abführt, dann bekommt man für ein Jahr genau einen Rentenpunkt. Und wenn man das 45 Jahre lang macht, dann kommt am Ende eben eine Monatsrente in Höhe der genannten 1.370 Euro in Westdeutschland heraus. Und schon sind wir bei der nächsten Falle, denn bei dem Betrag handelt es sich um die Bruttomonatsrente und brutto ist bekanntlich nicht gleich netto. Die Nettorente würde sich auf 1.220,21 Euro belaufen, gut 11 Prozent weniger. Wohlgemerkt, für ein sehr langes Arbeitsleben mit einem immer durchschnittlichen Verdienst. Kein wirklich hoher Betrag.


Nun ist das mit Durchschnittswerten immer so eine Sache und ein beliebtes Bonmot aus Statistiker-Kreisen geht so: Wenn man eine Hand auf der heißen Herdplatte und die andere auf einer kalten hat, dann ist einem durchschnittlich gesehen lauwarm und damit hat man einen angenehmen Zustand, was natürlich in praxi der einen Hand nicht wirklich weiterhelfen würde.

Und die beiden Abbildungen verdeutlichen, wie es in der Wirklichkeit aussieht hinsichtlich der Streuung der Bruttomonatsverdienste. Und die ist erheblich. Millionen Arbeitnehmer/innen in diesem Land haben eben keine mehr als 3.000 Euro pro Monat brutto in der Tasche, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen. Und man kann sich schnell selbst ausrechnen, was es für die Rente bedeutet, wenn man statt mit mehr als 3.000 Euro mit 2.000 Euro oder noch weniger, weil man beispielsweise auf einem Arbeitsplatz arbeiten muss, der nach dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet wird, auskommen muss. Diese Menschen - es sei denn, sie steigen auf und würden später überdurchschnittlich viel verdienen, was nur in den seltensten Fällen gegeben sein wird - werden schon biologisch nicht in der Lage sein, um beispielsweise bei einer Entgeltposition von 0,5 oder 0,6 in die Nähe einer Rentenposition zu gelangen, die den 1.370 Euro brutto bei den Durchschnittsverdienern entspricht, denn 80 oder 90 Jahre beitragspflichtige Arbeit sind nicht nur von der Vorstellung gruselig, sondern natürlich auch völlig unrealistisch.

Und nun kann man sich sicherlich ohne Hilfe großer Studien vorstellen, dass von den vielen Menschen, die Löhne haben, die unterhalb des "Durchschnittseinkommens" liegen, zugleich auch viele kaum bis gar keine Möglichkeiten haben, ergänzend für das Alter vorzusorgen, weil sie mit dem Geld im Hier und Jetzt schon kaum über die Runden kommen, weil sie kein Wohneigentum erwerben können, weil die bei den Betriebsrenten im Regelfall ausgeschlossen sind. Die also im Alter vor allem bis ausschließlich auf die Leistungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen sein werden bzw. dann auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem oder die nur deshalb nicht bekommen, weil sie (noch) mit einem Partner zusammenleben, dessen Einkommen sie über die Bedürftigkeitsschwelle heben. Und wie sich das, was diese vielen Menschen aus der Rente bekommen und das, was es aus dem Grundsicherungssystem gibt, immer mehr annähert, wurde bereits am 8. Oktober 2016 in diesem Blog-Beitrag beschrieben: Das große Durcheinander um Rentenniveau, Niveau der Renten, Rente als Wahlkampfthema. Und eine rechnerische Gewissheit mit fatalen Folgen.

Auch der Verfasser der IW-Studie sollte diese Zusammenhänge kennen und so ist dann wohl auch dieser Passus zu verstehen, den man dem Artikel von Peter Thelen entnehmen kann:

„Die Ergebnisse der Modellrechnung sind mit Vorsicht zu interpretieren“ so Jochem Pimpertz, Rentenexperte beim IW. „In der Realität können die Biografien der gesetzlich Versicherten zum Teil deutlich von den Modellannahmen abweichen.“ Sei es auf Grund längerer Ausbildungszeiten, familiärer Auszeiten, Phasen der Arbeitslosigkeit und Umschulung oder vorübergehender Teilzeitbeschäftigung.
„Deshalb vermitteln durchschnittliche Werte oftmals einen falschen Eindruck, wenn man sie mit dem konkreten Einzelfall konfrontiert.“

Genau so werden das Millionen von Arbeitnehmern sehen müssen, wenn sie sich mit dem Standardrentner auseinandersetzen würden. Und mit dem voraussetzungsvollen Rentenversicherungsleben, die der hinter sich gebracht haben muss, um auf etwas mehr als 1.100 Euro Rente im Monat kommen zu können.