Dienstag, 20. Dezember 2016

Sprachlosigkeit und Sprachprobleme bei Kindern weiter auf dem Vormarsch. Aber auch: Ambivalenz einer therapeutischen Lösung "des" Problems

Sprache ist eine elementare Angelegenheit. Dies nicht nur hinsichtlich ihrer Bedeutung für das spätere Leben, die Positionierung im Bildungssystem und die berufliche Entwicklung. Sondern auch hinsichtlich der Verständigung mit anderen sowie dem Inklusions- bzw. Exklusionseffekten, also das (Nicht-)Dazugehören, oftmals über Sprache vermittelt. Ihre Entwicklung und Ausdifferenzierung wird maßgeblich im Kindes- und Jugendalter vorangetrieben oder auch gehemmt. Vor diesem Hintergrund müssen solche Meldungen beunruhigen: »Immer öfter diagnostizieren Ärzte laut einer Studie Störungen bei der Sprachentwicklung. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen«, kann man diesem Artikel von Julia Emmrich entnehmen: Jedes achte Kind in Deutschland hat Sprachprobleme.

»Die Zahl der Kinder mit Sprachproblemen hat deutlich zugenommen. Kinderärzte diagnostizierten im vergangenen Jahr bei jedem achten Kind im Alter von fünf bis 14 Jahren Störungen bei der Sprachentwicklung. Vier Jahre zuvor hatte nur jedes Zehnte in dieser Altersgruppe Defizite.«

Klar erkennbar in den Daten ist eine Unwucht zwischen den Geschlechtern: Während im letzten Jahr 9,4 Prozent der Mädchen zwischen fünf und vierzehn Jahren von Kinderärzten Sprachdefizite bescheinigt bekamen, waren es bei den Jungen 14,4 Prozent.

Interessant ist auch dieser Aspekt: Es gibt anders als in vielen anderen Bereichen kaum regionale Unterschiede, was den Anstieg angeht. »In Hamburg und Schleswig-Holstein, aber auch in Berlin oder Sachsen stieg der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Störungen bei der Sprachentwicklung wie im Bundesdurchschnitt innerhalb der letzten vier Jahre von rund zehn Prozent auf zwölf Prozent an, in Brandenburg von elf auf 13 Prozent, in Bayern von neun auf zwölf Prozent, in Thüringen von neun auf elf«, berichtet Julia Emmrich in ihrem Artikel. Sie bezieht sich dabei auf Daten der Krankenkasse BARMER GEK:

Thomas Brechtel, Nils Kossack und Daniel Brandt (Hrsg.): BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2016. Analysen zur Heil- und Hilfsmittelversorgung in Deutschland Band 41, Siegburg 2016

Hochgerechnet auf alle gesetzlich versicherten Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren diagnostizierten die Kinderärzte laut Studie bei rund 715.000 jungen Patienten Sprachstörungen. 2011 waren es noch 648.000 Kinder.

Die Entwicklungen werden auch von anderer Seite bestätigt: In den vergangenen zehn Jahren hat nach einer Analyse der AOK die Verordnung von Sprachtherapien für Kinder um ein Viertel zugenommen. So erhalte zum Beispiel inzwischen jeder vierte sechsjährige Junge diese Hilfe, teilte das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO)  im Heilmittelbericht 2016 mit. Auch hier finden wir vergleichbare Werte und das WIdO liefert eine weiterführende Einordnung der Daten:

»Fast 380.000 Kinder bis 14 Jahre und damit 12 Prozent der AOK-versicherten Kinder waren 2015 in Heilmitteltherapie, von den Jungen 14,1 Prozent und von den Mädchen 9,8 Prozent. Drei Lebensphasen, in denen besonders viele Kinder therapiert werden, werden bei der Analyse der Kindertherapien sichtbar: die ersten beiden Lebensjahre, in der physiotherapeutische Maßnahmen dominieren, die Zeit kurz vor der Einschulung mit dem Schwerpunkt auf sprachtherapeutischen Maßnahmen und die Zeit kurz nach der Einschulung, in der sich zur sprachtherapeutischen Behandlung noch die ergotherapeutische Inanspruchnahme gesellt.
Deutlich wird, dass insbesondere die sechsjährigen Kinder beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule häufig mit sprachtherapeutischen Maßnahmen unterstützt werden. Von den sechsjährigen Jungen werden 23,7 Prozent mit Sprachtherapien behandelt, bei den sechsjährigen Mädchen liegt der Vergleichswert bei 16,2 Prozent. Die Rate der Kinder, die in diesem Alter mit einer Logopädie behandelt werden, befindet sich seit Jahren auf hohem Niveau.«

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte beobachtet seit Jahren, dass Sprachdefizite zunehmen. „Wir müssen dabei aber zwischen medizinischen und sozialen Ursachen unterscheiden“, sagte Sprecher Hermann Josef Kahl. Bei medizinischen Gründen gehe es zum Beispiel um Lispeln, Lallen oder auch um Hörprobleme oder geistige Behinderungen, so dieser Artikel: Zahl der Kinder mit Sprachproblemen nimmt zu. Weitaus häufiger seien heute jedoch soziale Ursachen wie mangelnde Deutschkenntnisse von Kindern mit ausländischen Wurzeln. Oder Mütter und Väter, die mit ihren Kindern zu wenig Sprechen übten. „Wir werden meist von Eltern bedrängt, ihre Kinder zum Logopäden zu schicken. Wir sehen hier aber oft zuerst auch die Eltern in der Pflicht“, wird Kahl zitiert.

Und da schimmert sie durch, die Ambivalenz der skizzierten Entwicklung. Dabei geht es gar nicht primär um die Frage, ob die Sprachprobleme wirklich insgesamt so deutlich zugenommen hat oder - im Sinne eines Messproblems - heute schlichtweg mehr Kinder rechtzeitig diagnostiziert werden. Dazu nur ein Hinweis: Rund 90 Prozent der Eltern nehmen mit ihrem Nachwuchs Vorsorgeuntersuchungen bei Kinderärzten wahr. Im Alter zwischen zwei und drei Jahren fallen dabei Sprachdefizite auf. Das mag früher anders gewesen sein. Hinzu kommt natürlich eine andere Zusammensetzung der Grundgesamtheit, vor allem durch einen höheren Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund: »Dabei sei es bei Migranten manchmal schwer zu beurteilen, ob das Kind wirklich ein Sprachproblem habe oder nur schlecht Deutsch verstehe und in seiner Muttersprache gut zurecht komme«, wird der Sprecher der Kinder- und Jugendärzte zitiert.

Sondern es geht vor allem um diesen, von den Medizinern selbst angesprochenen Punkt:

»Eine reine „Medikalisierung“ dieser Defizite durch Therapien hält der Berufsverband ohne genaue Ursachenanalyse für falsch. Eine Stunde Therapie in der Woche könne zum Beispiel nicht ausgleichen, was über Jahre zu Hause versäumt worden sei. Eine bessere Elternberatung und gezieltere Ausbildung von Erziehern und Lehrern sei hilfreicher.«

Wieder einmal zeigt sich auch an dieser Stelle, dass bei aller individuellen Bedeutung, die therapeutische Interventionen haben, die Einbettung in den familiären und gesellschaftlichen Kontext nicht vergessen werden darf, wenn es wirklich um eine Milderung des Problems gehen soll. Da ist sicher noch eine Menge zu tun.