Montag, 28. November 2016

Schloss Salem & Co. als lebender Verfassungsverstoß? Wieder einmal die Privatschulen und die - viel größere - Frage nach der Selektion im Bildungssystem


Was für eine Überschrift: "Würde man das Grundgesetz ernst nehmen, müsste Schloss Salem geschlossen werden", so die Süddeutsche Zeitung. Muss etwa Karlsruhe höchstselbst einschreiten gegen die Privatschulen im tiefen Süden des Landes? Susanne Klein scheint in ihrem Artikel ein gewichtiges Geschütz aufzufahren: »Kinder von Eltern mit hohem Einkommen besuchen deutlich häufiger Privatschulen als Kinder von Eltern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Das ist Realität. Doch ist es auch rechtens? Mit dem sozialen Ungleichgewicht an staatlich anerkannten Schulen in freier Trägerschaft befasst sich eine ... Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Untersuchung geht der Frage nach, welchen Anteil die Schulpolitik daran hat, dass sich viele der 5770 Privatschulen in Deutschland sozial abschotten. Die Antwort des Wissenschaftszentrums lässt sich in einem Vorwurf bündeln: Bei ihren Regeln und Kontrollen für Privatschulen missachten die meisten Bundesländer das Grundgesetz.« Das macht neugierig, also schauen wir einmal vorbei beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Dort finden wir unter der Überschrift Genehmigung von Privatschulen: Bundesländer missachten Grundgesetz diese Informationen: »Die laut Verfassung verbotene „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ an Privatschulen wird durch die Schulpolitik und Verwaltungspraxis unterlaufen. Die vom Grundgesetz beabsichtigte soziale Durchmischung der Privatschulen findet nicht statt. Das belegen Michael Wrase und Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in einer Studie, die jetzt in der Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht erschienen ist.« Es handelt sich um diese, nicht frei zugängliche Arbeit:

Michael Wrase und  Marcel Helbig: Das missachtete Verfassungsgebot – Wie das Sonderungsverbot nach Art. 7 IV 3 GG unterlaufen wird, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Heft 22/2016, S. 1591 ff.

Im Zentrum der kritischen Überlegungen steht mit Artikel 7 Absatz 4 GG die Verfassung unseres Landes. Die Platzierung des Gewährleistungsrechts, Privatschulen einrichten zu dürfen (Art. 7 GG zählt zu den Grund- und Menschenrechten), resultiert aus der Erfahrung im Nationalsozialismus. Um eine Gleichschaltung der Bildung zu vermeiden, wird das Bestandsrecht von Schulen in freier Trägerschaft garantiert. Vor allem der Satz 3 des Artikels ist hier von Relevanz:

»(4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.«

Es gibt also einen Anspruch auf Genehmigung einer privaten Schule, wenn "eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird."
Man ahnt es schon - in der wirklichen Wirklichkeit geht es wieder einmal um das Geld (und das in mehrfacher Hinsicht, wie wir noch sehen werden). Bei den Privatschulen geht es vor allem um das Institut des Schulgeldes, mit dem man natürlich, je nach Ausgestaltung und vor allem Höhe, steuern und lenken kann, wenn man will (oder muss):

Aus der bisherigen Rechtsprechung haben die beiden Wissenschaftler neun Grundsätze abgeleitet, die eine effektive Einhaltung des Sonderungsverbots (Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG) gewährleisten müssten.
Wrase und Helbig haben dann einschlägige Gerichtsurteile und Gesetze sowie Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften der Bundesländer ausgewertet hinsichtlich einer »Konkretisierung des Sonderungsverbots in Landesgesetzen, Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften; die Benennung einer Höchstgrenze für das Schulgeld; die Befreiung vom Schulgeld für Geringverdiener bzw. Sozialleistungsempfänger und die Kontrolle der Aufnahmepraxis.«

Das Ergebnis ihrer Analyse ist ernüchternd: »Von den 16 Bundesländern erfüllen nur Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zumindest fünf der neun Grundsätze. Bundesländer wie Thüringen oder Bremen beachten keine dieser Vorgaben«, berichtet das WZB. Die Befunde kommen ernüchternd daher (vgl. auch die Übersicht über die Regelungen zum Sonderungsverbot in den deutschen Bundesländern):

»Die Mehrheit der Länder konkretisiert das Sonderungsverbot nicht in eigenen Landesgesetzen. Für Genehmigungsbehörden und Schulträger ist somit nicht klar, wie Schulgelder ermittelt und bis zu welcher Höhe sie erhoben werden können. „Diese gesetzliche Nicht-Regelung fordert eine uneinheitliche Verwaltungspraxis geradezu heraus“, schreiben die Forscher.
So benennen die meisten Länder gar keine Höchstgrenze für das Schulgeld. In Ländern mit einer Obergrenze liegt diese über den 160 Euro, die von der Rechtsprechung als Maximum für das durchschnittliche Schulgeld angesehen wird. In Berlin wird den Privatschulen sogar gewährt, 100 Euro und mehr monatliches Schulgeld von SGB II-Empfängern zu erheben.
Die tatsächliche Aufnahmepraxis an den Privatschulen auf Einhaltung des Sonderungsverbots wird von keinem einzigen Bundesland überprüft.«

Das ist tatsächlich verfassungsrechtlich problematisch, denn das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen die „strikte“ Einhaltung des Sonderungsverbots gefordert und dies zur Grundlage der staatlichen Förderung von Privatschulen gemacht. Nur wenn die Zulassung in der Praxis unabhängig vom Einkommen der Eltern erfolgt und dies auch effektiv kontrolliert wird, werde eine Sonderung der Kinder durch die Genehmigung der Ersatzschule nicht gefördert.

Das muss man vor dem Hintergrund sehen, dass Selektion bei der Zulassung nicht nur wegen des Schulgeldes zu befürchten sei, sondern weil Privatschulen lieber Schüler mit einkommensstarken Eltern aufnehmen würden, da diese die Schule mit Spenden und sonstigem materiellen Engagement unterstützen. Im Ergebnis führt das dann zu solchen Schlagzeilen: „Bei Privatschulen ist soziale Selektion Programm“:

»Wrase und Helbig verweisen darauf, dass der Anteil des Privatschulbesuchs bei Kindern, von denen mindestens ein Elternteil Abitur hat, zwischen 1997 und 2007 um 77 Prozent angestiegen ist, bei Kindern mit Eltern, die die mittlere Reife besitzen, hingegen nur um 1,9 Prozent. Kinder von Eltern in den sozial höchsten Berufsgruppen (etwa Ärzte, Ingenieure, Lehrer, Professoren) seien zu 14,3 Prozent auf Privatschulen. Kinder von Industriearbeitern, Taxifahrern oder Reinigungskräften nur zu 3,5 Prozent.«


Die Lage ist verworren, wenn man etwas genauer hinschaut. Beispiel Berlin:
»Die Autoren der Studie kritisieren, inzwischen habe sich eine Reihe von Privatschulen etabliert, die eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen ihrer Eltern „geradezu zum Programm gemacht haben“. In Berlin seien die „Berlin Cosmopolitan School“ und die „Berlin Metropolitan School“ solche Fälle, internationale Schulen mit Standorten in Mitte und Prenzlauer Berg. Erstere erhebe zwar gestaffelte Beiträge – allerdings ab 135 monatlich aufwärts, wobei für das obligatorische Nachmittagsprogramm noch einmal 105 Euro dazukommen. Selbst auf der günstigsten Stufe – für Einkommen bis 30 000 Euro – koste die Schule also 245 Euro. Ermäßigungen oder gar Befreiungen seien bis auf begrenzte Stipendien nicht vorgesehen. Ähnlich sehe das Schulgeld bei der Berlin Metropolitan School aus, auf der Webseite „World’s Luxury Guide“ werde sie als Privatschule von „Schauspielern, Medienschaffenden und Unternehmern“ gepriesen. Aufgrund ihrer Gebühren und ihres Konzepts hätten beide Schulen „von vorneherein nicht genehmigt werden dürfen“, heißt es in der Studie.«

Der Berliner Senat hat zwischenzeitlich schon auf die WZB-Studie reagiert: Berlin will Vorwürfe gegen Privatschulen prüfen.

Und Susanne Klein berichtet in ihrem Artikel: »Für besonders besorgniserregend halten die Wissenschaftler die Situation bei den als sozial engagiert geltenden Reformschulen und nennen ein Beispiel aus Berlin-Kreuzberg: Dort erhebt die Freie Waldorfschule je nach Einkommen monatlich bis zu 730 Euro pro Kind, mindestens aber 110 Euro - in einem Bezirk, in dem mehr als 40 Prozent der unter 15-Jährigen Sozialleistungen empfangen.«

Aber da gibt es auch eine andere Position: » Geschäftsführerin Martina Plümacher wirft den Autoren vor, nicht richtig recherchiert zu haben. Es gebe einen von den Eltern organisierten Solidarkreis an der Schule, sozial benachteiligte Eltern könnten darüber sehr wohl weitere Erlasse der Gebühren beantragen, die dann andere Eltern übernehmen, sagt Plümacher. De facto würden dadurch von den insgesamt 731 Schülerinnen und Schülern 70 Kinder weniger als 70 Euro zahlen, weitere 177 zwischen 70 und 100 Euro.«

Außerdem wird berichtet: »So ist die soziale Zusammensetzung an den katholischen Schulen in Berlin verschieden, heißt es aus dem Erzbischöflichen Ordinariat. In Neukölln seien bis zu 50 Prozent komplett vom Schulgeld – 55 bis 80 Euro im Monat – befreit, im Westend kaum einer.«

Das verweist zugleich darauf, dass das, was sich hinter dem scheinbar eindeutigen Begriff "Privatschulen" verbirgt, von ausgeprägter Heterogenität ist. Viele Menschen denken - ob bewusst oder unbewusst - bei Privatschulen an elitär daherkommende Einrichtungen wie Schloss Salem aus der Welt der Internate. Andere haben eher konfessionelle, also vor allem katholische und evangelische Schulen vor Augen oder eine Waldorfschule. Das sind alles Schulen, die unter dem Sammelbegriff Privatschule subsumiert werden. Von den über 5.700 Privatschulen sind zwei Fünftel berufliche Schulen.

Zwischenfazit: Es gibt ein in der Verfassung verankertes Recht auf Einrichtung von Privatschulen, zugleich aber schreibt das Grundgesetz auch vor, dass es keine "Sonderung" der Schüler nach dem Einkommen der Eltern geben darf, was aber faktisch durchaus der Fall ist. Aber wie finanzieren sich dann die Privatschulen? Dazu Anja Kühne, Tilmann Warnecke und Amory Burchard in ihrem Artikel:

»Da die Privatschulen ihre Schüler nicht gemäß dem Portemonnaie ihrer Eltern auswählen dürfen, steht ihnen staatliche Unterstützung zu – das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil von 1987 festgestellt. Der Anspruch besteht aber nur, um das „Existenzminimum“ der Privatschulen zu sichern.
In der Praxis erhalten Schulen in freier Trägerschaft immer staatliche Zuschüsse, im Schnitt zwei Drittel der Schülerkosten«, so der Verband Deutscher Privatschulverbände (VDP).
Dabei würden Kosten für die Instandhaltung der Gebäude, für Reinigung und für Materialkosten oft nicht berücksichtigt.«

Die Privatschulen wollen die Kritik der Wissenschaftler nicht auf sich sitzen lassen.

»Die Studie sei ärgerlich und in der Summe falsch, erklärte Pater Siebner, Rektor des Aloisiuskollegs in Bonn-Bad Godesberg. Entsprechend der Vorgabe des Landes Nordrhein-Westfalen, das Schulgeld generell verbiete, werde am AKO gar kein Schulgeld genommen. Dafür kostet das angeschlossene Internat rund 1.600 Euro im Monat«, kann man dem Bericht Elite-Internate dürfte es in Deutschland eigentlich nicht geben des Deutschlandfunks entnehmen.
Das Aloisius-Kolleg ist ein Gymnasium mit rund 740 Schülern, von denen 80 im dazugehörigen Internat wohnen. »Für die Externen würden lediglich Gebühren für die Übermittagsbetreuung von 115 Euro im Monat erhoben, auch für Sport und Nachmittagsangebote würden zusätzliche Gebühren berechnet. Und man würde von den Eltern außerdem erwarten, für den Förderverein zu spenden. Es gebe Stipendien sowohl für das Internat als auch für die Übermittagsbetreuung.«

Der Schulleiter ist offensichtlich stinksauer über die Studie (und ihre mediale Resonanz):

"Natürlich gibt es hier ein bürgerliches Milieu, das sich hier an der Schule wiederfindet, das kann man als wohlhabend, meinetwegen auch als elitär bezeichnen, was auch immer die beiden Herren damit meinen, aber wir haben hier das Ländchen, wir haben hier einfache Handwerkerfamilien, wir haben hier Hartz-IV-Empfänger an der Schule. Wir haben syrische Flüchtlingskinder bei uns an der Schule, ich weiß gar nicht, was die wollen!"

 Wie hoch der Anteil der Stipendien und der syrischen Flüchtlingskinder ist, bleibt jedoch offen. Hier müssten - eigentlich - die Bundesländer für Transparenz sorgen.

Und was sagt der Dachverband der Privatschulen, der VDP? Der meldet sich unter dieser Überschrift zu Wort: WZB-Studie: Privatschulen werden nicht ausreichend finanziert. Man stellt auf das alte Finanzierungsdilemma ab: »Privatschulen haben grundsätzlich zwei Einnahmequellen: den aus der Verfassung garantierten Zuschuss und das Schulgeld. Grundlage für den Zuschuss sind die Kosten, die an einer Schule entstehen. Je nach Bundesland erhalten Privatschulen allerdings einen unterschiedlich hohen Ausgleich davon. Dieser reicht in den meisten Fällen nicht aus, um die Gebäude-, Sach- und Personalkosten zu decken. Die restlichen Kosten müssen über das Schulgeld gedeckt werden.« Der Präsident des VDP, Klaus Vogt, wird mit diesen Worten zitiert: „Dies bedeutet, dass durch eine ausreichende staatliche Finanzierung private Schulen auf die Erhebung von Schulgeld verzichten könnten“.

Hinsichtlich der in der WZB-Studie kritisierten Schulgeldhöhe fordert der VDP eine Differenzierung: »Je nach Angebot sind Extraleistungen wie zum Beispiel Ganztagsbetreuung, Unterbringung oder Verpflegung im Schulgeld enthalten. Diese Leistungen dürfen beim Vergleich mit staatlichen Schulen nicht berücksichtigt werden. Um soziale Härten zu vermeiden und möglichst allen Interessenten den Schulbesuch zu ermöglichen, gibt es an privaten Schulen zum Beispiel Stipendien oder Geschwisterermäßigungen.«

Aber genau hinsichtlich des letzten Punktes gibt es - so die WZB-Kritik - eine erhebliche Intransparenz.

Auch der Bund der Freien Waldorfschulen - der Verband der derzeit 238 Waldorfschulen in Deutschland - stößt ins Finanzierungshorn: Bundesländer missachten Grundgesetz – Freie Waldorfschulen fordern eine deutliche Verbesserung der öffentlichen Finanzierung für Ersatzschulen, so ist deren Pressemitteilung überschrieben. Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, wird mit diesen Worten zitiert:

„Freie Schulen werden durch die zu niedrigen Finanzhilfen überhaupt erst in eben jene private Nische gedrängt, die man ihnen anschließend zum Vorwurf macht. Wir haben es, jedenfalls bei den gemeinnützigen Schulträgern, mit einer gesetzlich erzeugten Sonderung zu tun.“

Im Bundesdurchschnitt bekommen die Freien Waldorfschulen 71,97 Prozent ihrer Betriebskosten aus öffentlichen Mitteln erstattet. Der Rest wird durch Schulgelder und Spenden finanziert. Ein Schüler einer allgemeinbildenden Schule kostete nach aktuellen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2013 im Bundesdurchschnitt rund 7.100 Euro. Die Zuschüsse für Freie Waldorfschulen liegen hingegen im Durchschnitt bei 4.820 Euro.

Ebenfalls zu Wort gemeldet hat sich der Bildungsjournalist Christian Füller mit einer durchaus als ätzend zu bezeichnenden Kritik an der WZB-Studie in diesem Blog-Beitrag: Sturm auf Salem & Co? Das Zitat „Würde man das Grundgesetz ernst nehmen, müssten Schulen wie Schloss Salem oder das Bonner Aloisiuskolleg sofort geschlossen werden“ von Marcel Helbig könnte für Füller direkt aus dem Wohlfahrtsausschuss stammen. Und weiter:

Die Behörden »sollten den Privatschulen auf die Finger schauen, aber sie sollten dann endlich aufhören, ihnen auf die Finger zu hauen. Denn das Problem der Privatschulen – und des deutschen Bildungssystems – ist nicht, dass die soziale Spaltung etwa durch sie produziert würde. Sondern dass der Staat Privatschulen zu schlecht fördert. Und sie so zwingt, teure Schulgebühren zu erheben. Und wegen denen er sie nun wieder zusperren soll.«

Wenn man wirklich gegen die "Sonderung" der Schüler vorgehen wollte, dann sollten die "Bildung-Jakobiner", so die beißende Terminologie von Füller, lieber weiter ziehen. Zum Gymnasium an sich, denn darüber komme die eigentliche Sonderung in die Welt. Die empirischen Befunde dafür, dass die Gymnasien die Gesellschaft sozial spalten, seien erdrückend. Und er kommt dann so richtig in Fahrt, wenn er schreibt:

»Man kann gerne ein paar Privatschulen auflösen, das deutsche Bildungssystem wird dadurch keinen Deut gerechter. Denn entscheidend ist, und das lehrt uns jede Pisastudie aufs Neue, die Zahl der Risikoschüler zu verringern, jene also, die am unteren Ende stehen, die ein Blatt Papier lesen, aber nicht wiedergeben können, was darauf steht. Das ist das deutsche Gerechtigkeitsproblem.«

Und auch bei ihm taucht das Beispiel Berlin auf: So beklagt er die Entscheidung des Bezirks Berlin, eine Privatschule verhindert zu haben, die dazu gedacht war, gerade Migrantenkinder zu fördern (vgl. dazu auch sein Artikel Privates Engagement für Schüler? Nicht in Kreuzberg! aus dem Mai 2016).
»Kreuzberg hat weiter mit das miserabelste Schulsystem Deutschlands. In Kreuzberg liegt die Zahl der Drittklässler, die kaum lesen können, zwischen 38 (Kreuzberg Süd) und 46 Prozent (Kreuzberg Nord)«, so Füller.

Wie so oft werden wir mit einer Grundsatzfrage konfrontiert, die man nicht hat beantworten wollen oder können und deshalb einfach liegen gelassen hat. Will ich ein möglichst homogenes staatliches Schulsystem mit Schulen, die sich in staatlicher Trägerschaft befinden oder will ich mit den Privatschulen auch andere Trägerschaften zulassen. Und wenn ja, warum eigentlich? Weil es die schon immer irgendwie gab? Oder weil das Wahlrecht der Eltern ein hohes Gut ist, das man nicht so einfach über Bord werfen kann und sollte? Und/oder weil wenigstens etwas Wettbewerb auf der Ebene der Konzepte einem staatlichen Schulsystem nur gut tun kann?

Und auch wenn man es mal den reichen Eltern von Salem & Co. zeigen wollte und alle Privatschulen schließen würde - ändern sich dann die Verhältnisse in den öffentlichen Schulen? Werden die ausgeschlossenen Kindern in Folge besser betreut und gebildet?

Auf der anderen Seite ist natürlich klar, wo es klemmt und weh tut: Sollte man die Grundsatzentscheidung für die Heterogenität der Schullandschaft treffen, dann müsste man konsequenterweise eine Finanzierung finden, die nicht zu einer strukturellen Benachteiligung der Privatschulen führt, also einfach gesagt: das würde teurer werden als heute. Damit die Privatschulen das "Sonderungsverbot" auch wirklich umsetzen können, ohne sich in das eigene existenzielle Fleisch schneiden zu müssen. Was aber macht man dann mit dem staatlichen Schulsystem, wenn die Eltern mit den Füßen abstimmen würden und der Zulauf an den Privatschulen stärker wird als heute?
Auf der anderen Seite sollte man berücksichtigen, dass nur jeder 11. Schüler in Deutschland eine Privatschule besucht. Die ganz große Mehrheit geht weiter an eine mehr oder weniger ordentliche staatliche Schule. Aber Gefühl bleibt, dass die sicher nicht weniger Wettbewerb brauchen als sie heute (noch) haben.

Foto: © Stefan Sell