Sonntag, 9. Oktober 2016

Experimente an Lebenden mit kleiner Dosis. In Finnland und den Niederlanden geht es um ein bedingungsloses Grundeinkommen light und Sozialhilfe-Laborversuche

Das Thema bedingungsloses Grundeinkommen bewegt. Für die einen handelt es sich um ein unrealistisches Unterfangen, dass nicht finanzierbar sei (oder wenn, dann auf einem "Hartz IV light"-Niveau), was eine Verschlechterung im Vergleich zu heute bedeuten könnte. Die anderen sehen darin einen ultimativen Lösungsansatz für zentrale gesellschaftliche Probleme und verweisen auf den emanzipatorischen Gehalt eines ordentlich dimensionierten Grundeinkommens.
Nun gab es vor kurzem im Umfeld der Volksabstimmung in der Schweiz eine erneute Aufmerksamkeitswelle für dieses Instrument, auch wenn die Abstimmung selbst für die Befürworter ziemlich deutlich gescheitert ist (vgl. dazu den Beitrag Mit dem Herz dafür, aber mit dem Kopf dagegen? Oder mit dem Verstand dafür, aber ohne Herz? Das "bedingungslose Grundeinkommen" ist (nicht) krachend gescheitert vom 7. Juni 2016).

Aber die Diskussion über das Thema wird weitergehen, auch in Deutschland. Hier wird sogar über eine Parteineugründung berichtet (vgl. aus der Berichterstattung darüber beispielsweise Geld für alle, und zwar schnell sowie Bündnis gründet Grundeinkommenspartei). In diesen Kreisen wird jede mögliche Aufmerksamkeit für das Projekt natürlich mit Sympathie aufgenommen und verbreitet. Und dazu gehört auch der Verweis, dass in anderen Ländern bereits erste Umsetzungsschritte eingeleitet werden. Also angeblich.

Da passen natürlich solche Schlagzeilen, vor allem, wenn die Leser nur die Überschriften zur Kenntnis nehmen: Finnland wagt das Grundeinkommen. Liest man weiter, so stößt man sogleich auf die Relativierung: »Das skandinavische Land startet das interessanteste sozialpolitische Experiment des 21. Jahrhunderts. 2000 arbeitslose Bürger sollen monatlich 560 Euro bekommen, ohne dass irgendeine Bedingung an die Auszahlung geknüpft ist«, so André Anwar.

Wir haben es also mit einem Experiment zu tun, von dem wir erfahren, dass sich »nach langem Hin und Her und vielen Szenarien der staatlichen Rentenanstalt Kela ... die rechtsliberale Regierung in Helsinki entschlossen (hat), 2000 arbeitslosen Bürgern zwei Jahre lang 560 Euro monatlich auszuzahlen. Das Geld ist steuerfrei und an keinerlei Bedingungen geknüpft. Die Bürger werden zufällig ausgesucht. Wer unter den Empfängern staatlicher Leistungen ausgewählt wird, muss mitmachen. Zwischen 25 und 58 Jahre als sollen die Probanden sein. Sie müssen bislang Arbeitslosenhilfe erhalten haben. Arbeitssuchende, die bereits höhere Sozialleistungen erhalten, sind vom Auswahlverfahren ausgeschlossen. Das Grundeinkommen soll keine Bestrafung sein.«

Was dort also bereits seit längerem geplant und nun auf die Zielgerade gesetzt wurde, bringt Bengt Arvidsson in der Überschrift seines Artikels so auf den Punkt: Finnland testet Grundeinkommen light.
Zacharias Zacharakis berichtet in seinem Artikel 560 Euro, einfach so, den finnischen Wirtschaftsminister Olli Rehn, der vor 2015 Währungskommissar der Europäischen Union war, zitierend:

"560 Euro ist nicht weniger, als man durch Sozialhilfe und andere Leistungen in Finnland jetzt schon bekommt", sagt Rehn. Der wichtigste Unterschied sei aber: "Jeder Euro, den man dazuverdient – auch in einem Niedriglohn- oder Teilzeitjob – wird das Einkommen der Menschen erhöhen." Dieser Verdienst komme zum Grundeinkommen hinzu und werde nicht mit der Sozialhilfe verrechnet wie bisher – und wie es auch in Deutschland üblich ist ... "Das wichtigste Ziel ist herauszufinden, wie wir die Anreize zur Arbeit erhöhen können", sagt Rehn. Obwohl ja gleichzeitig die soziale Absicherung gewährleistet sein soll. Es ist die größte Unbekannte in der Diskussion um ein Grundeinkommen, die Frage nach dem Menschenbild: Ist ein Bürger gewillt zu arbeiten, wenn der Staat sein Existenzminimum absichert?

Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass der Betrag von 560 Euro so niedrig ist, dass man davon in Finnland nicht komfortabel leben kann, mithin also von dieser Seite von vornherein wieder ein Zwang zur Arbeit eingebaut ist, der den Idealisten unter dem großen und sehr breiten Dach dessen, was als "bedingungsloses Grundeinkommen" tituliert wird (vgl. dazu die grobe Typologie der ganz unterschiedlichen Anhänger des Ansatzes in diesem Beitrag), sicher nicht gefallen kann und wird.

Weitere Restriktion im Design des geplanten Experiments: Nur Arbeitslose sollen das Geld erhalten, die ohnehin auf staatliche Hilfe angewiesen sind.
Dazu bereits mein Beitrag vom 8. Dezember 2015: Das bedingungslose Grundeinkommen könnte kommen - möglicherweise, in Finnland. Und dann erst einmal als "experimentelles Pilotprojekt".

Nun kommt also ein Experiment mit einigen ausgewählten Menschen und das wurde von einem Mitte-rechts-Regierungsbündnis. Ist deswegen die andere Seite des politischen Spektrums dagegen? Keineswegs, wie Zacharakis in seinem Artikel verdeutlicht, in dem er Touko Aalto, den Vizevorsitzende der Grünen-Partei, zitiert:

"Wir müssen lernen, mit anderen Erwerbsbiografien umzugehen, als früher", sagt Aalto. Teilzeitmodelle, Bildungsauszeiten, häufigere Jobwechsel und zeitweilige Selbstständigkeit seien heute viel eher üblich. Ein Grundeinkommen könne den Menschen Sicherheit bieten, um sich in einer dynamischen Arbeitswelt kontinuierlich fortzubilden und sich den Herausforderungen durch die Digitalisierung stellen zu können. Es entstehe eine große Flexibilität, die der Jobmarkt dringend brauche ... Auch die geringe Summe von 560 Euro unterstützt seine Partei – der Anreiz zur Arbeit solle schließlich erhalten bleiben. "Aber wir finden den Versuchsaufbau nicht richtig. Es sollte mindestens 10.000 Teilnehmer geben und nicht nur Arbeitslose, um validere Ergebnisse zu erhalten. Auch sollte das Pilotprojekt bis 2018 ausgeweitet werden. Das wäre dann natürlich etwas teurer."
Zustimmung im Grundsatz und eine Kritik am Versuchsaufbau. Aber keine Infragestellung der durchaus als restriktiv und im Sinne eines Hinzuverdienstmodells begrenzten Ansatzes.

Nun gibt es noch aus einem anderen Land von Experimenten mit lebenden Menschen zu berichten, die einer durchaus vergleichbaren Logik folgen - gemeint sind die Niederlande. Von dort berichtet Thomas Kirchner unter der weit greifenden Überschrift Die Freiheit der Bedürftigen: »Die Niederlande experimentieren mit Sozialhilfe ohne Bedingungen. Sie wollen wissen, wie sie die Empfänger motivieren. Mancher sieht Parallelen zum bedingungslosen Grundeinkommen.« Aber zuweilen sieht man ja auch vor lauter Nebel gar nicht wirklich was.

Schaut man sich den geplanten Versuchsaufbau bei unseren Nachbarn an, dann wird als Gemeinsamkeit zum finnischen Ansatz deutlich, dass es auch hier um die Frage der Arbeitsanreize geht, während die Abweichung zu den Finnen darin besteht, dass die Rahmenbedingungen dessen, was man dort testen will, noch restriktiver ausgestaltet sind als in Finnland:

»Die Regierung hat den Weg für die Testreihen in Utrecht, Groningen, Tilburg und Wageningen durch eine Ausnahmegenehmigung freigemacht. Sie gestattet Abweichungen von einem erst im vergangenen Jahr in Kraft getretenen Gesetz, das Hilfsempfängern weit reichende Mitwirkungspflichten auferlegt, etwa die Pflicht, sich regelmäßig zu bewerben. Außerdem erlaubt die Regierung den Teilnehmern einen Zuverdienst von bis zu 199 Euro im Monat. Die Wissenschaftler von der federführenden Universität Utrecht hatten sich mehr gewünscht, wollen aber trotzdem am 1. Januar starten. Sie bilden Gruppen mit 100 bis 150 Teilnehmern, die seit mindestens sechs Monaten von Sozialhilfe leben. Einer Gruppe werden keinerlei Bedingungen gestellt. Eine zweite erhält einen Bonus, falls sie eine bestimmte Aktivität durchführt; die dritte bekommt den Bonus vorab und verliert ihn, falls sie die gewünschte Aktivität unterlässt. Die vierte Gruppe besteht aus jenen, die zuverdienen dürfen. Und bei einer bleibt alles wie bisher. Nebenher werden in Utrecht auch Stressniveau, Gesundheit und Zufriedenheit der Teilnehmer gemessen. Die Tests in anderen Städten sind ähnlich gestaltet.«

Die beschriebenen Ansätze werden sicher viele Wissenschaftler erfreuen angesichts der damit verbundenen Möglichkeit der Datenproduktion und der vielen Folgearbeiten, die sich dann auftun. Generell könnte man argumentieren, dass es auch Deutschland gut tun würde, endlich mehr experimentelle Sozialpolitikforschung zu betreiben - allerdings kann man auch kritisch einwenden, ob man angesichts der vielen Einflussfaktoren und der Interdependenzen gesellschaftlicher Systeme wirklich substanzielle Erkenntnisse gewinnen kann und ob das Messen an Teilnehmern von Versuchs- und Kontrollgruppen nicht eine Wissenschaftlichkeit vorgaukelt, die nur als "unterkomplex" angesichts der scheinbaren Komplexität des Gemessenen daherkommt.

Und wenn man gemein ist, könnte man versucht sein zu behaupten, auch die, die gar kein Interesse an Grundeinkommensmodellen haben, können sich entspannt zurücklehnen, denn man kann jetzt immer darauf verweisen, dass man "den Ansatz" ja experimentell ausprobiere und das braucht eben seine Zeit, bis man zu Erkenntnissen kommt.

Man könnte aber auch die These in den Raum stellen, dass das alles nicht oder wenn, dann nur marginal mit dem zu tun hat, worum es bei einem "bedingungslosen Grundeinkommen" eigentlich geht oder gehen sollte und dass die beobachtbare Verengung auf die Prüfung einer Komponente, nämlich die Wirkungen auf die Erwerbsarbeitsanreize, zu einer Fehlwahrnehmung des Konzepts an sich beitragen wird.

Wie dem auch sei, man sollte diese Versuche an lebenden Subjekten nicht überschätzen, so wie sie sich derzeit darstellen bzw. abzeichnen.