Montag, 3. Oktober 2016

Die Mauer ist weg. Das ist die gute Nachricht. Aber Gräben zwischen Ost und West sind immer noch da, nicht nur, aber eben auch hinsichtlich der ökonomischen Verfasstheit des Landes

Der heutige Feiertag zur Deutschen Einheit verdient alle Ehre. Unabhängig davon, wie das dann abgewickelt wurde, ist es sicher ein Wert an sich, dass sich die alte Bundesrepublik und die DDR wiedervereinigt haben und dieses Ergebnis ohne Blutvergießen erreicht werden konnte. Die heutigen zentralen Einheitsfeierlichkeiten in Dresden haben ungeachtet dessen mehr als deutlich, für viele schmerzhaft zum Ausdruck gebracht, wie gespalten das Land derzeit ist und wie sich in Teilen der Bevölkerung eine bedenkliche Abwendung und Radikalisierung vollzieht. So wird aus Dresden berichtet: »Mehrere Hundert Menschen haben die geladenen Politiker beim Empfang zur zentralen Einheitsfeier in Dresden lautstark beschimpft. Die Demonstranten, vor allem Anhänger des fremdenfeindlichen Pegida-Bündnisses, riefen am Montag ... "Volksverräter", "Haut ab" und "Merkel muss weg" ... Augenzeugen sprachen von einem Spießrutenlauf für die Gäste und Politiker, die auf dem Weg zu den Feierlichkeiten waren. Die Frau des sächsischen Wirtschaftsministers Martin Dulig (SPD) brach in Tränen aus, als sie durch die aufgebrachte Menge ging. Ein dunkelhäutiger Mann, der zum Gottesdienst wollte, wurde mit "Abschieben"-Rufen empfangen.«

Man könnte mit einem Blick auf die aktuelle Berichterstattung beispielsweise diesen Artikel zitieren, wenn es um eher ökonomische Fragen geht, die natürlich enorme Ausstrahlungseffekte in den gesellschaftlichen und politischen Bereich haben: Ostdeutsche verdienen deutlich weniger als Westdeutsche, so die Berliner Zeitung. »Auch ein Vierteljahrhundert nach der Wende liegt Ostdeutschland beim Lohnniveau deutlich hinter den alten Bundesländern. Verdienten sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte in Ostdeutschland Ende 2015 durchschnittlich 2449 Euro brutto im Monat, waren es in Westdeutschland 3218 Euro.«

Und der Abstand zwischen Ost und West ist auf einem hohen Niveau: »Ostdeutsche verdienen somit im Durchschnitt 24 Prozent weniger als die im Westen. Gemessen an der Niedriglohnschwelle von 2056 Euro bundesweit waren Ende 2015 36 Prozent der ostdeutschen Vollzeitbeschäftigten zu einem Niedriglohn tätig, im Westen knapp 17 Prozent.«

Die enormen Unterschiede bei den Lohnhöhen haben auch in anderen, vor allem sozialpolitischen Bereichen Auswirkungen, man denke hier nur an die unterschiedliche Behandlung der Löhne im Rentenrecht, was ein eigenes Thema wäre.

Während die die tariflichen Grundvergütungen im Osten inzwischen bei durchschnittlich 98 Prozent des Westniveaus liegen, sei der Einkommensunterschied bei Beschäftigten, die nicht tarifgebunden arbeiten, allerdings deutlich größer. Da liegt einer der wichtigsten Gründe für den großen Abstand, denn man muss wissen: Rund die Hälfte der ostdeutschen Beschäftigten sind nicht tarifgebunden.
Und noch einige weitere Zahlen: 2015 pendelten 398.384 ostdeutsche Beschäftigte in den Westen, 1999 waren es 307.907. Umgekehrt kamen aus Westdeutschland 2015 nur 134.520 Beschäftigte zum Arbeiten in die neuen Bundesländer. Im Vergleich zu 1999 ist deren Zahl aber auch angestiegen, damals waren es noch 76.789.
Die Arbeitslosenquote betrug im Jahr 2015 in Ostdeutschland 9,2 Prozent, in Westdeutschland 5,7 Prozent.

Aus ökonomischer Sicht immer noch sehr hilfreich ist die Zusammenstellung der Antworten mehrerer Autoren zu der Frage 25 Jahre Deutsche Einheit: eine Erfolgsgeschichte? So ist das Zeitgespräch überschrieben, das im vergangenen Jahr in der wirtschaftspolitischen Fachzeitschrift Wirtschaftsdienst veröffentlicht wurde:

»Vor 25 Jahren trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der damaligen DDR in Kraft. Direkt nach der Wende 1990 hatte Ostdeutschland ökonomisch rasch aufgeholt. Unterschiede in der Wirtschaftskraft zwischen Ost und West bleiben jedoch bis heute bestehen, obwohl weiterhin erhebliche Transfers nach Ostdeutschland fließen. Diese Unterschiede lassen sich unter anderem durch die Wirtschaftsstruktur und die Transformationshistorie begründen, sie sind aber auch sozioökonomisch und politisch verursacht. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, dass die ostdeutschen Länder den westdeutschen Entwicklungspfad übernommen haben, was einen Aufholprozess immer schwieriger werden lässt.«

Eine andere Quelle wäre der von der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Länder herausgegebene Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2016. Der Regierungsbericht zum Stand der Deutschen Einheit hatte schon die Kritik deutscher Ministerpräsidenten ausgelöst. Und die Debatte über den Bericht im Bundestag verlief höchst emotional, wie man diesem Artikel entnehmen kann: Ost-Beauftragte fordert "Aufstand der Anständigen".

In dem Bericht wird eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland als eine "ernste Bedrohung" für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern bezeichnet.

»Es gebe nichts daran zu beschönigen, dass die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten - bezogen auf eine Million Einwohner - in jedem ostdeutschen Bundesland deutlich über dem Durchschnitt der westdeutschen Länder lägen. Gegen Rechtsextremismus und Intoleranz sei entschlossenes Handeln nötig, sagte Gleicke. Alle seien gefordert, dem braunen Spuk entgegenzutreten.«

So wird die Ost-Beauftragte der Bundesregierung, die SPD-Politikerin Iris Gleicke, zitiert.

Zugleich warnte sie vor Schönfärberei bei der Beurteilung der Lage in den neuen Ländern.

Dass dazu nun wirklich kein Anlass besteht, darauf verweist auch dieser Beitrag von Wolfgang Kühn, der auf den Seiten der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik veröffentlicht wurde: Aufbau Ost – gelungen? Schon der Anfang kommt nicht wirklich positiv daher:

»Alle internationalen und historischen Erfahrungen belegen: Nach einem außerordentlichen gewaltigen wirtschaftlichen Einbruch, gleichgültig durch Krieg, Krisen oder Naturkatastrophen, wird es immer erforderlich, die Ausrüstungsinvestitionen anzukurbeln und im großem Maßstab neue modernere Produktionskapazitäten zu errichten. Der wirtschaftliche Absturz in den neuen Bundesländern unmittelbar nach dem Beitritt erforderte einen derartigen Einsatz von Ausrüstungsinvestitionen. Mit ihnen wären neue und in der Regel produktivere Arbeitsplätze entstanden und so die vorhandenen und nicht zu leugnenden Defizite an Wirtschaftskraft Schritt für Schritt beseitigt. Das ist in den neuen Bundesländern ausgeblieben und diese Enthaltsamkeit rächt sich nun über Jahrzehnte.«

Der Verfasser kann keine guten Botschaften überbringen: Die Kluft in der Wirtschaftskraft der beiden Landesteile hat sich im letzten Jahrzehnt verfestigt – noch schwerwiegender ist der anhaltend sich wieder stetig vergrößernde absolute Rückstand der Wirtschaftskraft beider Landesteile. Pro Einwohner betrug der Rückstand am produziertem Bruttoinlandsprodukt 2005 in den neuen Bundesländern 10.012 Euro, bis 2015 vergrößerte sich der absolute Rückstand auf 12.633 Euro je Einwohner, so Kühn (2016: 3).

Aber ist es nicht wenigstens auf dem Arbeitsmarkt deutlich besser geworden? Dazu Kühn (2016: 7):

»Ununterbrochen werden neue Rekorde bei den Zahlen zur Beschäftigung gemeldet. Die neuen Bundesländer profitieren nicht von diesen Anstiegen. Hier stagnierte im Zeitraum 2010 bis 2015 die Zahl der Erwerbstätigen, während sie vor allem in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg kräftig zulegten ... Mehr als eine Million neue Arbeitsplätze entstanden zwischen 2010 und 2015 in den drei Bundesländern Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Die neuen Bundesländer gingen fast leer aus.«

Und die fehlenden Investitionen hatten auch qualitativ Folgen: »Neue und vor allem hochproduktive Arbeitsplätze wurden im Osten Deutschlands nicht geschaffen. Dieser Trend hält bis in die Gegenwart an.«

Das alles hat natürlich Auswirkungen in Form von Lohnunterschieden. »Besonders hoch ist die Lohndifferenz bei Hochqualifizierten. Ein Unterschied von monatlich ca. 1.800 Euro bei den hochqualifizierten Beschäftigten verstärkt den Anreiz, sich eine gleichartige Beschäftigung in den alten Bundesländern zu suchen.«

Und auch diese Meldung passt in den skizzierten Rahmen: Mindestlohn: Aufstocker bleiben Problem in den neuen Bundesländern: »Seit Einführung des Mindestlohns gibt es weniger Aufstocker in Deutschland. Besonders in den neuen Ländern war der Rückgang stark. Doch gemessen an allen Beschäftigten bleibt der Anteil der Beschäftigten mit gleichzeitigem Hartz-IV-Bezug im Osten vergleichsweise hoch.«

An und für sich hört sich das doch gut an: » Der Rückgang der Aufstocker hat in erster Linie in den neuen Bundesländern stattgefunden. Die Zahl der abhängig beschäftigten Hartz-IV-Empfänger sank dort zwischen Januar 2015 und Mai 2016 um 10 Prozent beziehungsweise rund 38.000 Personen.«
Aber das "aber" lässt nicht lange auf sich warten: »Gemessen an allen Beschäftigten bleiben die Aufstockeranteile im Osten aber hoch. Unter den Voll- oder Teilzeitbeschäftigten stockten im Dezember 2015 in den neuen Ländern 3,2 Prozent auf ... In den alten Ländern hingegen liegt der Aufstockeranteil bei den Voll- und Teilzeitbeschäftigten mit 1,6 Prozent deutlich niedriger.«

Die Aufstockerei ist bekanntlich ein besonderes Problem der geringfügig Beschäftigten - auch hier hat Ostdeutschland deutlich schlechtere Werte aufzuweisen:
»Ein entsprechendes Bild mit deutlich höheren Anteilen zeigt sich bei den geringfügig Beschäftigten. Im Osten stocken 22 Prozent von ihnen auf, im Westen lediglich 8,8 Prozent.«
Und dann kommt der eigentliche Knackpunkt:

»Ein Rückgang der Aufstocker mit Minijob bei einem gleichzeitigen leichten Zuwachs der Aufstocker mit sozialversicherungspflichtigem Job lässt vermuten, dass der Mindestlohn zu einer Verschiebung der Arbeitszeit und der Einkommen „nach oben“ geführt hat. Aus Minijobbern sind möglicherweise sozialversicherungspflichtig beschäftigte Aufstocker in Teilzeit geworden, aus Aufstockern in Teilzeit nun Aufstocker mit einem Vollzeit-Job und aus Aufstockern in Vollzeit Erwerbstätige, die ganz ohne Hartz-IV-Leistungen auskommen ... Zu beobachten ist diese Entwicklung aber nur in den alten Bundesländern. In den neuen Ländern gab es Rückgänge sowohl bei den Aufstockern mit Minijob als auch bei denen mit einer Voll- oder Teilzeitstelle. Hier kann angenommen werden, dass vor allem geringfügige Jobs komplett gestrichen wurden.«

Das alles zusammen hat nicht nur ökonomische Dimensionen, sondern schlägt sich auch in anderen Betreichen nieder, zumindest beeinflusst es diese. So war ausweislich des Eurobarometer 2015 in Westdeutschland eine deutliche Mehrheit von 77 Prozent zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. In Ostdeutschland belief sich dieser Wert auf - 47 Prozent!