Sonntag, 8. Mai 2016

Wenn vulgärökonomistisch deformiertes Denken von Wirtschaftsfunktionären korinthenkackerhaft in den Bundestag getragen wird: Wirtschaftsverbände warnen vor den (angeblichen) Folgen einer (kleinen) Weiterbildungsprämie


Es gibt Momente im sozialpolitischen Leben, da möchte man nur noch den Kopf immer wieder auf den Tisch schlagen, wovor einen lediglich das Wissen über die Folgewirkungen bewahrt. Aber der Reihe nach: Derzeit sind wieder gesetzgeberische Aktivitäten in den beiden Rechtskreisen SGB III und II zu verzeichnen. Im Mittelpunkt der (kritischen) Diskussion steht dabei das mehr als euphemistisch „Rechtsvereinfachungsgesetz“ genannte Bestreben der Bundesregierung, mit einem Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Gesetzentwurf vom 06.04.2016, BT- Drucksache18/8041) zu einer Entbürokratisierung der Arbeit in den Jobcentern beizutragen. Ein wohlfeiles Anliegen, dass aber nicht mal in molekularen Maßstäben mit dem vorliegenden Entwurf auch erreicht werden kann. Das ist hier bereits auseinandergenommen worden, vgl. dazu beispielsweise Entbürokratisierungdes SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungenund einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016. Ende Mai wird es dazu eine Anhörung geben und die vielstimmige Kritik an dieser Mogelpackung reicht nicht nur von den üblichen Verdächtigen, sondern selbst die Personalräte der Jobcenter haben ihren Ärger öffentlich gemacht (vgl. dazu den Blog-Beitrag Ein zornigerBrief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin sowie Hinweiseaus den Jobcentern zum Umgang mit denen, die zu ihnen kommen werden vom 15. Februar 2016).

Aber gleichsam im Windschatten dieser völlig zu Recht umstrittenen gesetzgeberischen Änderungsversuche im SGB II hat die Bundesregierung auch noch andere Änderungen auf den Weg gebracht, die als Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz (AWStG) bereits am 09.05.2016 Gegenstand einer Anhörung im zuständigen Bundestagsausschuss sind (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG) vom 06.04.2016, BT-Drucksache18/8042). Auch hier deutet der Titel des Gesetzesvorhaben Verbesserungen an – und zwar im Kernbereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die dringend erforderlich sind. Es geht nämlich vor allem um eine Verbesserung der Qualifizierungsmöglichkeiten für die, die ansonsten auf Dauer oder lange Zeit abgehängt werden von neuer Beschäftigung, also Menschen mit geringer (formaler) Qualifikation, Langzeitarbeitslose sowie ein Teil der älteren Arbeitnehmer. Und zweifelsohne zeigen die vorliegenden Daten für die zurückliegenden Jahre, dass selbst eine gute Arbeitsmarktentwicklung insgesamt, wie wir sie seit 2010 in Deutschland sehen konnten, an den genannten Personengruppen weitgehend vorbei gegangen ist.

Dazu sind mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung eine ganze Reihe an gesetzlichen Veränderungen bis hin zu neuen Förderinstrumenten vorgesehen (vgl. diese kurze Übersicht sowie natürlich den Gesetzentwurf selbst). An dieser Stelle soll es nur um einen Aspekt gehen, zu dem sich die Wirtschaftsverbände – wie wir gleich sehen werden mit einer hanebüchenen Begründung – explizit ablehnend geäußert haben:

»Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die noch nicht über eine Berufsausbildung verfügen, können Förderleistungen zum Erwerb von Grundkompetenzen erhalten, wenn dies für eine erfolgreiche berufliche Nachqualifizierung erforderlich ist. Zur Stärkung von Motivation und Durchhaltevermögen erhalten sie bei Bestehen von Zwischen- und Abschlussprüfungen jeweils eine Prämie«, heißt es in dem Gesetzentwurf (BT-Drucksache 18/8042: 2).

Nach § 131 a Abs. 3 SGB III neu erhalten Agenturen und Jobcenter die Möglichkeit, eine Weiterbildungsprämie zu zahlen, wenn eine Zwischenprüfung oder eine Abschlussprüfung erfolgreich abgeschlossen wurde. Diese Prämien sind bereits in Modellmaßnahmen erprobt und wissenschaftlich begleitet worden und wurden als erfolgreich eingestuft.

Man sollte sich vor der Lektüre der Kritik der Wirtschaftsverbände einmal grundsätzlich vor Augen führen, um wen es bei diesem nun wirklich nicht üppigen Instrument eigentlich geht. In diesen Tagen wird man in der Presseberichterstattung ganz überwiegend konfrontiert mit der Botschaft, dass die Wirtschaft unter einem „Azubi-Mangel“ leiden würde, vor allem natürlich bestimmte Branchen bzw. Berufsfelder. Es geht hier gar nicht um die Tatsache, über die viel weniger berichtet wird, dass immer noch jährlich mehr als 250.000 junge Menschen in das sogenannte „Übergangssystem“ einmünden (müssen), auch weil sie keinen Ausbildungsplatz haben finden können.

Aber darum soll es gar nicht gehen, sondern um einen anderen Aspekt: Noch vor wenigen Jahren – und viele werden sich erinnern – hatten wir die Situation, dass händeringend zusätzliche Ausbildungsstellen gesucht wurden, weil es viel zu viele Bewerber gab. Mit der Folge, dass in den zurückliegenden Jahren viele junge Menschen aufgrund der fehlende Ausbildungsplätze keine abgeschlossene Berufsausbildung haben erwerben können. Nach einigen Schleifen sind viele von ihnen als Un- und Angelernte in der Industrie gelandet, in Dienstleistungsjobs oder in der Leiharbeit. Bei vielen immer wieder unterbrochen durch kürzere oder längere Phasen der Erwerbslosigkeit und der Abhängigkeit von Arbeitslosengeld I und II. Wir gehen derzeit von 1,3 Millionen jungen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren aus, die ohne Berufsabschluss auf dem Arbeitsmarkt ihr Glück suchen und oftmals Pech vorfinden. Nicht alle, aber viele sind Opfer der Vergangenheit, in der schlichtweg zu wenig Ausbildungsstellen vorhanden waren. Und ein einfacher Rechengang im Kopf mag an dieser Stelle genügen: Wenn es uns gelingen könnte, beispielsweise 300.000 oder 400.000 auch in ihrem nunmehr späteren Lebensalter für eine Berufsausbildung zu gewinnen und diese auch erfolgreich abschließen zu lassen – wäre das nicht ein unglaublich wichtiger Beitrag angesichts des von den Wirtschaftsverbänden in großen Tönen und grellen Farben beschworenen Facharbeiter- und Handwerkermangels, weil mittlerweile zu wenig Nachwuchs in diese Berufe kommt (und weil man, was natürlich verschwiegen wird, in der Vergangenheit schlichtweg zu wenig ausgebildet hat, was einem jetzt auch auf die Füße fällt)?

Und genau an diese Personengruppe richtet sich der Ansatz der erwähnten Prämie bei beruflichen Weiterbildungen, die zu einem Abschluss in einem Ausbildungsberuf führen. Man sollte also meinen, die Wirtschaft würde jubeln, kommt ihr doch die Bundesregierung mit diesem Förderinstrument, dass ja nicht von den Unternehmen bezahlt werden muss, entgegen.

Sollte man meinen, ist aber nicht so.

Denn vor der nun anstehenden Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages zum Gesetzentwurf am 09.05.2016 (vgl. dazu die Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen zur Anhörung, Ausschussdrucksache18(11)620 vom 04.05.2016) wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: Wirtschaftsverbändewarnen vor Nahles Weiterbildungsprämie. Ja, genau so steht das da. Man reibt sich nicht nur verwundert die Augen, sondern im Fortgang der Lektüre steigt der Blutdruck in ungeahnte Höhen. Warum? Deshalb:

»Führende Wirtschaftsverbände machen Front gegen die geplante Weiterbildungsprämie für Arbeitslose und geringqualifizierte Arbeitnehmer. Das Gesetzesvorhaben, ihnen für eine erfolgreich abgeschlossene berufliche Weiterbildung eine Prämie von bis zu 2500 Euro zu zahlen, drohe die Bereitschaft junger Leute zu schwächen, eine reguläre duale Berufsausbildung zu machen.«
Wie das, wird dem einen oder anderen an dieser Stelle entfahren?

Der Handwerksverband spricht von einer „fatalen Botschaft an junge Menschen“ und erklärt: „Die Prämien können Kollateralschäden am bestehenden System der dualen Ausbildung verursachen.“ Bei künftigen Auszubildenden könne die Erwartung entstehen, dass eine berufliche Ausbildung und das Bestehen von Prüfungen finanziell belohnt werden müssten. Ähnlich äußern sich die Arbeitgeberverbände ... Der DIHK mahnt: „Es drohen falsche Signale etwa an unter 25-Jährige, die eine duale Ausbildung ohne Prämie absolvieren.“

Meinen die das wirklich so? Man könnte das wohlmeinend für einen kleinen Scherz halten, aber leider – und das ist die eigentliche Dramatik – die glauben das bestimmt so, wie sie es schreiben. Man muss an dieser Stelle keineswegs verteidigend gemeint daran erinnern, dass die Wirtschaftsfunktionäre in aller Regel studierte Leute sind, die sich im Verbandswesen eingenistet haben. Oftmals Juristen oder Wirtschaftswissenschaftler. Und genau das erklärt dann auch die Tatsache, dass solche Stellungnahmen abgegeben werden. Eine völlige Unkenntnis der Personengruppen und der Hindernisse bis Blockaden, denen sie - ob selbst gewählt oder nicht - ausgesetzt sind, wenn es um eine nachholende Qualifizierung geht, wird hier erkennbar.

Man kann doch nach fünf oder weniger Minuten selbst darauf kommen, dass hier manifester Unsinn produziert wird. Glaubt denn wirklich ernsthaft jemand daran, dass junge Menschen vor der Berufsausbildung auf eine solche verzichten, weil sie im Internet gelesen haben, dass nach dem § 131 a Abs. 3 SGB III in einigen Jahren, wenn sie als gering Qualifizierte etikettiert werden und vielleicht sogar im Hartz IV-System landen, die Möglichkeit (aber keineswegs der Rechtsanspruch)  besteht, dass sie einen Berufsabschluss nachholen können und dabei dann die sensationell hohe Prämie von bis zu 2.500 Euro nach erfolgreichem Abschluss bekommen können? Wobei sie dann die Ausbildung zu diesem Zeitpunkt erst einmal durchhalten müssen und die Zeit – das wäre ein weiteres Thema – ja auch irgendwie finanziell überstehen müssen. So ein ausgemachter Quatsch. So was kann nur einem mit Indifferenzkurven verseuchten Mikroökonomen-Gehirn entstammen. Und dann auch noch aus so einem Gedankenknäul die mögliche Gewährung einer überschaubaren Prämie verwerfen, das verdeutlicht einmal mehr, von welchen Korinthenkackern man in der heutigen Sozialpolitik umgeben ist.

Es ist wirklich zum Haare ausraufen, wenn man noch welche hat. Man erkennt die Kleingeistigkeit dieses Denkens, wenn man einmal kurz andeutet, wie es eigentlich sein müsste, wenn es einem wirklich um die Sache gehen würde, die da heißt, die Ausbildungs-Verlorenen der Vergangenheit zu einem späteren Zeitpunkt davon zu überzeugen, dass sie den Versuch einer Qualifizierung mit einem anerkannten Berufsabschluss wagen sollten – was übrigens doch im elementaren Interesse von Handwerk, Industrie und Dienstleistungen sein müsste, wenn denn die Vorhersagen stimmen, dass der eigentliche Fachkräftemangel im mittleren Qualifikationsbereich besteht und immer größer werden wird. Einen solchen Ansatz muss man sich nicht neu ausdenken, es gab ihn bereits mit der Schaffung des Arbeitsförderungsgetzes (AFG) Ende der 1960er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre, denn damals wurde Menschen ohne Berufsabschluss oder in einem als von technologischer Arbeitslosigkeit gefährdeten Beruf die Möglichkeit eröffnet, eine Förderung zu bekommen für die Teilnahme an einer Qualifizierung hin zu einem (neuen) Berufsabschluss. Dabei wurde anfangs ein Unterhaltsgeld in Höhe von bis zu 90 Prozent des letzten Nettoentgelts gewährt, zum einen weil man damals wusste, was man heute wissen sollte, dass die lebensälteren Menschen auch finanziell in die Lage versetzt werden müssen, eine mehrjährige Ausbildung überhaupt absolvieren zu können, zum anderen gab es damals tatsächlich noch die Auffassung, dass Lernen Arbeit ist und wie eine solche zu behandeln ist, vor allem bei Menschen, die vielleicht schon viele Jahre aus dem Lernprozess raus sind. Und last but not least gab es damals noch wirkliche Volkswirte, denen klar war, dass man für so ene Förderung am Anfang natürlich eine Stange Geld in die Hand nehmen muss, wenn dann aber die Betroffenen in zukunftssichereren Berufen platziert sind, werden sie jahrzehntelang (höhere) Steuern und Sozialbeiträge abführen und darüber ein Vielfaches an dem generieren, was das Investment am Anfang gekostet hat.

Übrigens - wenn man das den Unternehmern aus Handwerk und Industrie vor Ort erläutert, dann leuchtet der Ansatz dort sofort ein. Vielleicht sollten die mal darüber nachdenken, wer in Berlin ihre Interessen (nicht) vertritt. 

Manchmal, nur manchmal, wünscht man sich die alten Zeiten wieder zurück.