Mittwoch, 30. März 2016

Soll man oder soll man nicht? Und wenn ja, wie? Zur aktuellen Debatte über eine Wohnsitzauflage für Flüchtlinge. Nicht nur in Deutschland


Die neue Verlautbarung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hinsichtlich einer "Sprachlernpflicht" für Flüchtlinge wurde in diesem Blog bereits hinlänglich gewürdigt und angesichts der Realitäten auf der Angebotsseite wie auch vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Rechtslage hinsichtlich seiner Sinnhaftigkeit mehr als bezweifelt (vgl. dazu den Beitrag Die Annäherung an die Wahrheit liegt zwischen (rhetorischer) schwarzer Pädagogik und (naiver) „Wird schon werden“-Philosophie. Die Forderung nach einer Sprachlernpflicht für Flüchtlinge und die Wirklichkeit der „Schweizer Käse“-Angebote vom 28.03.2016). Aber in dem, was der Minister spätestens im Mai als ein "Integrationsgesetz" vorlegen will, geht es nicht nur um eine sanktionsbewährte Verpflichtung der Flüchtlinge, die deutsche Sprache zu lernen. Heribert Prantl drückt das in seinem Kommentar Ohne Elan, ohne Mut von oben aus betrachtet so aus: »Das geplante Integrationsgesetz des Innenministers Thomas de Maizière ist ein trauriges Gesetz. Es ist ein Gesetz ohne Elan, ohne Mut, ohne Tatkraft - und ohne auch nur einen Hauch von Vision ... Statt an der Größe der Aufgabe orientiert sich der Innenminister offenbar an der Wehrdisziplinarordnung, in der es um Aufsicht, Buße, Verweis, Arrest und Vollstreckung geht. De Maizières Integrationsgesetz diszipliniert und sanktioniert.«

Bei dem geplanten Gesetz geht es dem Minister »sowohl um die Verpflichtung, Deutsch zu lernen, als auch um eine Wohnsitzauflage für Flüchtlinge, um die Integration zu erleichtern«, so Tobias Peter in seinem Artikel Sanktionen gegen Flüchtlinge. Und die von de Maizière geplante Wohnsitzauflage dürfte noch für Streit sorgen, da sie in das Recht auf Freizügigkeit eingreift. Der Minister sagte, er wolle Ghetto-Bildung vermeiden: „Deswegen wollen wir regeln, dass auch anerkannte Flüchtlinge – jedenfalls solange sie keinen Arbeitsplatz haben, der ihren Lebensunterhalt sichert – sich an dem Ort aufhalten, wo wir das als Staat für richtig halten, und nicht, wo der Flüchtling das für richtig hält.“

Hinsichtlich der vom Minister geforderten Wohnsitzauflage ist die Ablehnungsfront weitaus brüchiger als beim Thema Sprachlernpflicht, was man an solchen Überschriften beispielhaft ablesen kann: Sozialdemokraten uneins über Sanktionen für Flüchtlinge: »Während Parteichef Sigmar Gabriel die geplanten Sanktionen des Innenministers unterstützt, übt sein Vize, Ralph Stegner, scharfe Kritik daran.« Und mit Blick auf das hier besonders interessierende Thema Wohnsitzauflage auch für anerkannte Flüchtlinge notieren Stefan von Borstel und Daniel Friedrich Sturm in ihrem Artikel De Maizière soll seine Pläne konkretisieren:

»Ausdrückliche Rückendeckung gewährte Stegner de Maizière für sein Plädoyer zugunsten einer Wohnsitzauflage. Sie solle verhindern "dass vor allem die großen Städte zu Anziehungspunkten werden".«

In dem Artikel Flüchtlinge ohne Job sollen nicht umziehen dürfen findet man diesen Passus: »Ausdrückliche Rückendeckung gewährte Gabriels Stellvertreter dem Bundesinnenminister für sein Plädoyer zugunsten einer Wohnsitzauflage. Diese indes solle "ausschließlich für Flüchtlinge gelten, die Sozialtransfers beziehen", sagte der SPD-Vize. Sie solle gewährleisten, "dass nicht vor allem die großen Städte zu Anziehungspunkten werden".«

Selbst von den Grünen kommen hier ambivalente Signale: Grüne lehnen Wohnsitzauflage nicht von vornherein ab, so ist ein Artikel überschrieben. Es bedürfe jetzt "einer genauen Überprüfung, ob die Wohnsitzauflage hilfreich ist und rechtlich möglich wäre", so wird Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter zitiert. Und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD) wird so zitiert: Befristete Wohnsitzauflage für Flüchtlinge "kann sinnvoll sein".

Bereits am 20. Januar wurde in dem Beitrag Die Vermeidung von Ghettoisierung durch Landverschickung? Residenzpflicht, Wohnsitzauflage: Zur Diskussion über eine Einschränkung der Wohnortwahl für Flüchtlinge ausführlich dargelegt, dass das mit der Wohnsitzauflage gar nicht so einfach ist, wie es dem einen oder anderen erscheinen mag. Nicht nur hinsichtlich der (europa)rechtlichen Lage, sondern auch angesichts der notwendigerweise immer mitlaufenden, allerdings gerne verdrängten Frage, wer das denn wie umsetzen soll in der Praxis.

Zuweilen hilft der Blick über den eigenen Tellerrand. Auch in Österreich wird derzeit über das Thema Residenzpflicht bzw. Wohnsitzauflage diskutiert und gestritten. In dieser Gemengelage hat Johannes Kopf, Vorstandsmitglied beim Arbeitsmarktservice Österreich (AMS), einen differenzierten Beitrag zur Thematik veröffentlicht, der unter der Überschrift Nachdenken über eine Residenzpflicht erschienen ist und an dem man nachvollziehen kann, dass es keine einfache Antwort auf die Frage geben kann, ob man soll oder nicht. Kopf nennt je drei Gründe, die man für bzw. gegen eine Wohnsitzauflage vortragen kann und zur Diskussion stellen muss und die auch hilfreich sein können für eine Strukturierung der deutschen Debatte:

Für eine Residenzpflicht bzw. Wohnsitzauflage sprechen seiner Meinung nach diese Aspekte:
  • Die (besondere) Situation des Wiener Arbeitsmarktes: »Während z. B. die Arbeitslosenquote Salzburgs im Jahr 2015 bei 5,9 Prozent, in Oberösterreich und Vorarlberg jeweils bei 6,1 Prozent lag, war diese in Wien mit 13,5 Prozent mehr als doppelt so hoch. Aktuell befinden sich aber von den österreichweit 22.140 beim AMS als arbeitslos oder in Schulung vorgemerkten Geflüchteten 14.680 oder 66,3 Prozent in Wien.« Auf den Punkt gebracht: »Vereinfacht gesagt suchen zwei Drittel aller Geflüchteten aktuell dort einen Job, wo mit Abstand die höchste Arbeitslosenquote aller Bundesländer vorliegt.«
  • Volkswirtschaftliche Gründe: »Während der Wiener Arbeitsmarkt nur beschränkt aufnahmefähig ist, besteht in anderen Regionen in gewissen Branchen Arbeitskräftemangel. Neben der Landwirtschaft und teilweise dem Metallbereich ist ganz besonders die Tourismusbranche in Westösterreich laufend auf zahlreiche Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Die verstärkte Abdeckung dieses Arbeitskräftebedarfs mit Geflüchteten würde nicht nur die Integration vorantreiben und Sozialtransfers sparen, sondern auch zusätzliche Wertschöpfung erzeugen.«
  • Verhinderung von Ghettobildung: »Studien zu "Ghettobildungen" zeigen, dass eine hohe ethnische Konzentration in gewissen Gebieten, wie z. B. in einzelnen Bezirken Wiens, zu einem geringeren oder jedenfalls langsameren Erlernen der Landessprache führt. Ein Umstand, der sich negativ auf spätere Arbeitsmarktchancen auswirkt. Auch sonstige Integrationsaufgaben wie etwa die Wertevermittlung – z. B. die Einstellung zur Erwerbstätigkeit von Frauen – wären wohl schwieriger, auch deswegen, weil viele ehrenamtliche Strukturen, die häufig im ländlichen Raum angeboten werden, nicht gut genutzt werden können.«
Auf der anderen Seite gibt es nach Kopf aber auch Argumente gegen eine Residenzpflicht bzw. Wohnsitzauflage, die man ins Feld führen kann, mindestens aber gut bedenken sollte:
  • EU-Recht? Hier skizziert Kopf die - unsichere, deshalb mit einem Fragezeichen versehene - Rechtslage hinsichtlich der europarechtlichen Zulässigkeit einer solchen Restriktion, die auch schon in meinem ersten Blog-Beitrag zum Thema angesprochen wurde (dort findet man dieses Zitat: »Das BVerwG erkannte nämlich ausdrücklich, dass eine Wohnsitzauflage aus nicht näher bezeichneten "integrationspolitischen Gründen" möglich bleibt.«). Kopf schreibt dazu: »In einem Anfang März veröffentlichen Urteil hatte sich der EuGH mit der in Deutschland geltenden Residenzpflicht zu beschäftigen. Nach deutschem Recht ist nämlich die Aufenthaltserlaubnis von Personen mit subsidiärem Schutz an einen festgelegten Wohnsitz gebunden. Das deutsche Bundesverwaltungsgericht hatte den Fall von zwei Syrern, die sich gegen diese Wohnsitzbindung wehrten, nach Luxemburg übertragen. Der EuGH entschied, dass bei Personen mit subsidiärem Schutz eine Wohnsitzauflage dann zulässig sei, wenn diese Personen in stärkerem Maß mit Integrationsschwierigkeiten konfrontiert sind als andere Personen, die keine EU-Bürger sind. Ob diese "stärkeren Integrationsschwierigkeiten" vorliegen oder nicht, muss nun neuerlich das deutsche Bundesverwaltungsgericht entscheiden. Es muss also argumentiert werden, dass etwa die Integration von Syrern ungleich schwieriger ist als die Integration von Türken.«
  • Das zweite möglich Gegenargument wurde in Deutschland auch schon in die Debatte geworfen, beispielsweise vom BA-Chef Frank-Jürgen Weise. Die optimale Allokation von Arbeit – also der Arbeitsmarktausgleich – wird möglicherweise behindert: »Eine Wohnsitzbindung beschränkt die Jobsuche der Geflüchteten in anderen Bundesländern. Nachdem die Verteilung der Asylsuchenden auf vielen verschiedenen Faktoren wie z. B. auch der Frage des verfügbaren Wohnraums basiert, ist eine Verteilung auch auf ländliche Regionen mit schlechter Verkehrsanbindung und geringen Jobchancen häufig. Ein gezwungenes Verbleiben in solchen Regionen ist ebenfalls arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv.«
  • Die Behinderung persönlicher Netzwerke: »Persönliche Netzwerke leisten auch innerhalb ethnischer Communitys Unterstützungsarbeit zur Förderung des Zugangs zu Bildung und Arbeitsmarktpartizipation, dies gilt besonders in Netzwerken mit höherem Bildungsniveau.« 
Der letztgenannte Aspekt sollte nicht unterschätzt werden, er wird auch in der deutschen Diskussion vorgetragen: Laut Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit haben in der Vergangenheit mehr als 60 Prozent der Flüchtlinge ihre erste Stelle in Deutschland durch persönliche Netzwerke gefunden. Auch seien die Beschäftigungsquoten von anerkannten Flüchtlingen aktuell in den Städten höher als auf dem Land.

Abschließend zu den Ausführungen von Johannes Kopf: Er ist sich unsicher, ob man den Weg mit einer Wohnsitzauflage gehen sollte. Und wenn, dann nur unter bestimmten Voraussetzungen. Neben der Klärung der rechtlichen Möglichkeiten trägt er einen wichtigen arbeitsmarktpolitischen Gedanken vor: Seiner Meinung nach sei es notwendig, schon zu Beginn des Asylverfahrens mittels einer Grob-Kompetenzerhebung eine möglichst ausbildungsadäquate Verteilung (nach Arbeitskräftebedarf) der Geflüchteten auf die Bundesländer durchzuführen. »Ein Koch etwa wird sinnvollerweise in einer Tourismusregion untergebracht. Eine Residenzpflicht ohne Berücksichtigung der Qualifikation erscheint mir jedenfalls arbeitsmarktpolitisch unsinnig.«

Und er beendet seine Ausführungen, für einige sicher überraschend, mit dieser Überlegung:

»Allen diesen Überlegungen sollte aber die Vermeidung des "Zerreißens" von Familienstrukturen vorangestellt werden. Denn mit Trauer und Trennungsschmerz nimmt man kaum teil an der Gesellschaft, in der wir die Geflüchteten bestmöglich integriert sehen wollen.«

In Österreich geht die Diskussion derzeit munter weiter, vgl. hierzu beispielsweise den Artikel Gegenwind für Residenzpflicht von Hans Rosner. Auch hier werden die - letztendlich nicht befriedigend auflösbaren - Dilemmata, mit denen wir es auch in Deutschland zu tun haben, diskutiert:

»Was Wien ... bieten kann, sind Netzwerke - Verwandte, Bekannte und Bekannte von Verwandten. Ein Bett hier, eine Couch dort, häufig werden Asylberechtigte zu einer Art Bettgänger, wie im Wien des 19. Jahrhunderts.
In ländlichen Gebieten gibt es diese Netzwerke, die auch finanziell helfen können, kaum. "Dafür ist es oft leichter, im ländlichen Raum Wohnungen zu finden", erzählt Knapp. Die Krux dabei: Überall dort, wo Wohnraum verfügbar und günstig ist, sind Arbeitsplätze eher Mangelware. Ein Beispiel dafür ist die steirische Gemeinde St. Stefan ob Stainz. Seit Jahren schon wohnen hier, in der Nähe von Graz, Asylwerber. "Geblieben ist noch keiner", sagt Bürgermeister Stephan Oswald.
Integrationspolitisch - das zeigt die Erfahrung - ist es in kleineren Gemeinden für Flüchtlinge oft leichter, gesellschaftlichen Anschluss zu finden. Die Gefahr, mangels Jobs länger in der Mindestsicherung zu bleiben, ist jedoch deutlich größer. Zumal Flüchtlinge auch immobiler sind. Ein Auto muss man sich erst einmal leisten können ... Derzeit funktioniert der Start ins neue Leben andersrum: erst die Wohnung, dann die Arbeit. Und das ist in Städten deutlich einfacher, da durch öffentliche Verkehrsmittel mehr Arbeitsstellen in kurzer Zeit erreichbar sind.«

Und wenn man dennoch eine Wohnsitzauflage verhängen will, dann sollte man nicht vergessen, das bis zum Ende zu denken. Also wer macht was, wenn sich der eine oder andere nicht daran hält? Schafft man sich bzw. den heute doch schon mehr als belasteten Behörden noch deutlich mehr zusätzliche Arbeit? Zahlreiche offene Fragen, die man aber nun mal nicht wegwischen kann bzw. sollte, nur um scheinbar einfache Antworten verkaufen zu können.

Foto: © Stefan Sell