Montag, 11. Januar 2016

Eine Studie zu einem mittlerweile toten Pferd: das Betreuungsgeld. Es hatte nur einen begrenzten Effekt

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat zusammen mit der Technischen Universität Dortmund die amtlichen Daten zu den Betreuungsgeldbeziehern zusammengestellt und ausgewertet. Wer hat das Geld beantragt und warum? Der Bericht, der vom Familienministerium gefördert wurde, liegt SPIEGEL ONLINE vor und dort wird jetzt von Anna Reimann darüber berichtet: Betreuungsgeld hatte nur begrenzten Effekt.

Man muss also zum jetzigen Zeitpunkt glauben, was dort wiedergegeben wird, für eine wissenschaftliche Prüfung braucht man natürlich das Original der Studie.

Hier einige Ergebnisse, von denen im Artikel berichtet wird:

Es wird auf die enorme West-Ost-Kluft bei der Inanspruchnahme hingewiesen, die ja schon zu den kurzen Zeiten der tatsächlichen Existenz dieser Geldleistung auffällig war:

»93,7 Prozent aller Betreuungsgeldempfänger im Jahr 2015 lebten in den alten Bundesländern. Hier wiederum war nur in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Zahl der Ein- und Jährigen mit Betreuungsgeldbezug deutlich höher als die Zahl der Kleinkinder, die in Kitas oder zu Tagesmüttern gingen.«

Und das hier ist nicht wirklich überraschend:

»Insgesamt gab es einen Zusammenhang zwischen dem Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung und dem Bezug von Betreuungsgeld. In Regionen, in denen es schon vor der Einführung der Leistung flächendeckend viele Kitas und Tagesmütter gab, haben weniger Eltern Betreuungsgeld bezogen.«

Mütter mit hohen Bildungsabschlüssen haben die Leistung nur unterdurchschnittlich in Anspruch genommen, ebenso Alleinerziehende.

»Unter den Beziehern waren überdurchschnittlich viele Familien, in denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wurde.«

Was erfahren wir zu den Gründen der Inanspruchnahme?

»Rund zehn Prozent der Eltern gaben an, sie hätten das Betreuungsgeld als Überbrückungsmöglichkeit genutzt, weil sie keinen geeigneten Kita- oder Tagesmutterplatz gefunden hätten.«

Weit wichtiger ist dieser Befund:

»Anders herum war der Anteil der Eltern, die ihr Kind explizit wegen des Betreuungsgeldes zu Hause betreut haben, gering: Mehr als 87 Prozent der Betreuungsgeldempfänger gaben an, sie hätten ihr Kind auch dann nicht in die Kita gegeben, wenn sie kein Geld für die Betreuung zu Hause erhalten hätten.«

Ökonomisch handelt es sich zum einen um Mitnahmeeffekte der Geldleistung, zum anderen steht hinter diesem Ergebnis, dass die Frage, ob man zu Hause bleibt in den ersten Jahren des Kindes, eine grundsätzliche, emotional und zuweilen ideologisch hoch aufgeladene Angelegenheit ist.

Interessant ist auch, dass der Bericht angeblich feststellt, dass sich weder bei den Ein- noch bei den Zweijährigen "ein dämpfender Effekt des Betreuungsgeldes auf die Nutzung der Kindertagesbetreuungsangebote" feststellen lässt, was aber auch ein Teil der Vorwürfe der Kritiker entkräftet, die mit dem Terminus der "Fernhalteprämie" argumentiert hat.

»In Familien, in denen Betreuungsgeld bezogen wurde, ist die Mutter deutlich später wieder und mit geringerer Stundenzahl in den Beruf eingestiegen, als in Familien, die ihr Kind weder in die Kita oder Tagesmutter geben noch Betreuungsgeld bezogen haben. Ob aber das Betreuungsgeld an sich den ausschlaggebenden Anreiz für Mütter gegeben hat, später wieder erwerbstätig zu sein, darüber gibt die Studie keinen Aufschluss.«

Genau hier sind wir bei einem grundsätzlichen Problem angekommen: Die (Nicht-)Inanspruchnahme ist das eine, aber welche Motive dahinter stehen, ob freiwillig oder durch die Rahmenbedingungen gezwungenermaßen, das erhellt sich nicht oder kaum.

Dieses Wissen ist wichtig für diese Bewertung:

»In Bezug auf Kinder aus Migrantenfamilien unterstreicht die Studie allerdings ein Problem: Besonders Eltern, die zu Hause mit ihren Kindern kein Deutsch sprechen, haben die Leistung überdurchschnittlich oft bezogen.«

Ohne weitere Erläuterungen impliziert das eine Nicht-Inanspruchnahme oder eine "verspätete" Inanspruchnahme bei diesen Personen wegen des Geldleisvtungsbezugs von anfangs 100, später dann 150 Euro pro Monat. Aber das muss nicht so sein. Vielleicht leben viele der hier genannten Personen in Gegenden, in denen das Platzangebot in Kindertageseinrichtungen zum damaligen Zeitpunkt (und vielleicht auch heute noch?) unterdurchschnittlich ausgebaut war (und ist) und man unter anderen Bedingungen vielleicht sehr wohl einen Kita-Platz in Anspruch genommen hätte. Und/oder vielleicht hätte ein nicht geringer Teil der genannten Personen auch ohne die Existenz der Geldleistung das Kind nicht in die Kita gegeben, weil man aus prinzipiellen Erwägungen heraus die Kinder "nicht zu früh" in institutionelle Betreuung geben möchte. Das müsste man wissen, um tatsächlich "Netto-Zahlen" ausweisen zu können, so handelt es sich um "Brutto-Zahlen".

Diejenigen, die sich für solche Fragen interessieren, werden als warten müssen, bis auch die Allgemeinheit Zugriff hat auf den Bericht über die Betreuungsgeldempfänger. Wieder mal ein Beispiel für den diskussionswürdigen Trend, dass Studien vorab irgendwelchen Medien exklusiv zum Ausschlachten zur Verfügung gestellt werden - in der Hoffnung, dass a) überhaupt jemand darüber berichtet und b) oftmals verbunden mit dem Effekt, dass auch bei einer Instrumentalisierung der Studienergebnisse erst einmal andere Medien abschreiben (müssen), die Aussagen in der Welt sind und damit später kaum oder gar nicht zurückgeholt werden können. Denn diejenigen, die kritische oder möglicherweise fehlerhafte Punkte identifizieren könnten, müssen natürlich erst einmal Zugang haben zum Original. Bei der Vorläuferversion des Berichts, der jetzt wohl vorliegt, war genau das der Fall (vgl. dazu beispielsweise meinen Blog-Beitrag Immer diese Jahrestage. Wie wär's mit dem Betreuungsgeld? vom 27. Juni 2014).

Nachtrag: Hier der Original-Bericht als PDF-Datei:

Christian Alt, Sandra Hubert, Nora Jehles, Kerstin Lippert, Christiane Meiner-Teubner, Carina Schilling, Hannah Steinberg: Datenbericht Betreuungsgeld. Auswertung amtlicher Daten und der Kifög-Länderstudien aus den Jahren 2013/2014/2015. München: Deutsches Jugendinstitut 2015