Montag, 18. Januar 2016

62 = 3,5 Milliarden. Menschen. Die Zunahme der extremen Ungleichheit setzt sich fort. Auch in Deutschland


Was sich kaum einer vorstellen kann: 3,5 Mrd. Menschen. Das ist genau die Hälfte der derzeitigen Weltbevölkerung. Eine unvorstellbar große Zahl. Und alle zusammen haben so viel wie ein Raum voll Menschen, genauer gesagt: 62 überwiegend Männer. Behauptet die Organisation Oxfam in ihrem neuen Report An Economy for the 1%. How privilege and power in the economy drive extreme inequality and how this can be stopped. Die hat öffentlichkeitswirksam kurz vor Beginn des Weltwirtschaftsforums 2016 im schweizerischen Davos die neuen Ungleichheitszahlen veröffentlicht. Nicht nur die plakative Relation von ganz weit oben und dem unteren "Rest" ist interessant, die Organisation legt den Finger auf strukturelle Ursachen und macht zugleich politische Vorschläge, wie man das ändern könnte: »Die Spirale der wachsenden sozialen Ungleichheit dreht sich weiter: Mittlerweile besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen. Nur 62 Menschen besitzen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das derzeitige Wirtschaftssystem kommt vor allem den Reichen zugute und vertieft weltweit die Kluft zwischen Arm und Reich. Ein wesentlicher Grund ist eine ungerechte Steuerpolitik. Reiche Einzelpersonen halten in Steueroasen rund 7,6 Billionen US-Dollar versteckt, neun von zehn großen Unternehmen haben mindestens eine Tochterfirma in Steueroasen. Sie entziehen sich damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Wer soziale Ungleichheit und Armut bekämpfen will, muss Steuergerechtigkeit schaffen und Steueroasen trockenlegen«, so Oxfam in dem Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen.

Die Resonanz in den Medien ist groß: 62 Superreiche besitzen so viel wie die ärmsten 3,6 Milliarden oder 62 Superreiche besitzen so viel wie die halbe Welt oder Reich und Reich gesellt sich gern, um nur drei Beispiele zu erwähnen. Oxfam kritisiert eine weitere Verschärfung der globalen extremen Ungleichheit: Während die ärmere Bevölkerungshälfte in den letzten fünf Jahren eine Billion Dollar verloren hat, ist das Vermögen der 62 reichsten Menschen der Welt um eine halbe Billion Dollar gewachsen.

Das wir mit einer expandierenden Ungleichheit konfrontiert sind, die nicht nur Quelle für viele konflikthafte Zuspitzungen ist - bis hin zu den anschwellenden Flüchtlingsbewegungen -, sondern selbst in den Kerninstitutionen des kapitalistischen Systems zunehmend mit Besorgnis gesehen wird, weil sie sich negativ auswirkt auf dort hoch relevante Parameter wie beispielsweise das Wirtschaftswachstum, verdeutlicht dieses Zitat:

»... auch die Wirtschaftskraft der Staaten leidet. Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist die Wirtschaft in 19 Staaten zwischen 1990 und 2010 um 4,7 Prozentpunkte weniger gewachsen, als das bei unveränderter Ungleichheit der Fall gewesen wäre. OECD-Generalsekretär Angel Gurría spricht bereits von einem Wendepunkt: „Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute“, sagt er.«

Was treibt diese Entwicklung an? Oxfam erläutert dazu:

»Ein Grund für diese Entwicklung ist die unzureichende Besteuerung von großen Vermögen und Kapitalgewinnen sowie die Verschiebung von Gewinnen in Steueroasen. Investitionen von Unternehmen in Steuerparadiesen haben sich zwischen 2000 und 2014 vervierfacht. Neun von zehn der weltweit führenden Großunternehmen haben Präsenzen in mindestens einer Steueroase. Entwicklungsländern gehen auf diese Weise jedes Jahr mindestens 100 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen verloren.
Alleine die afrikanischen Staaten kostet es jährlich rund 14 Milliarden US-Dollar, dass reiche Einzelpersonen ihr Vermögen in Steueroasen verschieben. Mit dem Geld ließe sich in Afrika flächendeckend die Gesundheitsversorgung für Mütter und Kinder sicherstellen, was pro Jahr rund vier Millionen Kindern das Leben retten würde.«

Den Trend umzukehren, sei nicht aussichtslos, aber es werde „sehr schwierig“, so Oxfam-Chefin Winnie Byanyima. Die Organisation fordert die Eindämmung von Steueroasen und die stärkere Besteuerung hoher Einkommen.

Und ist das alles auch ein Problem für Deutschland? Dazu Oxfam im Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen:

»Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ist in Deutschland die Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und Chancen besonders hoch und in den vergangenen Jahrzehnten massiv angestiegen.«

Es werden drei Hauptargumente für diese Bewertung vorgetragen:
  • Die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen mindestens 63 Prozent des Gesamtvermögens. Der größte Anteil dieser Vermögensungleichheit geht auf Erbschaften und Schenkungen zurück.
  • Deutschland weist die höchste Vermögensungleichheit in der Eurozone auf.
  • Die Lohnspreizung hat in Deutschland seit dem Jahr 2000 erheblich zugenommen. Die Löhne der ärmsten zehn Prozent der sozialversicherungspflichtig Vollzeit-Beschäftigten sind inflationsbereinigt zwischen 2000 und 2005 um zwei Prozent gesunken und zwischen 2005 und 2010 um weitere sechs Prozent. Die reichsten zehn Prozent in der Einkommensskala haben dagegen enorm hinzugewonnen.
Auch der Verteilungsbericht 2015 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) kommt nach Auswertung der verfügbaren Daten zur Einkommensungleichheit zu Befunden, die skeptisch stimmen müssen:

»Deutschland ... erlebt seit einigen Jahren einen deutlichen konjunkturellen Aufschwung. Die Erwerbstätigkeit ist auf Rekordniveau und auch die Reallöhne sind zuletzt angestiegen. Dennoch ... geht die Einkommensungleichheit nicht zurück. Sie ist vielmehr am aktuellen Rand wieder leicht angestiegen. Gleichzeitig werden Armuts- und Reichtums- positionen immer dauerhafter.« (S. 2)

In ihrem Fazit schreiben die Wissenschaftler des WSI:

»Die sehr Reichen schweben regelrecht über den konjunkturellen Krisen, während viele Arme auch von einem länger andauernden wirtschaftlichen Aufschwung kaum profitieren können. Die Einkommensverteilung ist in den letzten drei Jahrzehnten deutlich undurchlässiger geworden – und mit ihr hat sich auch die Chancengleichheit verringert. Gleichzeitig steigt der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen am Volkseinkommen und damit die Bedeutung von privaten Vermögen bzw. Renditen und Kapitalgewinnen. Europaweit hat Deutschland die höchste Vermögensungleichheit ... Zudem sind Vermögenseinkommen deutlich unabhängiger von der konjunkturellen Entwicklung als dies bei den Erwerbseinkommen der Fall ist. Wenn die Bedeutung von Erwerbseinkommen abnimmt – am oberen Ende zugunsten von Vermö- genseinkommen, am unteren zugunsten staatlicher Transferzahlungen – verstärkt das die Entkoppelungstendenz zusätzlich.« (S. 13)