Samstag, 10. Oktober 2015

Auf der Rutschbahn in die Todeszone: Das allmähliche Verschwinden des Garantiezinses für Lebensversicherungen und der beklagenswerte Zustand der deutschen Altersvorsorge


Schon seit geraumer Zeit gibt es in einem Teil der Medien eine (zunehmend) kritische Berichterstattung über die Tiefen und Untiefen der privaten Altersvorsorge vor allem im Umfeld der Diskussion über die „Riester-Rente“. Gerade die Lebensversicherung steht seit längerem und immer öfter unter Berichterstattungs-Beschuss. Die Kapital-Lebensversicherung ist – bzw. war - eine der wichtigsten Säulen, gerade bei denen, die gar keine Alternative haben zu einer privaten Absicherung, weil sie beispielsweise als Selbständige gar nicht eingebunden sind in die soziale Absicherung durch die umlagefinanzierte Rentenversicherung. Und das Finanzprodukt (Kapital-)Lebensversicherung ist erneut in die Schlagzeilen geraten. Vor einiger Zeit schon verunsicherten Meldungen, das immer mehr Versicherungen eine Abkehr von Lebensversicherungspolicen mit Garantiezins ankündigen - nach Generali und Talanx folgte im September auch der Branchenriese Ergo. Und da ist er schon, der „Garantiezins“. Denn der soll nun endgültig fallen mit Beginn des neuen Jahres. Um nur einige der Schlagzeilen zu zitieren: Warum der Garantiezins ausgedient hat, Trumpfkarte verlorenEine Hiobsbotschaft für die Altersvorsorge oder auch Ist die Lebensversicherung jetzt am Ende?: »Die Bundesregierung will bei neuen Lebensversicherungen keinen Garantiezins mehr vorgeben. Weil der als Hauptargument für die Policen galt, steht der Altersvorsorgeklassiker vor dem Aus.« Auch der Bund der Versicherten (BdV) stößt in dieses Horn: Bundesregierung will klassische Lebensversicherung beenden, so hat man dort eine Pressemitteilung überschrieben. Der Vorstandssprecher des BdV, Axel Kleinlein, wird mit diesen markigen Worten zitiert: „Die Bundesregierung spielt mit dem Vertrauen der Bürger in Lebensversicherungen, private Renten, Riester-Renten, Rürup-Renten und betriebliche Altersvorsorge.“ Alle diese Wege der Altersvorsorge sind bisher stark geprägt von den klassischen Verträgen mit Garantiezins.

Es geht hier nicht um irgendeine Kleinigkeit. Ein Großteil der mehr als 90 Millionen laufenden Lebensversicherungsverträge basiert auf dem Modell einer Kapital-Lebensversicherung mit Garantiezins. Der eigentlich Höchstrechnungszins heißt, was den einen oder anderen jetzt irritieren mag, denn aus Sicht der meisten Kunden ist der Garantiezins ein Mindestzins in dem Sinne, dass man diesen Zins mindestens bekommt, wobei viele nicht wissen, dass die Mindestzinsen nur für den sogenannten Sparanteil eines Vertrages gelten. Daher sind klassische Verträge nur dann rentabel, wenn die zusätzlich gegebene Überschussbeteiligung ein zusätzliches Plus bringt.

»Der Höchstrechnungszins ist bei der klassischen Lebens- und Rentenversicherung der Zinssatz, den Versicherungsunternehmen ihren Kunden maximal für das angesparte Geld versprechen dürfen. Für Versicherer ist der Zins also eine gesetzlich vorgegebene Obergrenze, die den Wettbewerb um allzu kühne Zinsversprechen unterbinden sollte«, während aus Sicht der Kunden dieser Zinssatz eine andere Bedeutung hat, da er sie informiert, »wie viel der Versicherer ihm mindestens für das Ersparte zusichern, also garantieren, muss. Die Garantie ist also die Untergrenze«, kann man diesen Erläuterungen entnehmen. Die garantierte Rendite – wohlgemerkt nur auf den Sparanteil der Beiträge innerhalb der Lebensversicherung (also die 80 bis 90 Prozent, die nach Abzug der Vertriebs- und Verwaltungskosten übrig bleiben; unter Berücksichtigung dieser Randbedingungen kommt man dann bei ausgewiesenen 1,25 Prozent „Garantiezinsen“ auf eine faktische Rendite in Höhe von noch mickrigeren 0,5 Prozent) - ist angesichts der Niedrigzinsen am Kapitalmarkt von einst 4 Prozent auf mittlerweile 1,25 Prozent gesunken. Und nun soll er ganz fallen, für Neuverträge ab dem 1. Januar 2016.

Zu den Hintergründen verweist das Bundesfinanzministerium auf die schärferen Eigenkapitalvorschriften Solvency II, die ab dem kommenden Jahr gelten, mit denen die Versicherungsbranche krisenfester gemacht werden soll. Danach müssen Versicherer für langfristige Versprechen an Kunden wie den Garantiezins mehr Eigenmittel zurücklegen.

Interessant an dieser Stelle die zum Vorstoß der Bundesregierung abweichende Positionierung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV): „Zur Gewährleistung langlaufender Lebensversicherungsprodukte mit Zinsgarantien, die nicht gegen Zinsänderungsrisiken abgesichert sind, ist auch in Zukunft eine Vorgabe für den höchstzulässigen Rechnungszins nötig“, so Peter Schwark, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des GDV. Die Aussage überrascht, denn sie steht dem Trend der Branche entgegen, stärker garantielose Policen anzubieten. Auch die Versicherungsmathematiker der einflussreichen Deutschen Aktuarvereinigung machen sich für eine Beibehaltung der Vorgabe bei klassischen Lebensversicherungsprodukten stark – allerdings mit einem Veränderungsvorschlag zum heutigen System:

»In den ersten 15 Jahren soll der Höchstrechnungszins ein fester Zinssatz sein, der sich am Kapitalmarkt orientiert; in der Zeit danach ein vorsichtigerer Wert, der der langfristigen volkswirtschaftlichen Erwartung mit einem Sicherheitsabschlag folgt und ebenfalls bereits anfänglich festgelegt wird. So können auch weiterhin fest garantierte Zinsen in marktangemessener Höhe die Basis für eine erfolgreiche Altersversorgung und eine ergänzende Überschussbeteiligung sein.«

Über die Motive vor allem der GDV, für den einen oder anderen überraschend gegen die geplante Streichung des Garantiezinssatzes zu argumentieren, kann man natürlich nur spekulieren. Den meisten, gerade in Deutschland extrem risikoaversen und sicherheitsorientierten Kunden sind Garantiezusagen wichtig – und die Berücksichtigung dieses psychologischen Moments wird wahrscheinlich hinter der Positionierung stehen, denn bei den (potenziellen) Kunden kommt jetzt vor allem die für die Verkaufe der Produkte unangenehme Botschaft an, da gibt es „nichts“ mehr zu holen.

Grundsätzlich wird es Versicherern auch künftig möglich sein, Lebensversicherungen mit einer garantierten Verzinsung anzubieten, worauf der GDV beispielsweise hinweist. Allerdings müssen sie dann zusehen, dass sie die Eigenkapitalvorschriften, die sich aus Solvency II ergeben, erfüllen – und die sind teuer. Nicht nur deshalb verabschieden sich immer mehr Versicherer schon seit längerem – wie bereits angedeutet - von dem Produkt Lebensversicherung mit Garantiezins. Stefan Kaiser hat seinen Artikel zu dieser Entwicklung so überschrieben: Gut für die Versicherer, schlecht für die Kunden: »Die deutschen Lebensversicherer bieten immer häufiger Policen ohne Garantiezins an. Das soll die Renditechancen der Anleger erhöhen - nutzt aber vor allem den Anbietern.« Die Allianz beispielsweise ist von sich selbst begeistert bzw. genauer von der neuen garantiezinsfreien Police "Perspektive". Mittlerweile hat das Unternehmen noch vier weitere Produkte ohne garantierte Verzinsung aufgelegt, die teilweise auch an die Entwicklung von Aktienindizes geknüpft sind. Insgesamt machen solche Policen mittlerweile 63 Prozent des Neugeschäfts mit Privatkunden aus, berichtet Stefan Kaiser in seinem Artikel. Zu kritisieren ist vor allem die für den Kunden die Intransparenz der neuen Produkte, die noch schlimmer ist als bereits bislang. Er wird mit heutigen Renditeversprechen geködert und muss sich verlassen, dass das Unternehmen das auch realisieren kann über einen jahrzehntelangen Zeitraum. Da muss man schon sehr viel Gottvertrauen in Ergo & Co. haben. Stefan Kaiser dazu: »Tatsächlich haben die neuen Produkte für die Versicherer den Vorteil, dass diese die genaue Verzinsung für die Kunden erst am Ende festlegen müssen. Sie entscheiden dann je nach Marktlage. Garantiert ist dem Kunden zum Beginn des Ruhestandes in der Regel nur das eingezahlte Kapital - ohne jegliche Rendite.«

Strategisch gesehen geht es den Versicherungsunternehmen vor allem um einen vollständigen Risikotransfer auf die Versicherten. Also für die ist das natürlich ein schlechtes Geschäft, vor dem man sich vor allem mit Blick auf die Nutzung für die Altersvorsorge hüten sollte.

Das ist eine Melodie, die von den beiden Journalisten Holger Balodis und Dagmar Hühne seit langem immer wieder gespielt wird. Sie betreiben eine eigene Website unter www.vorsorgeluege.de und haben vor einigen Jahren das Buch Die Vorsorgelüge. Wie Politik und private Rentenversicherungen uns in die Altersarmut treiben veröffentlicht und nun im September 2015 nachgelegt mit einem neuen Buch unter dem derben Titel Garantiert beschissen! Der legale Betrug mit den Lebensversicherungen. Sie verweisen auf drei Systemfehler, aus denen die Tatsache entspringt, dass für die meisten Versicherten die ganze Angelegenheit ein Verlustgeschäft ist: a) Kostenklau, b) Stornoklau, c) Lebenserwartungsklau. Damit legen sie tatsächlich den Finger auf systematisch offene Wunden in diesem Bereich.

Nun könnte der eine oder andere einwenden mit Blick auf die Lebensversicherungen und den Niedergang sowie die nun anstehende Beerdigung des Garantiezinssatzes, dass das alles schlimm ist, aber „nur“ die Neufälle tangieren wird und diejenigen, die schon vor Jahren abgeschlossen haben, sind dann fein raus aus, weil sich ja bei ihnen nichts ändern wird. Auch hier aber gießen zumindest die Verbraucherschützer eine Menge Wasser in den Wein. Der BdV befürchtet auch Nachteile für Altverträge: „Zwar sind die Garantien schon bestehender Verträge ziemlich sicher, die neuen Maßnahmen der Bundesregierung werden aber negativ auf die Überschüsse durchschlagen“, so Axel Kleinlein. Sinkende Überschüsse könnten dann zu einer noch unrentableren Altersvorsorge führen. Denn, so der BdV: Die Überschüsse in den Beständen der klassischen Tarife dienten bisher als Verkaufsargument für den Vertrieb von Neuverträgen mit Garantiezins. Das fällt jetzt in der neuen Welt weg.

Und wieder stehen wir skeptisch-enttäuscht vor der Szenerie einer ja auch staatlicherseits seit langem geforderten und geförderten stärkeren privaten Altersvorsorge. Bekanntlich wurde ein Teil der Sicherungsfunktion der guten alten umlagefinanzierten Rentenversicherung auf Kosten der vor allem den Versicherungsunternehmen dienenden Säule der privaten Altersvorsorge abgebaut – ohne dass es wirklich und gerade bei denen, die besonders darauf angewiesen wären, zu einer tatsächlichen Kompensation der Ausfälle kommen wird. Würde es sich nur um Sahnehäubchen handeln, die im schlimmsten Fall wegfallen, dann wäre die Lage anders zu bewerten. Wir sprechen hier aber von der existenziellen Sicherungsfunktion eines Alterssicherungssystems.

Aber auch wenn man – rein hypothetisch mal hier gedacht – die Entwicklung vor allem seit der „Riester-Rentenreform“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends rückgängig machen. Das würde den vielen Selbstsändigen und darunter vor allem den vielen soloselbständigen Kümmerexistenzen nicht helfen. Wieder einmal sehen wir die Mega-Aufgabe eines Umbaus des Alterssicherungssystems, der alle ausweichen, auch die derzeitige Große Koalition. Aber das wird uns einholen, das ist gewiss.