Mittwoch, 19. August 2015

Einerseits eine massive Kritik an der abschlagsfreien "Rente ab 63" und andererseits eine höchstrichterlich bestätigte Zwangsverrentung ab 63, die dazu führt, dass die zumeist armen Schlucker lebenslang noch ärmer bleiben werden


Man muss sich das mal klar machen: Da nehmen viele Menschen, die 45 Beitragsjahre nachweisen können, derzeit die von der Bundesregierung geschaffene abschlagsfreie "Rente ab 63" in Anspruch. Und das wird an vielen Stellen bitter beklagt, ein "Aderlass" für die deutsche Wirtschaft sei das, eine zusätzliche "Besserstellung" der "glücklichsten" Rentner-Generation, die es bislang gab und die es so nicht wieder geben wird. Gleichzeitig wird aber der Pfad in Richtung auf die "Rente ab 67" keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters schreitet weiter voran, so dass die 67 für den Geburtsjahrgang 1964 gelten werden. Und man beklagt von interessierter Seite, dass die vorübergehende Ermöglichung einer abschlagsfreien Rente bereits ab dem 63. Lebensjahr - unter bestimmten, restriktiven Voraussetzungen - die beobachtbare Verlängerung des tatsächlichen Renteneintrittsalters nach oben nunmehr aufhält und bei den Arbeitnehmern falsche Erwartungen geweckt werden. Das gesetzliche Renteneintrittsalter gewinnt seine besondere Bedeutung dadurch, dass es auch die Grenze definiert, deren Unterschreitung beim Renteneintritt, der weiterhin auch vor dieser Grenze möglich ist, zu teilweise erheblichen lebenslangen Abschlägen bei den ausgezahlten Renten führt. Insofern ist es ja auch verständlich, dass viele Arbeitnehmer versuchen müssen, so lange wie nur irgendwie möglich durchzuhalten, damit sie dem Damoklesschwert der Abschläge von den zugleich im Sinkflug befindlichen Renten vor allem seit der Rentenreform der rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends zu entgehen. Wenn dann die Bundesregierung eine Option anbietet, auch ohne Abschläge in den Rentenbezug zu wechseln, dann darf man sich nicht wirklich wundern, wenn das auch viele machen, die die Voraussetzungen erfüllen (vgl. dazu auch den Beitrag Und tschüss!? Zur Inanspruchnahme der "Rente ab 63" und ihren Arbeitsmarktauswirkungen vom 7. August 2015).
Vor diesem Hintergrund mag es mehr als irritieren, wenn man gleichzeitig damit konfrontiert wird, dass bei der Gruppe der Hartz IV-Bezieher eine gänzlich andere Welt zu herrschen scheint, denn dort geht es nicht um eine Kritik an einer "zu frühen" Verrentung, sondern ganz im Gegenteil um eine "Zwangsverrentung" im Alter von 63, egal, ob die betroffenen Menschen das wollen oder nicht.

Hintergrund für diese "Irritation" ist ein neues Urteil des Bundessozialgerichts (BSG). Die zugehörige Presseinformation des Gerichts ist lapidar überschrieben mit: Vorzeitige Verrentung von SGB II-Leistungsbeziehern rechtmäßig. »Wer Hartz IV bekommt, kann nicht unbedingt bis zum 67. Geburtstag mit der Rente warten. Das Jobcenter kann nämlich auf die Rente mit 63 bestehen – auch wenn die mit Abschlägen kommt. Jobcenter können Arbeitslose mit 63 Jahren gegen ihren Willen in Rente schicken – auch wenn das zu Abschlägen führt«, so Joachim Jahn in seinem Artikel Arbeitslose müssen mit 63 Jahren in Rente über das BSG-Urteil. »Vergeblich geklagt hat damit ein Mann, der zusammen mit seiner Ehefrau eine Bedarfsgemeinschaft bildete und Geld vom Jobcenter bekam. Zu seinem 63.Geburtstag forderte ihn die Behörde auf, bei der Deutschen Rentenversicherung Altersbezüge zu beantragen. Als er sich weigerte, übernahm das Jobcenter diesen Schritt. Wegen mangelnder Mitwirkung des Versicherten lehnte diese allerdings bis auf weiteres jegliche Zahlungen ab. Für jeden Monat vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze wäre die Rente um 0,3 Prozent niedriger ausgefallen.«

Man muss an dieser Stelle zusammenfassen: Der Mann wollte nicht in eine vorgezogene Altersrente wechseln, weil die mit erheblichen Abschlägen verbunden ist. Das Jobcenter wollte den Mann loswerden und hat für ihn und gegen seinen Willen einen solchen Antrag gestellt bei der Rentenversicherung - mit der Folge, dass ihm auch gleich noch seine Leistungen aus dem Grundsicherungssystem gekürzt wurden, denn er hat ja nicht "mitgewirkt", weil er nicht selbst den Antrag gestellt hat, den er nicht stellen will.

Wer es noch konkreter haben möchte und wissen will, um welche Beträge es hier geht, der findet sowohl in der bereits erwähnten Pressemitteilung des BSG wie auch in dem Artikel Jobcenter dürfen Hartz-IV-Empfänger in Zwangsrente schicken weitere Informationen:

»Ein Hartz-IV-Empfänger wird vom Jobcenter gegen seinen Willen vorzeitig in den Ruhestand geschickt. Würde der Duisburger zwei Jahre später in Rente gehen, erhielte er eine Regelaltersrente von 924 Euro - weil er aber erst 63 Jahre alt ist, bekommt er jeden Monat 77 Euro weniger.«

Nur um das hier gleich klarzustellen: Auch wenn sich das Angehörige der mittleren und oberen Einkommensgruppen nicht vorstellen können: 77 Euro monatlich weniger sind für so einen Rentner eine Menge Geld.

Wie aber begründet das Bundessozialgericht seine Entscheidung, dass die vom Jobcenter in die Wege geleitete Zwangsverrentung rechtmäßig sei? Dazu kann man den Erläuterungen des BSG folgende Hinweise entnehmen:

»Die gesetzlichen Voraussetzungen ... (§ 5 Absatz 3 Satz 1 in Verbindung mit § 12a SGB II) sind erfüllt. Danach kann der SGB II-Leistungsträger, kommt der Leistungsberechtigte seiner Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen eines anderen Trägers nicht nach, ihn zur Beantragung dieser Leistungen auffordern und bei unterbliebener Mitwirkung für den Leistungsberechtigten den Antrag stellen. Zu den vorrangigen Leistungen gehört grundsätzlich auch die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahres trotz der mit ihr verbundenen dauerhaften Rentenabschläge. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente durch den Kläger ist erforderlich, weil dies zur Beseitigung seiner Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II führt.«

Es geht also um zweierlei: Der Hilfebezug im Grundsicherungssystem SGB II kann beendet werden durch die Inanspruchnahme einer "vorrangigen Leistung". Und dazu gehört die Rente aus dem Versicherungssystem. Auch wenn das mit Härten für den Betroffenen verbunden ist, was angesichts der sich ergebenden lebenslangen Rentenkürzung aufgrund der Abschlagsregelung eindeutig der Fall ist. Da hat sich der Betroffene nun mal den "vorrangigen Leistungen" und ihrer Inanspruchnahmemöglichkeit unterzuordnen. Und zum anderen führt das BSG aus, dass das Vorgehen des Jobcenters auch gerechtfertigt sei, »zumal die vorzeitige Altersrente trotz der Abschläge erheblich höher als der Arbeitslosengeld II-Bedarf des Klägers ist, weshalb er durch deren Bezug nicht hilfebedürftig im Sinne des SGB XII würde.«

Man kann das drehen und wenden wie man will: Das BSG hat geurteilt in der Logik der versäulten Systeme, die (scheinbar) wohlgeordnet daherkommen mit vorrangig und nachrangig. Rente sticht also Hartz IV, auch wenn das mit erheblichen Einbußen beim Betroffenen verbunden ist - so lange nicht "unbillige Härten" dagegen sprechen. Darunter versteht man beispielsweise, wenn der vorzeitige Rentenbezug zu einer Abhängigkeit von SGB XII-Leistungen führt, also Grundsicherung im Alter. Oder wenn der Betroffene kurz vor der Aufnahme einer neuen Arbeit steht.
Bewegt man sich innerhalb des bestehenden Rechts, dann mag es Gründe geben für diese Entscheidung, dafür sind die Richter am BSG sicher prädestiniert, das entsprechend einzuordnen.

Aus einer sozialpolitischen Perspektive ist das gelinde gesagt eine Sauerei und gehört dringend revidiert. Warum?

Zum einen ist es der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers, das Renteneintrittsalter nach oben zu verschieben, ansonsten hätte er die "Rente ab 67" aufgehoben, was er nicht getan hat. Wenn das so ist, dann stellt sich die Frage, warum diese Logik nicht auch für Arbeitslosengeld II-Empfänger gilt, die ja qua Zugangsvoraussetzung dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen, also jederzeit ihre Hilfebedürftigkeit durch Aufnahme einer Erwerbsarbeit wieder beenden oder doch verringern müssen. Dafür sollen die Jobcenter auch ihre Arbeit machen über das berühmte "Fördern und Fordern". Nunmehr stellt sich die Situation doch so dar, dass wenn es den Jobcentern nicht gelingt, einen 62-Jährigen wieder in Lohn und Brot zu vermitteln, der ja noch einige Jahre arbeiten können müsste, dann kann man das dem Betroffenen zum Nachteil gereichen, in dem man für ihn vorgezogene Altersrente beantragt bzw. diesen Antrag von ihm erwartet. Eine offensichtlich mehr als einseitige Angelegenheit - und diese Einseitigkeit zuungunsten der Betroffenen und zugunsten des Grundsicherungssystems macht sich auch an einer anderen Stelle bemerkbar: Wenn Arbeitslose im SGB II-System seit mehr als einem Jahr vom Jobcenter kein Stellenangebot mehr bekommen haben, dann werden diese Menschen nicht mehr in der offiziellen Zahl der registrierten Arbeitslosen ausgewiesen, auch wenn sie natürlich weiterhin arbeitslose sind, selbst wenn sie intensiv nach einer neuen Arbeit suchen, diese aber aus welchen Gründen auch immer nicht finden können. Es handelt sich aktuell beispielsweise um fast 166.00 Menschen, die über diese merkwürdig daherkommende Regelung nicht als Arbeitslose ausgewiesen werden, obgleich sie es natürlich sind (vg. zu der Zahl den Artikel Arbeitsmarkt im Juli: Über 3,5 Millionen Menschen ohne Arbeit).

Es handelt sich also um ein gesetzgeberisches Problem. Das gilt dann auch für die eigentlich naheliegende Lösung des Problems: Der Gesetzgeber müsste klar stellen, dass die von ihm bewusst angestrebte Zielsetzung einer Verlängerung des Renteneintrittsalters auch Anwendung findet bei den Hartz IV-Empfängern. Das es gegen den Willen der Betroffenen, wenn diese also weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, keine Zwangsverrentung stattfinden darf.

In diesem Sinne kann und muss man schließen mit den Worten: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles  - übernehmen Sie das endlich.

Nachtrag am 21.08.2015:
Die Debatte - auch im parlamentarischen Raum - über das Thema Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern ist älter als es das kurze Aufblitzen in den Medien angesichts des aktuellen Urteils des Bundessozialgerichts erscheinen lässt. Die zwangsweise Frühverrentung droht älteren SGB-II-Leistungsberechtigten seit Januar 2008, bis dahin waren sie über die so genannte "58er Regelung" geschützt vor einer vorzeitigen Verrentung gegen ihren Willen. Die Fraktion DIE LINKE hatte Ende 2008 ein Gesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht, um Zwangsverrentungen zu verunmöglichen (Anhörung des Ausschusses Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am 21. Januar 2008, 74. Sitzung). Dieser Gesetzentwurf fand keine parlamentarische Mehrheit. Am 10.12.2013 gab es eine Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Thema Zwangsverrentungen von Leistungsberechtigten nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (BT-Drs. 18/152). Darin bezieht sich die Bundesregierung auf den "Nachranggrundsatz" der Grundsicherung und behauptet: "Mit ... Ausnahmevorschriften vom Nachranggrundsatz ist sichergestellt, dass Erwerbstätige nicht vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden." Gemeint ist hier die Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung – Unbilligkeits-V) vom 14. April 2008. Nach dieser Verordnung sei es so, dass auch über 63jährige SGB II-Leistungsempfänger keine Altersrente beantragen müssen, wenn sie
a) einer nicht bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit nachgehen oder parallel die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld beziehen (sog. Aufstocker),
b) in nächster Zukunft (innerhalb der nächsten drei Monate) eine abschlagsfreie Rente beziehen können oder
c) glaubhaft machen, demnächst eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
Der letzte Punkt ist natürlich ein Witz, denn das bedeutet, wenn der betroffene Arbeitsuchende - und man muss an dieser Stelle daran erinnern: SGB II ist das Gesetz mit dem Namen "Grundsicherung für Arbeitsuchende" - zum Zeitpunkt seiner drohenden zwangsweisen Frühverrentung mit den beschriebenen Konsequenzen zufälligerweise einen konkreten Job gefunden hat, den er demnächst beginnen kann, dann verzichtet man auf die Zwangsverrentung. Nicht aber, wenn er dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und beispielsweise hofft, über Aktivitäten der Jobcenter wieder in Arbeit zu kommen. Die werden durch diese extrem einengende Interpretation der Bundesregierung vollständig aus der Schusslinie genommen, obgleich es doch ihr Auftrag ist (bzw. sein sollte), die Leute wieder in Erwerbsarbeit zu integrieren.
Am 19.02.2014 hat dann die Fraktion DIE LINKE erneut einen Antrag im Bundestag gestellt: Abschaffung der Zwangsverrentung von SGB-II-Leistungsberechtigten (BT-Drs. 18/589), der ebenfalls abgelehnt wurde.
Auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat sich des Themas angenommen und in dem Antrag Flexible und sichere Rentenübergänge ermöglichen (BT-Drs. 18/5212) vom 17.06.2015 neben vielen anderen Punkten formuliert, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen solle, der vorsieht, dass »alle Regelungen, die auf die Aussteuerung älterer Arbeitsloser zielen, wie die zwangsweise Verrentung älterer Langzeitarbeitsloser ab 63 oder die Streichung der Über-58-Jährigen aus der Arbeitslosenstatistik, gestrichen werden und auch älteren Langzeitarbeitslosen über die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden.«

Foto: © Stefan Sell