Samstag, 7. März 2015

Erde an Raumschiff Berlin: Die Geschlechterfrage ist weitaus komplexer als man zu glauben meint zu müssen. Vor allem für die vielen unterhalb der Aufsichtsräte sehr großer Unternehmen

Der 6. März 2015 ist ein "historischer" Tag. Das behauptet immerhin der Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der sich in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag zu diesem Satz hat hinreißen lassen: „Die Frauenquote für Führungskräfte ist der größte Beitrag zur Gleichberechtigung seit Einführung des Frauenwahlrechts.“ Und an einem "historischen" Tag verabschiedet man nicht weniger als ein "historisches" Gesetz. Was ist hier passiert? Schauen wir uns die darüber aufklärende Mitteilung des Deutschen Bundestages an - und auch wenn das trocken daherkommt und ohne irgendeinen historischen Kolorit kann man eine Menge herauslesen: »Frauenquote für Führungspositionen beschlossen: Bei Enthaltung der Opposition hat der Bundestag am 6. März den Gesetzentwurf der Bundesregierung für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (18/3784, 18/4053) in der vom Familienausschuss geänderten Fassung (18/4227) angenommen.

Damit wird eine Geschlechterquote von mindestens 30 Prozent für Aufsichtsräte von voll mitbestimmungspflichtigen und börsennotierten Unternehmen, die ab dem Jahr 2016 neu besetzt werden, eingeführt. Ab 2018 soll der Frauenanteil auf 50 Prozent erhöht werden. Börsennotierte sowie mitbestimmungspflichtige Unternehmen werden verpflichtet, ab 30. September 2015 verbindliche Zielgrößen für die Erhöhung des Frauenanteils im Aufsichtsrat, im Vorstand und in den obersten Management-Ebenen festzulegen. Die gesetzlichen Regelungen für den öffentlichen Dienst des Bundes (Bundesgremienbesetzungsgesetz und Bundesgleichstellungsgesetz) werden novelliert, wobei im Wesentlichen die Vorgaben zur Geschlechterquote und zur Festlegung von Zielgrößen in der Privatwirtschaft widergespiegelt werden. Der Familienausschuss hatte den Regierungsentwurf so verändert, dass die Unternehmen nicht wie geplant jährlich, sondern erst nach Ablauf der Frist über die Einhaltung der selbst festgelegten Zielgrößen berichten müssen. Dies soll den Bürokratieaufwand senken. Zudem soll die Geschlechterparität nicht für alle Ebenen der Bundesverwaltung gelten. Eingegriffen werden soll nur, wenn eine strukturelle Benachteiligung von Frauen vorliegt.«

Da hat man im Laufe des Gesetzgebungsprozesses was Kleines noch weiter geschreddert - aus rein pragmatischen Erwägungen heraus, werden uns die Beteiligten natürlich versichern. Senkung von Bürokratieaufwand ist ja derzeit ein ganz prominentes Thema, wenn wir an die Angriffswellen gegen das neue Mindestlohngesetz denken. Aber was ist das "Kleine" im vorliegenden Fall der Frauenquote? Was macht diese zu einem "Quötchen"? Das ist begründungspflichtig, denn die Akteure im Bundestag stritten in ihren Reden lediglich über die Perspektive - also ob das Glas "halb voll" oder "halb leer" sei -, aber immerhin muss die halbe Wegstrecke schon geschafft sein, wenn denn diese Zuordnung richtig wäre. Ist sie aber nicht, auch wenn man mit einer solchen Bewertung in die Rolle eines Spielverderbers abzurutschen droht.

Anders als es der unbefangene Beobachter in einem ersten Impuls glauben könnte, geht es ja nicht wirklich um eine relevante "Frauenquote", sondern um eine Quotierung eines - aus gesellschaftlicher Sicht - atomaren Bereichs, der Besetzung von Aufsichtsräten und dabei auch noch beschränkt auf "voll mitbestimmungspflichtige und börsennotierte Unternehmen", also gerade einmal 108 Konzerne in diesem Land.

Die SPD - eingangs wurde ja bereits der dieser Partei zugehörige Bundesjustizminister Heiko Maas mit seiner "historischen" Bewertung der gestrigen Abstimmung im Bundestag zitiert - versucht, die nun auf den Weg gebrachte "Frauenquote" als großen Erfolg zu verkaufen. Im politischen Geschäft ist das verständlich, allerdings mit Blick auf den Ausgangspunkt schlichtweg falsch. Bereits am 19.11.2013 habe ich in diesem Blog geschrieben: »Die SPD hat im Angesicht der gefundenen "Lösung" kräftig Federn lassen müssen, denn in ihrem Wahlprogramm findet sich die Forderung: »Wir werden deshalb eine 40-Prozent-Geschlechterquote für Aufsichtsräte und Vorstände börsennotierter und mitbestimmter Unternehmen verbindlich festlegen.« 40-10 Prozent und Vorstände weg, so kann man das auf eine Kurzformel bringen« (vgl. dazu und zu einer generellen kritischen Einordnung des ganzen Ansatzes den Blog-Beitrag: "Trippelschritt in die richtige Richtung" oder "Goldene Röcke für Deutschland" als symbolisches Substitut für wirkliche Veränderungen? Eine embryonale Frauenquote als Ablenkungsmanöver von den wahren Herausforderungen der Geschlechterpolitik). Und in diesem Beitrag findet sich eine kritische Einschätzung, die an ihrer Relevanz rein gar nichts verloren hat:

»Profitieren werden zunächst einige wenige Frauen, die gleich mehrere Kontrollposten übernehmen. Das eigentliche Ziel wird die Frauenquote in Aufsichtsräten nicht erreichen: nämlich die sogenannte gläserne Decke zu durchbrechen. Und die haben wir in den Vorständen, den eigentlichen Machtpositionen in den Unternehmen.«

Dazu liegen mittlerweile neuere empirische Befunde vor, die das angesprochene Problem auf den Punkt bringen können, wenn man sie denn zur Kenntnis nehmen würde.
Anfang 2015 veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die neuesten Daten aus dem "Managerinnen-Barometer": Das DIW Berlin untersucht seit 2006 den Anteil von Frauen in Vorständen und Geschäftsführungen sowie in Aufsichts- und Verwaltungsräten der nach dem Umsatz größten Unternehmen in Deutschland. Der nüchterne Befund der Wissenschaftlerinnen:

»Die Vorstände großer Unternehmen in Deutschland befinden sich nach wie vor fest in Männerhand: Ende 2014 lag der Frauenanteil in den Vorständen der Top-200-Unternehmen in Deutschland bei gut fünf Prozent. Das entspricht einem Plus von einem Prozentpunkt gegenüber dem Vorjahr und damit einer sehr geringen Dynamik. Die DAX-30-Unternehmen konnten mit gut sieben Prozent den höchsten Frauenanteil verzeichnen, am geringsten war er mit noch nicht einmal drei Prozent bei den MDAX-Unternehmen. Häufiger sind Frauen in den Aufsichtsräten vertreten: In den Top-200-Unternehmen waren Ende des Jahres 2014 gut 18 Prozent Frauen; die DAX-30-Unternehmen schnitten mit einem Frauenanteil von knapp 25 Prozent überdurchschnittlich ab. Die SDAX-Unternehmen wiesen mit knapp 14 Prozent nicht nur den kleinsten Frauenanteil auf, sondern mit 0,6 Prozentpunkten auch den geringsten Zuwachs gegenüber dem Vorjahr. Wie in den Vorständen haben Frauen auch in Aufsichtsräten nur in Ausnahmefällen den Vorsitz inne«, so Elke Holst und Anja Kirsch in ihrer Studie (Weiterhin kaum Frauen in den Vorständen großer Unternehmen – auch Aufsichtsräte bleiben Männerdomänen, DIW-Wochenbericht Nr. 4/2015, S. 47).

Holst und Kirsch bilanzieren in ihrem Fazit (S. 59) mit Blick auf die eigentlichen Machtzentren in den Unternehmen, also den Vorständen, die wie dargestellt von der nunmehr verabschiedeten Quotierung gar nicht betroffen sind: »In den Vorständen haben sich die männlichen Monokulturen weiterhin verfestigt: Über 13 Jahre nach der freiwilligen „Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“ reichte der Anteil von Frauen in Vorstandspositionen von weniger als drei Prozent in den MDAX-Unternehmen über gut fünf Prozent in den Top-200-Unternehmen bis hin zu maximal gut sieben Prozent in den DAX-30-Unternehmen.«

Einen weiteren Blick auf die realen Verhältnisse eröffnet eine Studie, die von der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlicht wurde. In einer Auswertung von 160 in den deutschen Aktienindizes notierten Unternehmen kommt Marion Weckes in ihrer Studie Geschlechterverteilung in Vorständen
und Aufsichtsräten zu dem Ergebnis: Fortschritte in Aufsichtsräten, Stagnation bei den Vorständen, so die zusammenfassende Überschrift einer Pressemitteilung der Stiftung zu der Studie. Auch hier wird der Finger notwendigerweise auf die Vorstände gelegt:

»Im Jahr 2005 habe der Frauenanteil unter den Vorständen gerade einmal 2,3 Prozent betragen, so Weckes. Ab 2010 sei zunächst ein positiver Trend feststellbar gewesen, der sich zuletzt allerdings wieder umgekehrt habe: Gegenüber dem Vorjahr ist der Anteil Ende 2014 von 6,2 auf 5,5 Prozent zurückgegangen. Nur ein Fünftel der 160 untersuchten Unternehmen kann überhaupt mit einem weiblichen Vorstandsmitglied aufwarten, in drei Vorständen gibt es zwei Frauen, mehr als zwei in keinem einzigen.«

Es ist bezeichnend, dass mein Fazit aus dem November 2013 an dieser Stelle nach dem angeblichen "historischen" Tag gestern im Bundestag unverändert Gültigkeit beanspruchen kann:

»Aber angesichts der erheblichen Probleme, die viele Frauen immer noch und im Teilzeitbereich sogar zunehmend auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben, angesichts der ökonomischen Abhängigkeit von den (männlichen) Partnern, die nach neueren Forschungsbefunden sogar zugenommen hat, bleibt das doppelt ungute Gefühl, dass hier nicht nur eine Symbolpolitik betrieben wird, sondern dass die darüber hinaus auch noch auf eine extrem kleine Gruppe von Frauen ausgerichtet ist, mit denen die Millionen "normalen" Frauen nicht das geringste zu tun haben ... Nicht einmal in Erwägung gezogen wurde beispielsweise eine Abschaffung oder wenigstens ein Umbau der frauenpolitisch hoch problematischen geringfügigen Beschäftigung, also der so genannten "450-Euro"- oder auch "Minijobs", die man nicht anzutasten bereit ist. Dabei weiß jeder unbefangene Beobachter, welche negativen Auswirkungen diese Beschäftigungsform auf die Biografie vieler Frauen hat. Um nur ein wirklich relevantes Beispiel zu nennen.
Wieder einmal verlässt man die Bühne mit dem Gefühl, einer veritablen Luftnummer beizuwohnen.«

Die eigentliche Geschlechterfrage liegt - man kann es mögen oder nicht - auf dem Arbeitsmarkt. Aber nicht auf dem subatomaren "Arbeitsmarkt" für Aufsichtsräte, sondern auf dem, auf dem sich Millionen Frauen und Männer tummeln müssen. Diese Arbeitsmarktabhängigkeit speist sich aus mehreren Quellen, in Deutschland besonders relevant natürlich die sozialpolitische Dimension angesichts der vielen Sicherungskomponenten, die aus der Erwerbsbiografie abgeleitet werden (müssen).

Und hier hat sich die Situation für viele Frauen keineswegs verbessert: Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit eine Übersichtsdarstellung von Susanne Wanger mit dem bezeichnenden Titel Traditionelle Erwerbs- und Arbeitszeitmuster sind nach wie vor verbreitet. Hier nur einige Befunde aus der Untersuchung: Im Jahr 2014 waren elf Millionen Frauen teilzeitbeschäftigt, das sind doppelt so viele wie 1991. Die Zahl der beschäftigten Frauen stieg insgesamt um 21 Prozent, das von ihnen geleistete Arbeitsvolumen um vier Prozent. Die Teilzeitquote bei Frauen ist auf knapp 58 Prozent gestiegen. Viele der Frauen wählen die Teilzeitbeschäftigung nicht in voller Freiwilligkeit, sondern weil sie nur so andere Verpflichtungen - vor allem Kinder und Pflege - vereinbaren können: Frauen entschieden sich mit jeweils knapp 26 Prozent am häufigsten wegen der Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Personen oder wegen weiteren persönlichen oder familiären Verpflichtungen für eine reduzierte Beschäftigung. Damit ist die Teilzeitarbeit der Frauen aber wiederum strukturelle Voraussetzung nicht nur für das Funktionieren des deutschen Sozialstaats (man möge sich nur einmal vorstellen, was mit dem Pflegesystem in Deutschland passieren würde, wenn ein relevanter Anteil der  zu Hause pflegenden Frauen diese überaus "günstige" Hilfeleistung einstellen würde), sondern auch - das wird immer wieder gerne "vergessen" - die meisten "männlichen Über-Vollzeitkarrieren in der Wirtschaft basieren doch darauf, dass den Männern der Rücken frei gehalten wird in ihren Familien, ansonsten wäre der Grad an zeitlicher Verfügbarkeit gar nicht realisierbar, zumindest nicht, wenn es Kinder gibt.

Diese Dinge muss man im Blick haben bzw. nehmen. Aus der Perspektive einer wirklichen schrittweisen (möglichen, aber nicht sicheren) Verringerung der Geschlechterungleichheit wäre beispielsweise eine Abschaffung der unseligen 450-Euro-Jobs ein im Vergleich zur Frauenquote in elitären Aufsichtsräten gleichsam revolutionärer Ansatz. Deshalb taucht er auch wohl nicht auf.

Auch wenn man natürlich nicht gerne die Feierlaune trüben möchte, vor allem nicht die von Menschen, die sich für die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände engagieren - aber es ist nicht unplausibel, dass diese Exoten-Quote, die nun im Parlament verabschiedet worden ist, für das Gesamtanliegen ein Pyrrhussieg darstellen wird. Die andere Seite kann jetzt immer mit Verweis auf die "Zugeständnisse" in der Quotenfrage bei anderen, also vor allem bei den wirklich substanziellen Veränderungen, diese verweigern mit dem Hinweis: Jetzt ist mal gut, ihr habt doch schon was bekommen. Auch wenn es nur ein Spielzeug ist.