Donnerstag, 29. Mai 2014

Von der fortschreitenden "Vertafelung" der unteren Etagen unserer Gesellschaft und warum die Zahl derjenigen, die nicht in Urlaub fahren können, kein geeigneter Maßstab ist

Immer wieder wird darüber berichtet, diskutiert und gestritten, ob die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahren – deutlich? – Zugenommen hat oder nicht. Ein erster flüchtiger Blick auf die Frontberichterstattung scheint eine eindeutige Botschaft zu vermitteln. So veröffentlichte der Bundesverband Deutsche Tafel seinen Jahresbericht 2013 mit einigen erschreckenden Erkenntnissen hinsichtlich der Menschen, die in den vielen Ausgabestellen der insgesamt 916 Tafeln, die es derzeit in Deutschland gibt, ihren Lebensmittelbedarf teilweise decken (müssen). Immer mehr, darunter auch immer mehr Menschen, die eine Arbeit haben, immer mehr Rentner und nun auch noch Studenten – so lassen sich einige Befunde zusammenfassen. Gleichzeitig geistern neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes durch die Medien, die mit solchen Überschriften auf den Punkt gebracht werden sollen: Jeder fünfte Deutsche kann sich keinen Urlaub leisten. Fazit: Es scheint so zu sein, dass die Verarmung in unserer Gesellschaft kontinuierlich weiter voranschreitet. Aber auch hier macht es Sinn, einen differenzierten Blick nicht nur auf die Zahlen, sondern auch auf die Relationen und die dahinter stehenden Verhältnisse zu werfen.


»Als im Jahr 1993 die ersten Tafeln damit anfingen, übrig gebliebene Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen, standen in den Schlangen vor der Essensausgabe vor allem Obdachlose. Eine Nothilfe sollten die Tafeln sein, eine Anlaufstelle für Menschen in Ausnahmesituationen«, schreibt Kathleen Hildebrand in ihrem Artikel "Armutszeugnis", der in der Print-Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung" am 27.05.2014 veröffentlicht wurde. Und dann zitiert sie Jochen Brühl, den Vorsitzenden des Bundesverbands Deutsche Tafel anlässlich der Vorstellung des Jahresberichts 2013 der Organisation mit den Worten: "Wir beobachten schon seit längerem die Tendenz, dass neben ALG-II-Empfängern auch Menschen zu uns kommen, die Arbeit haben". Und weiter schreibt sie: »Die Jahresbilanz für 2013, die der Verband am Montag in Berlin vorgestellt hat, erhärtet diese Beobachtung: Alleinerziehende und deren Kinder, prekär Beschäftigte und Teilzeitkräfte reihen sich mit in die Schlangen ein. Neue Zahlen zu den regelmäßigen Nutzern der Tafeln wird der Bundesverband im Herbst vorlegen – im Jahr 2012 kamen 1,5 Millionen Menschen. Da die Nutzerzahlen vielerorts stärker steigen als die Lebensmittelspenden, konnten die Tafeln pro bedürftigem Empfänger oft weniger verteilen als in den Jahren zuvor.« Ergänzend weist der Bundesverband darauf hin, dass auch die Zahl der Asylbewerber und EU-Zuwanderer, die zu den Tafeln kommen, angestiegen sei. Ebenso trifft dies auf Studenten zu. Jeder dritte Tafel-Nutzer ist ein Kind.


Es gibt seit langem Kritik an der Arbeit der Tafeln. Diese stellt vor allem darauf ab, dass die Tafeln den Staat von seiner Verantwortung und Fürsorgepflicht entlasten und die moderne Variante der "Armenspeisung" zu einem "selbstverständlichen" Element der materiellen Versorgung der Einkommensarmen mutiert ist. Immer wieder gibt es Berichte, dass Jobcenter Hartz IV-Empfänger auf die "Versorgungsangebote" der Tafeln verweisen. Kritische Stimmen und entsprechende Analysen findet man beispielsweise auf der Seite Tafelforum.

Aber der Bundesverband der Tafeln setzt sich selbst kritisch mit der eigenen Arbeit auseinander. Auf der Jahrespressekonferenz wurde beispielsweise mit Blick auf die zunehmende Zahl der Flüchtlinge, Asylbewerber und EU-Zuwanderer, die in die Tafeln kommen, angemerkt: »Es kann nicht sein, dass die Politik sich darauf verlässt, dass die Tafeln die Not der Geflüchteten und Zugewanderten auffangen. Es ist eine staatliche Aufgabe und eine humanitäre Pflicht, für einen menschenwürdigen Aufenthalt in Deutschland zu sorgen. Die Tafeln können und wollen nur ein ergänzendes Angebot sein, sie sind keine Vollversorger.« Und auf einen weiteren Punkt wird verwiesen: Die 919 Tafeln, die es in Deutschland gibt, verteilen deshalb ausschließlich übrig gebliebene Lebensmittel. Einen Zukauf von Essen aus Geldspenden – 2013 erhielt der Bundesverband 4,6 Millionen Euro – schließt der Verband in seiner Satzung aus, so Kathleen Hildebrand in ihrem Artikel.

Vor dem Hintergrund der neuen "Umsatzzahlen" aus den Lebensmittelverteilzentren für die Einkommensarmen scheint die folgende Meldung nahtlos den Befund eines zunehmenden Armutsproblems in unserer Gesellschaft zu ergänzen: Ein Drittel der Bevölkerung kann sich unerwartete größere Anschaffungen nicht leisten, so ist eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes überschrieben.

»Ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland (33,4 %) lebte 2012 in privaten Haushalten, die nach eigener Einschätzung nicht in der Lage waren, unerwartet anfallende Ausgaben aus eigenen Finanzmitteln zu bestreiten. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Ausgaben für größere Anschaffungen oder Reparaturen. Auf  Urlaubsreisen mussten knapp 22 % der Bevölkerung aus finanziellen Gründen verzichten. Das sind Ergebnisse aus der EU-weit vergleichbaren Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) 2012«, so die Bundesstatistiker.

In den Medien wurde dann daraus beispielsweise der Beitrag Jeder fünfte Deutsche kann sich keinen Urlaub leisten. Dabei - das arbeitet der Artikel selbst heraus - handelt es sich bei den knapp 22%, die in der Befragung angegeben haben, dass sie sich wegen Geldmangel keinen Urlaub leisten können, um einen Durchschnittswert über die gesamte Bevölkerung. Schaut man sich die entsprechenden Zahlen für die Menschen an, die im statistischen Sinne als "armutsgefährdet" etikettiert werden (als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2011 lag der Schwellenwert für eine allein lebende Person in Deutschland bei 980 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.058 Euro), dann verdüstert sich die Befundlage weiter:

»Unter der armutsgefährdeten Bevölkerung in Deutschland waren die finanziellen Schwierigkeiten den Statistikern zufolge besonders groß. So musste rund ein Viertel (24,8 Prozent) aus finanziellen Gründen häufiger auf vollwertige Mahlzeiten verzichten. Fast drei Viertel (73,2 Prozent) der Armutsgefährdeten konnten unerwartet auftretende Ausgaben nicht aus eigener Kraft finanziell bewältigen. Mehr als die Hälfte von ihnen (57,6 Prozent) konnten aus finanziellen Gründen nicht einmal für eine Woche in Urlaub fahren.«

 Von vielen Medien und in vielen Kommentaren wurden diese Daten aufgegriffen, um den Eindruck zu erwecken, dass die Verarmung weiter vorangeschritten sei. Das nun aber kann man aus den Daten zum einen deshalb nicht ableiten, weil hier mit Querschnittsdaten aus einem Jahr gearbeitet wird, die aus einer Befragung stammen. In diesem Kontext muss man die kritischen Anmerkungen sehen, die man dem Artikel "Und es war Sommer" (Print-Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung" vom 27.05.2014) von Harald Freiberger entnehmen kann:

»Auf den ersten Blick scheinen die Daten eine bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung zu bestätigen, die statistisch belegt und aktuell Gegenstand mehrerer erfolgreicher Bücher ist: Dass in den Industriestaaten die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Offenbar spiegelt sich das jetzt in den Urlaubsreisen: Auf der einen Seite eine große Anzahl von Menschen, die nicht einmal eine Woche im Jahr wegfahren können – auf der anderen Seite der Trend zu immer teurerem Ferntourismus in Hotels mit immer mehr Sternen ... Doch ganz taugen die Daten nicht, um die These von der auseinander gehenden Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland zu bestätigen. Zum einen: In europäischen Durchschnitt liegt die Zahl jener, die keine Urlaubsreise unternehmen, doppelt so hoch – bei 40 Prozent. Und da ist die Vergleichszahl aus der letzten Befragung im Jahr 2008: Damals gaben 25 Prozent der Deutschen an, sich keine Urlaubsreise leisten zu können. Ihr Anteil ist demnach in den vergangenen vier Jahren gesunken und nicht gestiegen.«

An dieser Stelle soll eine gleichsam grundsätzliche Frage aufgeworfen werden - gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass immer wieder und aus guten Gründen gegen Armut und Ausgrenzung argumentiert wird, auch in diesem Blog: Ist es wirklich ein geeigneter Maßstab für Exklusion oder gar Verarmung, wenn man sich keinen Urlaub leisten kann? Es soll hier gar nicht die Frage gestellt werden, wie das denn in den 1960er und auch in den von vielen heute sozialstaatlich verklärten 1970er Jahren war. Wie viele Arbeitnehmer-Haushalte haben sich denn damals jährlich einen Urlaub leisten können? Zugespitzt gefragt: Ist es denn "selbstverständlich", dass auch Studierende, die sich während des Studiums oftmals in einer statistischen Einkommensarmutslage befinden, ein "Recht" haben, in die Türkei oder an die spanische Mittelmeerküste zu fliegen, um dort Urlaub zu machen? Die Antwort, die nur eine normative sein kann, soll nicht verborgen bleiben (und sie kann bei anderen anders ausfallen): Nein, ein solches Anrecht kann es nicht geben und es ist keine wirklich hilfreiche Kategorie bei dem notwendigen Diskurs über soziale Ungleichheit.

Für den bitter notwendigen Diskurs über soziale Ungleichheit und Exklusion sollte man sich eher die Daten und Erkenntnisse aus der Arbeit der Tafeln anschauen. Hier liegt genügend Sprengstoff. Und von hier aus lassen sich grundsätzliche und letztendlich weiterführende Anfragen an das sozialstaatliche System, aber auch an die "Ökonomie der mildtätigen Hilfe" stellen.