Dienstag, 22. April 2014

Die Apologeten der "privaten Vorsorge" haben viel zu tun diese Tage - neben der Rettung der Rentengeschäfte jetzt auch noch die Pflegebaustelle

Es ist aber auch wirklich viel los auf den sozialpolitischen Baustellen der Republik - neben dem Mindestlohn und dem "Rentenpaket" soll nun auch eine "Pflegereform" kommen. Und bei Rente und Pflege muss die wissenschaftlich daherkommende Prätorianergarde der Finanzindustrie an die Front geworfen werden. Was die meistens schon von alleine tun. Neben dem Werben um die - verständlicherweise - verunsicherten Menschen hinsichtlich ihrer (sinkenden) Bereitschaft, privat für den eigenen Ruhestand Riester- und sonstige Verträge abzuschließen und der Propagierung der noch nicht so verbrannten, obgleich bei genauerem Hinschauen äußerst fragilen betrieblichen Altersvorsorge als neues Geschäftsfeld für Banken und Versicherungen (vgl. hierzu: Rürup "rettet" wieder mal die Rente. Fragt sich nur, welche), widmet man sich nun der anstehenden "Reform" der Pflegeversicherung - und dabei insbesondere der geplanten Einführung eines so genannten "Vorsorgefonds", der mit über einer Milliarde Euro aus Beitragsmitteln der Pflegeversicherung gespeist werden soll. Diesem "Vorsorgefonds" kann man aus einer "klassischen" sozialpolitischen Sicht nur mit einem irritierten Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen, denn es ist schon ein einmalige Sache, dass man in einer umlagefinanzierten Sozialversicherung ein kapitalgedecktes Sparbuchmodell installieren will (dazu bereits: Die Pflege und das Geld: Wiederbelebungsversuche der "Bürgerversicherung" und Wiederauferstehung der Kapitaldeckung im Mäntelchen eines "Vorsorgefonds"). Aber nun muss man ebenfalls zur Kenntnis nehmen, dass Rürup, Raffelhüschen & Co. auch gegen den Fonds Sturm laufen. Sind die übergelaufen in das Lager derjenigen, die von der Sinnhaftigkeit eines umlagefinanzierten, allerdings anders als heute aufgestellten sozialen Sicherungssystems überzeugt sind?

Um jede Hoffnung gleich im Keim zu ersticken - so ist es leider nicht, sondern man lehnt etwas ab, was auf den ersten Blick doch den eigenen immer wiederkehrenden Forderungen nach mehr Kapitaldeckung entspricht, das aber deshalb bekämpft werden muss, weil es die wirklichen Geschäfte gefährden könnte.

Ihre Stimme hat Gehör gefunden in solchen Artikeln: Ökonomen nennen Pflegereform "Unfug", so ein Beitrag von Dorothea Siems. Schon der Untertitel offenbart die Stoßrichtung: »Jetzt Geld in einem Topf sammeln, um ab 2030 damit die Pflegekosten zu dämpfen. Dieser Plan der Regierung entsetzt Experten. Die Vergangenheit zeige, dass Politiker Ersparnisse oft zweckentfremden.«
"Deutschlands führende Sozialexperten" - darunter macht man es heutzutage semantisch nicht mehr - warnen die große Koalition vor einer falschen Weichenstellung in der Pflegeversicherung, meint Frau Siems. So wird der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen zitiert mit den Worten, die geplante Pflegereform des Bundesgesundheitsministers Größe (CDU)  bedeute eine "Verteilung von Wohltaten und verschärfe die langfristig ohnehin großen Finanzierungsprobleme erheblich".
  • Raffelhüschen ist Mitglied im Aufsichtsrat der ERGO Versicherungsgruppe sowie der Volksbank Freiburg. Des Weiteren ist er als wissenschaftlicher Berater für die Victoria Versicherung AG in Düsseldorf tätig. Er ist außerdem Mitglied des Vorstands der Stiftung Marktwirtschaft. Darüber hinaus ist er als Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft tätig, einer Lobbyorganisation der Metall-Arbeitgeber.
Raffelhüschen plädiert für eine "Rückbesinnung auf die Eigenverantwortung". Was aber solle das heißen? Sicher nicht die Eigenverantwortung der Menschen, die sich darin niederschlägt, dass sie jeden Monaten viel Geld als Beiträge in die Sozialversicherung einzahlen, wenn sie nicht Beamte oder sonstige Ausnahmefälle sind. Er meint etwas anderes:

»"Wir sollten in der Pflegestufe I eine Karenzzeit einführen, während der die Sozialversicherung noch keine Leistungen auszahlt", fordert der Ökonom. Man könnte mit drei oder sechs Monaten starten und dann die Karenzzeit auf ein Jahr ausweiten. "Statt die Solidargemeinschaft für jeden Pflegefall zahlen zu lassen, sollen wir uns in der Sozialversicherung darauf beschränken, das Großrisiko der teuren Langzeitpflege abzudecken", so Raffelhüschen.«

In diesem Konzert darf Bert Rürup nicht fehlen: »Der frühere Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, nannte Gröhes Vorhaben, bei der Bundesbank einen staatlichen Vorsorgefonds aufzulegen, "Unfug".« Und noch einer wird in Stellung gebracht bzw. tut das selbst: »"Mit der geplanten Pflegereform wird – ebenso wie mit den neuen Rentenleistungen – die verdeckte Staatsverschuldung erhöht", warnte der Direktor des Max Planck Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik, Axel Börsch-Supan
Der nun wiederum zeigt, dass auch Wissenschaftler ganz volksnah sprechen können:

»Auch Börsch-Supan hält nichts von dem geplanten Pflegefonds. "Man lässt den Hund nicht auf den Wurstvorrat aufpassen." Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigten, dass Regierungen angespartes Kapital immer nutzten, um Haushaltslöcher zu stopfen, so der Ökonom.«

»Bert Rürup warnt ebenfalls: "Kapital einer öffentlichen Kasse ist – auch wenn es von der Bundesbank verwaltet wird – nicht vor dem Zugriff durch die Politik gefeit."«

Sie sind richtig besorgt um die anzulegenden Gelder und sollen die bei vielen Bürgern tief  verankerten Abwehrreflexe gegen "den" Staat wecken.
Rürup argumentiert wieder einmal - zumindest wenn man der vorliegenden Berichterstattung folgt - am stringentesten:

»Der Minister gehe fälschlicherweise davon aus, dass die Beitragsbelastung nur in den Jahren 2035 bis 2055 sehr hoch sei, weil dann die geburtenstarken Jahrgänge hochbetagt sein würden und die Zahl der Pflegefälle dann besonders groß sei ... "Wir stehen ... nicht vor einem Berg an Pflegebedürftigen, den man untertunneln könnte, sondern vor einem Plateau", stellte der Wissenschaftler klar. "Wenn der Kapitalstock Mitte der 2050er Jahre aufgebraucht ist, springt der Beitragssatz wieder genau auf die Höhe, auf der er auch ohne diese temporäre Kapitalrücklage liegen würde."«

Ja warum kritisieren die denn ein Modell, das doch eigentlich - prima facie - all dem entspricht, was sie ansonsten immer gerne propagieren? 

Die Antwort darauf ist relativ einfach und ernüchternd: Man will wie so oft im geschäftlichen Leben lästige Konkurrenz vermeiden. Denn wenn der Staat einen Vorsorgefonds einrichtet und von der Bundesbank verwalten lässt, dann könnten ja die Betroffenen auf die Idee kommen, dass man sich dann nur noch weniger oder gar nicht privat gegen das Pflegebedürftigkeitsrisiko absichern muss.
Und die eigentliche Stoßrichtung der Akteure wird in solchen Zitaten erkennbar:

»Ein Großteil der Leistungen der Pflegeversicherung gehe heute an Menschen, die gar nicht darauf angewiesen seien. Denn 80 Prozent der Menschen seien finanziell durchaus in der Lage, privat Vorsorge zu betreiben. Für den Rest habe die Gesellschaft auch schon vor der Einführung der Pflegeversicherung die Leistungen über die Sozialhilfe finanziert«, so Raffelhüschen. »Börsch-Supan plädiert gleichfalls dafür, das Pflegerisiko über private Versicherungen abzudecken.«

Darum geht es. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger.

Übrigens: Wie distanziert manche dieser Wissenschaftler von der Realität der sozialpolitischen Problemlagen sind, verdeutlicht dieses Zitat über die Sicht der Welt aus der Brille eines Herrn Rürup: Die Einbeziehung der Demenzkranken in die Pflegeversicherung sei eigentlich ja verständlich und richtig, aber: »Der Demenzgrad sei nicht so eindeutig diagnostizierbar und messbar wie ein körperliches Gebrechen. "Die Gefahr bei der geplanten Erweiterung des Pflegebegriffs ist, dass dies zum Einfallstor für eine deutliche Leistungsausweitung wird."«

Warum denn keine deutliche Leistungsausweitung, Herr Rürup?