Freitag, 10. Januar 2014

Über die Zuckungen der Erregungsgesellschaft beim Thema Sozialleistungen für EU-Mitbürger - oder was eine Stellungnahme von EU-Beamten so auslösen kann. Ach ja - und die Frage nach den Profiteuren von dem, was als Missbrauch auf die Bühne tritt

Bekanntlich leben wir in einer medialen Erregungsgesellschaft. Dies kann man diese Tage erneut lehrbuchhaft studieren. Ausgelöst durch wahlkampfvorbereitende verbale Kraftmeierei aus Bayern ("Wer betrügt, der fliegt") debattieren die Medien und dadurch angereizt Politik und viele Menschen erregt über eine angebliche Massenzuwanderung "in unsere Sozialsysteme", vor allem die armen Mitbewohner des europäischen Hauses in Bulgarien und Rumänien vor den Augen habend. Und während man versucht, die komplexe Rechtslage hinsichtlich der Gewährung von Sozialleistungen an - ja wen eigentlich: EU-Ausländer oder nicht vielmehr EU-Mitbürger? - zu erörtern und darauf hinzuweisen, dass es zahlreiche offene Fragen gibt (vgl. hierzu den Blog-Beitrag "Ja gibt's das denn: Wenn Deutsche das Ausland "überlasten. Und ganz viele warten auf den EuGH" vom 9. Januar 2014), da wird man scheinbar von "Entscheidungen" oder besser: von Ereignissen, die als Entscheidungen kolportiert werden, überholt: "Brüssel fordert Hartz IV-Prüfung für arbeitslose EU-Zuwanderer", berichtet Roland Preuß in der Süddeutschen Zeitung und sofort setzt ein medialer Tsunami ein, der zu abertausenden von Kommentaren und wutschnaubenden Ausritten des (partei)politischen Apparates führt. Preuß notiert in seinem Artikel: »Armutszuwanderer müssen nach Ansicht der EU-Kommission in Deutschland leichter Zugang zu Sozialleistungen erhalten. Dies geht aus einer Stellungnahme der Kommission zu einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.« Das hört sich klar und eindeutig an und so wurde und wird das auch kolportiert. Wie immer im Leben ist es aber ein wenig komplexer und auch irgendwie nicht so eindeutig, wie es nun daherzukommen scheint.

In der erwähnten Stellungnahme, so Preuß, »stellt die Kommission eine zentrale Vorschrift im Sozialgesetzbuch über den Ausschluss von EU-Zuwanderern von Hartz-IV-Leistungen infrage. Diese sei mit europäischem Recht nicht vereinbar, rügen die Brüsseler Juristen. Sollten die europäischen Richter der Kommission folgen, so hätten Zuwanderer künftig deutlich bessere Chancen auf Sozialleistungen, selbst dann, wenn sie keine Arbeitsstelle suchen.«

Schauen wir uns kurz den Ausgangsfall an, auf den sich die Stellungnahme bezieht:

»In dem Verfahren geht es um eine 24-jährige Rumänin und ihren kleinen Sohn, die seit 2010 dauerhaft in Deutschland leben. Jahrelang wohnte die Frau bei ihrer Schwester in Leipzig und erhielt Kindergeld sowie einen Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt. Die Mutter, die lediglich drei Jahre die Schule besucht hatte, nahm keine Arbeit auf und beantragte Hartz-IV-Leistungen, was das Jobcenter ablehnte. Dagegen klagte die Rumänin. Das Sozialgericht Leipzig hatte den Fall im Juni vergangenen Jahres dem EuGH zur Klärung vorgelegt.«

Die Kommission bemängelt insbesondere den generellen Ausschluss vieler EU-Ausländer von Hilfen im deutschen Sozialrecht. Nach den geltenden Regeln erhalten nur Arbeitnehmer und Selbständige Hartz-IV-Leistungen, nicht aber Migranten, die aus anderen Gründen ins Land kommen, so Preuß in seinem Artikel.

Wenn man das liest, dann könnte der eine oder die andere schon auf den Gedanken kommen, hier spricht "die" Kommission ex cathedra und damit werden die "Hartz IV-Scheunentore" nun sperrangelweit von den Deutschen zu öffnen sein, weil "Brüssel" das so will.
Dabei sollte man skeptisch werden, wenn man an andere Verlautbarungen "der" EU-Kommission denkt, denn dem Beitrag "Sozialsysteme sind kein Selbstbedienungsladen" auf Handelsblatt Online können wir entnehmen:

Frühere Äußerungen der EU-Kommission weisen derweil in eine andere Richtung als aktuell geäußert. „Das EU-Recht sagt ganz klar: Es gibt ein Recht auf Freizügigkeit, aber kein Recht auf Einwanderung in die nationalen Sozialsysteme“, hatte EU-Justizkommissarin Viviane Reding kurz vor Weihnachten der Nachrichtenagentur AFP gesagt. „Freizügigkeit heißt nicht, frei Sozialleistungen zu beziehen. Laut EU-Recht haben nur arbeitende EU-Bürger ein Recht auf Sozialleistungen.“

Auch hier gilt: Die Wahrheit ist oftmals weitaus mickriger und ungeschminkter, als es uns ein Teil der Medien abschreibungsweise ans Herz bzw. in den Kopf legen wollen.

Durchaus instruktiv in diesem Kontext - gleichsam eine Art "kalte Dusche" - ist ein Interview in der Online-Ausgabe der ZEIT mit dem Europarechtler Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz, mit der klaren Ansage: "Die Debatte um Sozialleistungen für EU-Bürger ist aufgebauscht". Thym wird mit den folgenden Worten zitiert: »Ich halte das für aufgebauscht. Das ist zunächst nur ein internes Papier eines Juristen aus der EU-Kommission und nur eine Stellungnahme für den Europäischen Gerichtshof ... Letztlich wird sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) aber seine eigene Meinung bilden.« Er liefert auch eine Prognose der zu erwartenden EuGH-Entscheidung: »Es wird keine klare Ja/Nein-Entscheidung sein, die jetzt einige erwarten. Der EuGH wird wieder einmal eine Kompromisslösung finden: Nicht alle EU-Bürger bekommen die Leistungen ausgezahlt, sondern nur die, die "sich bis zu einem gewissen Grad integriert haben". Diese Formulierung gab es schon in früheren Urteilen. Alles Weitere müssen dann die deutschen Behörden und Gerichte entscheiden.«

Und dann kommt ein entscheidender Satz auf die Frage, wann denn eigentlich mit einer Entscheidung des EuGH zu rechnen sei: »Nicht vor dem Sommer 2015. In der Zwischenzeit dürfte sich in Deutschland wenig ändern, ganz ähnlich wie bei der Vorratsdatenspeicherung: Die Mitgliedsstaaten sind unsicher und warten ab.«

Aber das belastet die sich in Bewegung gesetzte Medienmaschinerie nicht im geringsten, nun versuchen auch andere, mit neuen Zahlen die erregte Erregung, die von der Errgungsberichterstattung ausgelöst wurde, zu füttern.

Ein Beispiel dazu findet man in der Online-Ausgabe der FAZ - zugleich ein kleines Lehrstück für das immer wiederkehrende Thema "Auf die Grundgesamtheit kommt es an" sowie für das Vermischen von unterschiedlichen Tatbeständen:
In der Rubrik "Hartz IV" erscheint ein Artikel von Sven Astheimer mit der Überschrift "Mehr Geld für selbständige Rumänen und Bulgaren.« Die Zahl der selbstständigen Rumänen und Bulgaren, die ergänzend Hartz IV empfangen, hat sich binnen zwei Jahren verdoppelt, so erfahren wir direkt aus dem Vorspann des Artikels. Manchem wird diese "Headline" schon reichen, um sich und seine Befürchtungen bestätigt zu sehen. Wenn man sich aber die Mühe macht, den Beitrag weiter zu lesen, dann erfährt man Interessantes zur Größenordnung dieses Verdoppelungsproblems in Deutschland, einem Land mit laut Statistischem Bundesamt 80,2 Millionen Einwohnern:

»Die Zahl der Rumänen und Bulgaren, die hierzulande als Selbständige so wenig verdienen, dass sie ergänzend Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen, hat sich innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Gab es im Juni 2011 noch 861 Selbständige aus diesen beiden Ländern, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten konnten, waren es im Sommer 2013 schon 2037.«

Von 861 auf 2.037 Selbständige, die aufstockend Hartz IV-Leistungen beziehen. In zwei Jahren ist also diese Zahl um über 136% angestiegen.

Während es aber bei der einen Debatte, ausgelöst durch die Stellungnahme "der" EU-Kommission für das EuGH, um die Frage geht, ob man Hartz IV-Leistungen gewähren muss, auch wenn keine Arbeit gesucht wird oder keine Arbeit ausgeübt wurde, geht es hier um die Selbständigen, de nach dem SGB II nach Prüfung ihrer Bedürftigkeit eben grundsätzlich Anspruch haben auf aufstockende Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, wenn ihre Einkünfte unter dem Existenzminimum liegen sollte. Davon machen zigtausend Selbständige Gebrauch.

Das ist aber primär ein "deutsches Systemproblem" im Grundsicherungssystem, das man kritisieren kann, dann aber für alle. Und sekundär wird es zu einem spezifischen Problem einer armutsbedingten Zuwanderung, wenn sich die Selbständigkeit als Bypass-Option für die ansonsten von Leistungen ausgeschlossenen EU-Bürger aus anderen Mitgliedsstaaten erweist, die man nutzt, um die restriktiven Zugangsbestimmungen (die übrigens grundsätzlich von der EU-Kommission nicht in Frage gestellt werden) zu umgehen. Nun ist es aber so, dass die Selbständigen eben arbeiten, während es in dem anderen Fall um Menschen geht, die (noch) nicht arbeiten und/oder dies auch nicht vor haben.

Bleiben wir beim Thema "Selbständigkeit" und dem derzeit permanent rezitierten oder mitschwingenden Vorwurf, hier würden die Zuwanderer "Missbrauch" betreiben. In der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 10.01.2014 erschien unter der Überschrift "Die Scheinfirmen der Zuwanderer" ein Interview mit dem Berliner Sozialrichter Michael Kanert, das hoffentlich noch online gestellt wird. Darin erklärt er, wie Deutsche von der Armutsmigration profitieren und wie man den Ausgebeuteten helfen könnte. Hier einige seiner Aussagen, denen er voranstellt, dass etwa 90 Prozent der Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien überhaupt keine Hartz-IV-Leistungen in Anspruch nehmen:

»Auf der anderen Seite habe ich im letzten Jahr tatsächlich verstärkt Fälle bekommen, in denen Menschen aus Rumänien und Bulgarien das Jobcenter verklagen, um Hartz-IV-Leistungen zu bekommen. Die meisten dieser Kläger haben gearbeitet. Sie kamen also nicht als „Sozialtouristen“, die nur öffentliche Gelder wollten. Sie wurden jedoch so schlecht bezahlt, dass sie davon den Lebensunterhalt für ihre Familie nicht bestreiten konnten. Ein rumänischer Bauarbeiter, der auf Berliner Baustellen den Schutt weggeräumt hat, hat dafür beispielsweise 600 Euro brutto erhalten. Der Mann hatte eine Scheinfirma gegründet und war offiziell als Subunternehmer auf der Baustelle tätig. In diesem Fall hatte ich allerdings nun schon den Eindruck, dass hier das Sozialsystem missbraucht werden sollte. Der rumänische Bauarbeiter schien mir dabei aber nur das kleinste Glied in der Kette zu sein.«

Hintergrund dieser Fälle waren Anreize durch die gesetzlichen Regelungen bis zum Jahresanfang, als die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Kraft getreten ist - man hat sich das Problem teilweise selbst gemacht:

»Bis zum Jahresende galten verschärfte Regelungen für Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien. Eine legale Arbeit in Deutschland war oft nur möglich, wenn sie als selbständige Unternehmer aufgetreten sind. In Berlin beispielsweise haben daher viele zugewanderte Rumänen oder Bulgaren ein Mini-Bauunternehmen gegründet. Oder Frauen gründeten eine Reinigungsfirma. Diese Firma existierte jedoch nur auf dem Papier. In Wahrheit wurden diese Menschen für eine ganz schlechte Bezahlung als abhängige Tagelöhner eingesetzt, auf Baustellen oder als Putzkräfte in Hotels und Restaurants. Die Geschäftspartner haben diese Situation bewusst ausgenutzt und davon profitiert.«

Kanert plädiert in dem Interview ausdrücklich dafür, dass man in diesen Fällen nicht nur auf die betroffenen Zuwanderer schauen sollte, sondern auch auf die vielen Helfer in Deutschland, die von dieser Situation profitieren und sie teilweise erst verursachen. Viele Rumänen wurden von diesen Helfern zum Gewerbeamt begleitet, um sich dort anzumelden, was sie alleine niemals geschafft hätten. Und auch die korrekt gestellten Rechnungen werden von diesen "Helfern" geschrieben. »Ich habe erlebt, dass der angebliche Geschäftspartner diese Rechnungen selbst geschrieben hat.« Beispielsweise bei Reinigungsfirmen, die "selbständige" Putzfrauen für sich arbeiten lassen. Eine solche Reinigungsfirma kann damit - auf Kosten Dritter - Gewinne machen:

»Für eigene Arbeitnehmer hätte sie Beiträge zur Sozialversicherung zahlen müssen. Außerdem gilt im Reinigungsgewerbe bereits jetzt ein Mindestlohn. Mit einem Subunternehmer kann der Preis dagegen frei ausgehandelt werden. In unserem Fall war diese Freiheit aber nur vorgetäuscht. Tatsächlich war die Putzfrau vollständig abhängig von der Reinigungsfirma, die sie zum Putzen in verschiedene Berliner Hotels geschickt hat.«

Natürlich wird der Sozialrichter Kanert auch gefragt, was man gegen das von ihm behauptete systematische Unterlaufen von Mindeststandards machen könnte:

»Das System von Scheinfirmen und Subunternehmern würde wesentlich erschwert, wenn die Jobcenter rigoroser einschreiten, sobald in diesem Zusammenhang Hartz-IV-Leistungen beantragt werden. Wenn die Jobcenter den Verdacht haben, dass ein Antragsteller nur scheinselbständig für eine Baufirma arbeitet, in Wahrheit also deren Angestellter ist, müssten sie die Rentenversicherung und das Hauptzollamt einschalten und so dafür sorgen, dass die Baufirma sämtliche Sozialbeiträge sowie die Differenz zum Mindestlohn nachzahlen muss. Außerdem können die Jobcenter den Chef der Baufirma bei der Staatsanwaltschaft anzeigen, schließlich ist das Hinterziehen von Sozialabgaben strafbar.«

Und abschließend stellt er einen interessanten Link her zu einer anderen sozialpolitischen Baustelle - dem Mindestlohn: Er wundert sich, dass einige Politiker derzeit umfassend über einen angeblichen, zuweilen auch tatsächlichen "Sozialmissbrauch" lamentieren, gleichzeitig aber schon wieder neue Schlupflöcher schaffen wollen, die einen Missbrauch erleichtern:

»Wenn beispielsweise der Mindestlohn in Zukunft nicht mehr für Praktikanten gelten soll, dann werden wir bald jede Menge rumänischer und bulgarischer „Praktikanten“ auf deutschen Baustellen antreffen. Die werden dann alle vier Wochen mit der nächsten Baustelle ausgetauscht. Kontrolleure wären da machtlos, die Bauarbeiter würden weiter ausgebeutet und die Firmen schädigen weiter das Sozialsystem.«

Nur, die Frage darf und muss erlaubt sein: Wer betreibt hier eigentlich Missbrauch? Und immer auch die Frage: Zu wessen Gunsten? Über die Profiteure wurde und wird bislang sehr einseitig diskutiert.