Montag, 17. Juni 2013

Warum die "Niedrigzinsfalle" auch ein großes Thema für die Sozialpolitik ist

Die Rentenversicherung und die Krankenversicherung sind die beiden großen Systeme des deutschen Sozialstaats - diese beiden Versicherungszweige bringen es auf mehr als die Hälfte des gesamten Sozialbudgets, also aller Sozialleistungen in Deutschland. Demnach entfielen nach dem amtlichen Sozialbudget 2011 von den 767,6 Mrd. Euro Sozialleistungen 32% auf die Rentenversicherung und 24,5% auf die Krankenversicherung (gesetzliche und private Krankenversicherung zusammen). Die Entwicklung in diesen beiden großen Systemen ist zentral für das, was unter "Sozialleistungen" diskutiert wird - bzw. eigentlich werden sollte, denn wenn beispielsweise in der öffentlichen Debatte über Einsparmöglichkeiten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gestritten wird, dann ist das aus der Gesamtperspektive des Sozialbudgets ohne spürbare Relevanz.

Man sollte sich an dieser Stelle einmal verdeutlichen, dass alle Ausgaben für den Bereich Kinder- und Jugendhilfe zusammen lediglich 3,4% des Sozialbudgets ausmachen (BMAS, Sozialbudget 2011, S. 6). Wenn man jetzt also - um zu "sparen" - alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe komplett einstellen würde, also alle Kindertageseinrichtungen schließen würde, alle Kinder- und Jugendheime und Wohngemeinschaften, alle Beratungsangebote, dann würde das erhebliche Verwüstungen vor Ort anrichten, wie sich jeder vorstellen kann, aber der Effekt im Sozialbudget wäre marginal.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass der Ausgabenentwicklung in den beiden großen Systemen die größte Bedeutung zukommt. Deshalb hat es ja auch mit den so genannten "Rentenreformen" der damaligen rot-grünen Bundesregierung vor allem Anfang der 2000er Jahre massive Einschnitte bei der gesetzlichen Rente gegeben, die im Wesentlichen daraus bestanden, faktische Rentenkürzungen zuungunsten der Versicherten durchzusetzen. Gleichzeitig wurden die bewusst geschaffenen Sicherungslücken bekanntlich auf dem Papier dadurch "ausgeglichen", dass man ein mit erheblichen Steuermitteln gepampertes System der (freiwilligen) privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge ("Riester-Rente") installiert hat - zum besonderen Wohlgefallen der Versicherungswirtschaft, die hier ein weiteres staatlich subventioniertes Betätigungsfeld bekommen hat. Es ist hier nicht der Platz, in die Details der vielstimmigen Kritik an dieser Form der Altersvorsorge einzusteigen - aber ein Aspekt soll besonders herausgestellt werden: Die immer wieder vorgetragene Kritik, dass die milliardenschwere öffentliche Förderung der "Riester-Rente" vor allem den privaten Finanzunternehmen zugute kommt und weniger bis gar nicht den betroffenen Versicherten. Das führt unmittelbar zu der Frage, warum eigentlich diese Säule der Altersvorsorge von privaten, auf Gewinn und Gewinnmaximierung ausgerichteten Unternehmen durchgeführt werden muss und ob man das - wenn schon - nicht in die Hände eines öffentlichen Versicherers hätte legen können und müssen. Vorbilder dafür gibt es in anderen Ländern, beispielsweise in Schweden.
Vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß von Herbert Rische, dem Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung (DRV) von Interesse, den dieser in einem Interview mit der "Rheinischen Post" geäußert hat:

»Ich kann mir ein Modell vorstellen, nach dem die Menschen zusätzlich zu ihrer gesetzlichen Rente, über freiwillige Zahlungen weitere Ansprüche bei der Rentenversicherung erwerben. Solche Zahlungen ließen sich auch mit einer betrieblichen Altersvorsorge oder anderen Altersvorsorgeprodukten kombinieren. Von Versicherten haben wir oft solche Nachfragen. Wir sollten hier die Türen öffnen.«

Rische geht davon aus, dass die Deutsche Rentenversicherung mit einem solchen Angebot konkurrenzfähig wäre.

Es kann allerdings nicht wirklich verwundern, dass es so gut wie keine Resonanz auf diesen Versuchsballon der DRV in der Politik gegeben hat. Man kann sich vorstellen, welche Lobby-Geschütze der finanzindustrielle Komplex auffahren würde, um so eine Konkurrenz zu verhindern.

Aber auch wenn wir uns vorstellen, es würde eine solche private Altersvorsorge-Alternative in der Hand der Deutschen Rentenversicherung geben - sie müsste wie die private Konkurrenz angesichts der Kapitaldeckung in dieser Säule der Altersvorsorge das anzusparende Kapital rentierlich anlegen (können) - und würde damit sogleich vor ein Problem gestellt werden, mit dem die privaten Versicherungsunternehmen schon längst zu kämpfen haben: Der seit längerem anhaltenden Niedrigzinsphase, für deren Ende es in der absehbaren Zeit keine erkennbaren Anzeichen gibt. Das bringt die kapitalgedeckten Systeme in schweres Fahrwasser.

Nehmen wir als Beispiel eines der wichtigsten Instrumente für die private Altersvorsorge in Deutschland: Die Lebensversicherungen, von denen es in Deutschland mehr als 90 Millionen gibt. Die Zinsproblematik wird beispielsweise in dem SWR-Radiobeitrag "Sorge trotz Vorsorge. Warum der Leitzins die privaten Lebensversicherungen unter Druck setzt" behandelt:

»Die Zinsen sind im Keller. Wer jetzt einen Kredit aufnimmt, kann sich vielleicht freuen. Wer aber spart und versucht fürs Alter vorzusorgen, macht ein langes Gesicht. Beim Blick auf den Bescheid der privaten Renten- und Lebensversicherungen kann einem angst und bange werden. Denn die private Absicherung, die die Versorgungslücke schließen sollte, reicht hinten und vorne nicht mehr. Droht im Alter jetzt Sorge trotz Vorsorge? Und welche Alternativen gibt es? Warum des Deutschen liebstes Vorsorgeprodukt weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Gesprächspartner ist Prof. Uwe Wystup. Der Finanzmathematiker ist Honorarprofessor an der Frankfurt School of Finance und Vorstand der MathFinance AG.«

Das Handelsblatt bringt es bereits mit einem Zitat in der Überschrift zu einem Artikel auf den Punkt: „Gib mir Geld, ich gebe es ohne Zinsen zurück“: Die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank macht den Anbietern von Lebensversicherungen das Leben schwer. Verbraucherschützer warnen bereits vor dem Abschluss solcher Versicherungen. Ist die Panik berechtigt?
Auf alle Fälle muss man zur Kenntnis nehmen, dass der Garantiezins bei Neuverträgen auf 1,75 Prozent gedrückt worden ist seitens der Bundesregierung, die für die Festlegung verantwortlich ist - wegen der niedrigen Leitzinsen und magerer Kapitalmarktrenditen. »Auch die Beteiligungen der Versicherten an den Überschüssen der Unternehmen sinken. Verbraucherschützer warnen: Kunden müssten sich fragen, ob sie bei einer Lebensversicherung am Ende - nach Abzug der Inflationsrate - nicht draufzahlen.« Edda Castello von der Verbraucherzentrale Hamburg wird in dem Handelsblatt-Beitrag zitiert mit den Worten: "Alles läuft nach dem Motto: Gib mir Geld, in 30 Jahren gebe ich es zurück, allerdings fast ohne Zinsen". Allerdings stellt sich das Problem mangelnder Alternativen, den wo soll statt dessen eine Anlage erfolgen? In Aktien oder Immobilien? Aber auch die Lebensversicherer selbst sind ein Risikofaktor, denn sie müssen einlösen, was sie mal zugesagt haben: In den 1990er Jahren beispielsweise lag der erwähnte Garantiezins bei bis zu vier Prozent und die müssen für die Kunden auch erwirtschaftet werden.

Das klingt alles nicht wirklich beruhigend. Zudem wird bei den meisten auch kritischen Berichten über die Probleme der kapitalgedeckten Systeme ein grundlegender Aspekt immer wieder ausgeklammert: Die wahren Probleme der kapitalgedeckten Systeme werden zu Tage treten, wenn die Babyboomer-Generation in die Renten geht oder zu gehen versucht und die Anlagen aufgelöst werden müssen, um die zugesagten Beträge auszahlen zu können. Nur muss es immer auch Nachfrager geben für die Anlagen der Versicherer, also Anleihen, Aktien und Immobilien, die dann ganz konkret zu Gbeld gemacht werden müssen. Dann wird richtig erkennbar werden, dass auch die Kapitaldeckung in großem Stil zumindest eher der Umlagefinanzierung ähnelt, als das heute gerade von vielen Ökonomen gesehen wird, die anscheinend eher einem "Sparkassen-Modell" gedanklich frönen.

Und das ist nicht nur ein Problem der privaten Altersvorsorge, sondern auch eines für die privaten Krankenversicherer (PKV), wie Thomas Schmitt in seinem im Handelsblatt veröffentlichten Artikel "Privatpatienten tappen in die Zinsfalle" erläutert. Konkret geht es um den "Rechnungszins": »Mit diesem Satz werden die Altersrückstellungen verzinst, die in späteren Jahren den Beitragsanstieg in der PKV dämpfen sollen. Dieser Zins beträgt derzeit für die neun Millionen Altkunden 3,5 Prozent. Er ist damit viel höher als der Garantiezins der Lebensversicherung, der nur noch 1,75 Prozent beträgt.«  Aber 18 private Krankenversicherungsunternehmen liegen unterhalb dieses Satzes, wie laut Handelsblatt aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht - die von den Mathematikern der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) ermittelten Werte lägen zwischen 2,86 Prozent und 3,48 Prozent (zu den Auswirkungen der aktuellen Niedrigzinsphase auf die Lebensversicherungen gab es am 25. April 2013 eine Podiumsdiskussion der DAV, die man als Video anschauen kann). Die 18 privaten Krankenversicherungsunternehmen - die übrigens fast 40% der PKV-Unternehmen repräsentieren, zu denen beispielsweise Axa und die Generali-Tochter Central gehören, die beide zusammen 1,2 Mio. Vollversicherte auf die Waage bringen - müssten also den Rechnungszins eigentlich absenken, was aber höhere Beiträge für die Versicherten zur Folge hätte, damit diese im gleichen Umfang für niedrigere Beiträge im Alter vorsorgen können.

Es war immer schon ein grundsätzliches Problem der PKV, dass keiner hier richtig durchblickt. Nun wird auch der Teilbereich des Rechnungszinses ein buntes Biotop: »Gerade erst hat die Branche ab 2013 die Prämien für Neukunden kräftig erhöht – unter anderem auch wegen der niedrigen Zinsen. Manche Anbieter rechnen nun im Neugeschäft mit 2,5 Prozent Rechnungszins, viele mit 2,75 Prozent und manche auch noch mit 3,5 Prozent.« Das wir hier aus Sicht des Verbraucherschutzes ein echtes Problem haben, verdeutlicht der folgenden Passus in dem Beitrag von Thomas Schmitt:

„Größere Transparenz wäre sinnvoll.“ Das sagt selbst ein PKV-Insider wie Gerd Güssler, Geschäftsführer des Branchenspezialisten KVpro.de. Selbst Spezialisten wie er hätten keinen Überblick mehr über so wichtige Kennziffern wie den Rechnungszins einzelner Unternehmen.
Was lernen wir aus beiden Beispielen? Vielleicht mal wieder einen gewissen Respekt vor dem Umlageverfahren in den vielgeschmähten Sozialversicherungssystemen und die Richtigkeit einer grundlegenden Skepsis gegenüber kapitalgedeckten Systemen, die zu lange als die "bessere" Alternative durch die politische Landschaft segeln konnten.