Mittwoch, 17. April 2013

Doppeltes Foul bei den Psychotherapeuten. Der Stress soll gesetzgeberisch in die Mangel genommen werden und "Toleranzarbeitsplätze" braucht das Land

Immer wieder der Arbeitsmarkt - während um uns herum in Europa die Arbeitslosigkeit zu neuen Höchstständen eilt und vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ein aus unserer Perspektive unfassbares Ausmaß angenommen hat, scheint der Arbeitsmarkt in Deutschland immer rosiger zu werden. Fachkräftemangel, Vollbeschäftigung usw. – das sind die Stichworte, über die hier diskutiert wird. Über Arbeitslose, die es selbstverständlich auch noch gibt und zwar in Millionenhöhe, wird kaum noch diskutiert. Aber wenn man genauer hinschaut, dann sieht man eine Häufung an Berichten über zunehmende Probleme auf einzelnen Arbeitsmärkten, bei denen es aus ganz unterschiedlichen Perspektiven immer um eine Verschlechterung von bereits problematischen Arbeitsbedingungen geht. In der "taz" wurde dies an einer ganz bestimmten Berufsgruppe exemplarisch ausgeleuchtet: den Psychotherapeuten. "Ausbeuterische Verhältnisse", so hat Sebastian Puschner seinen Beitrag überschrieben, der sich mit den PiAs beschäftigt, den "Psychotherapeuten in Ausbildung". Das Problem: viele Psychotherapeuten in Ausbildung verstoßen täglich gegen ihre Verträge, in denen eine hauptberufliche Tätigkeitsausübung untersagt ist, was ja eigentlich auch logisch ist, da sie sich in der Ausbildung befinden.

Tatsächlich üben sie in der Praxis genau diese Tätigkeiten aber oft aus - nur ohne eine entsprechende Bezahlung:

»Wer Psychotherapeut werden will, muss nach seinem Studium noch eine mindestens dreijährige Ausbildung absolvieren. Dazu gehören 1.200 Stunden in einer psychiatrischen Klinik. Dort soll der Nachwuchs Störungsbilder und Behandlungsmethoden "unter fachkundiger Anleitung und Aufsicht" kennenlernen - so steht es in der Ausbildungsverordnung. Tatsächlich arbeiten die PiA in vielen Kliniken wie ausgebildete Fachkräfte, nur ohne Bezahlung. Leisten kann sich das nur, wer sich einen Nebenjob zulegt, Unterhalt von seinen Eltern bekommt oder einen Kredit aufnimmt.«

PiAs in der Berliner Charité etwa bekommen 150 Euro im Monat, deklariert als "Forschungsförderung". Und was macht der PiA oftmals? »... selbstständig arbeiten und damit den Dienstbetrieb seiner Abteilung am Laufen halten. Er diagnostiziert, leitet Einzel- und Gruppentherapien, spricht mit Angehörigen seiner Patienten und schreibt Arztbriefe für deren Nachbehandlung.« Die Proteste gegen diese Bedingungen scheinen erste Früchte zu tragen:  Beim Klinikkonzern Vivantes erhalten die dort rund 40 tätigen PiA seit kurzem 850 Euro pro Monat. Mittlerweile haben sich die Betroffenen mit Protestaktionen zu Wort gemeldet, aber zugleich zeigt dieses Beispiel wieder einmal auch, dass die kollektive Interessenvertretung schwierig ist:

»Es sei schwierig, den Protest nachhaltig am Leben zu halten ... Denn die PiA-Phase sei nach höchstens anderthalb Jahren vorbei, und viele handelten nach dem Motto "Augen zu und durch". Dabei stehe gerade das im Gegensatz zum eigentlichen Ethos des Therapeutenberufs ... : "Wir bringen unseren Patienten emanzipatorisches Verhalten bei, arbeiten aber selbst in ausbeuterischen Verhältnissen."«

Christoph Stößlein, Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer in Berlin, hat den Sachverhalt in einem Interview noch um einen weiteren bitteren Aspekt ergänzt: »Faktisch machen die PiAs heute nicht nur einen großen Teil der Testdiagnostik, sondern geben auch Gruppen- und Einzeltherapien - oft ohne direkte Anleitung. Das ist ein zweifaches Foul: zum einen gegen die Auszubildenden, die viel mehr machen, als sie sollen und dürfen. Zum anderen gegen die ausgebildeten Psychologen und Psychotherapeuten. Die finden dann eben keine Anstellung, weil die Klinken mit den billigen PiAs arbeiten.«

Während die einen sogar umsonst und zu weiteren mehr als fragwürdigen Bedingungen arbeiten, nur um irgendwann einmal die Perspektive auf eine "richtige" Arbeit haben zu können, haben die anderen, die Arbeit haben, auch Stress. Meint jedenfalls die Sozialdemokratie und verheißt eine Lösung: "SPD will Stress am Arbeitsplatz reduzieren": Eine Anti-Stress-Verordnung bringe für Beschäftigte mehr Rechtssicherheit, meinen SPD und Gewerkschaften. Den Arbeitgebern geht das viel zu weit. So weit, so erwartbar. Schauen wir uns den Sachverhalt einmal genauer an: Die SPD hat sogar schon einen Antrag im Bundestag eingebracht, der unter anderem eine Verlängerung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von sechs auf zwölf Wochen vorsieht, wenn die Betriebe kein Eingliederungsmanagement praktizieren (SPD: Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten erhalten - Psychische Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren). Die Verpflichtung zu einem Eingliederungsmanagement für die Betriebe gibt es bereits seit 2004. Und auch die Mitbestimmung wollen die Sozialdemokraten ausweiten: » Der Betriebsrat solle ein Initiativrecht bekommen für gesundheitsfördernde Maßnahmen, die das Unternehmen dann finanzieren müssten. « Das Thema scheint einige richtig in Wallung zu bringen, so beispielsweise die IG Metall, die eine Anti-Stress-Verordnung vorgelegt hat und Ende April einen „Anti-Stress-Kongress“ in Berlin veranstaltet. Da wird der Stress jetzt aber richtig in die Mangel genommen - und scheinbar sprechen solche Artikel dann auch für die Vertreter dieses Ansatzes: "Jeder Dritte ist rund um die Uhr für den Chef erreichbar" - sagen zumindest die Betroffenen selbst in einer Umfrage. Da kann man nur froh sein, dass der Chef auch mal schlafen muss.

Immer wieder wird von den Anti-Stress-Apologeten auf die Zunahme der psychischen Erkrankungen (oder sagen wir genauer: der von Ärzten so ausgestellten Diagnosen) hingewiesen, was angeblich "beweise", dass man unbedingt was "gegen den Stress" machen müsse. Nun soll hier nicht - was eigentlich nötig wäre - ein kritischer Blick auf diesen angeblichen Zusammenhang geworfen werden, sondern der Blick soll statt dessen auf die gerichtet werden, die tatsächlich psychische Probleme haben. Denn von denen gibt es auch ohne "Burnout-Welle" mehr als genug. Unter der sehr flapsigen Überschrift "Mehr Jobs für Menschen mit Macke" berichtet Barbara Dribbusch in der "taz" von einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema "Medikalisierung sozialer Probleme". Auf dieser Tagung hat man sich über die Frage, wie man in der Arbeitswelt mit dem Boom an psychiatrischen Diagnosen umgehen soll, gestritten. Die Meinungen gehen hier doch erheblich auseinander. Relativ einig war man sich bei der Forderung nach mehr "Toleranzarbeitsplätzen" in der Wirtschaft. In dem Artikel wird Michael Linden, Psychiater und Forscher an der Charité Berlin, zitiert:

»"Man muss aufhören zu sagen, das Leid kommt von der Arbeit." Ließen sich Betroffene früh verrenten, fielen sie anschließend oft erst recht in ein Loch. Stattdessen benötigten sie mehr "leidensgerechte Arbeitsplätze". Ein Mensch mit sozialen Ängsten tue sich nun mal im Kundendienst schwer, ein Mitarbeiter mit einer narzisstischen Störung wäre im Einzelbüro besser aufgehoben. Ein zwanghafter Patient könnte möglicherweise am besten in der Buchhaltung eingesetzt werden, meinte der Psychiater.«

Auch hier wurden wieder Forderungen an die Arbeitgeber formuliert: Die Gewerkschaften wollen mehr "Gefährdungsbeurteilungen" für die psychische Belastung in Betrieben. Bei diesen Beurteilungen werden die Beschäftigten unter anderem nach Stressbelastungen, Betriebsklima und Führungsstil im Unternehmen befragt. Kritiker auch aus der Arbeitsmedizin verweisen darauf, dass im Kontext der Burnout-Debatte in der Gesellschaft ein erhebliches suggestives Potenzial in solchen Befragungen steckt.

Wie dem auch sei: Die besondere Problematik ist doch darin zu sehen, wie man praktisch im Interesse der wirklich Betroffenen wie aber auch unter Berücksichtigung der realen Handlungsmöglichkeiten und der Leistungsfähigkeit der Unternehmen "leidensgerechte Arbeitsplätze" in der notwendigen Zahl und zum richtigen Zeitpunkt einrichten kann. Und es gibt nun mal eine Vielzahl an kleinen Betrieben, die – auch wenn sie wollten – gar nicht in der Lage wären, diese anderen Arbeitsplätze zur Verfügung stellen zu können.

Und bei aller Notwendigkeit, die psychische Übernutzung der Arbeitskraft zu verhindern und die abhängig Beschäftigten zu schützen – angesichts der Vielgestaltigkeit psychischer Probleme bis hin zu der Manipulationsanfälligkeit im Sinne eines Missbrauchs solcher Diagnose bleibt ein Zweifel, ob man mit pauschalen, gar gesetzgeberisch auskristallisierten und für alle geltende Regelungen wirklich den Stress – oder das, was einige dafür halten – in den Griff bekommen wird. Eher steht zu befürchten, dass dadurch eine Menge neuer Stress produziert wird, der für die Arbeitsbeziehungen nicht unbedingt förderlich sein wird.